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Ausgabe:

April/2023

Spalte:

353-356

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Frank, Günter, Fuchs, Franz, u. Mathias Herweg [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Das 15. Jahrhundert. Deutsch/Englisch. M. Beiträgen v. G. Annas, A. Axtmann, Ch. Camenisch, J.-H. de Boer, G. Frank, F. Fuchs, A. Th. Hack, B. Hamm, J. Hamm, M. Herweg, M. J. F. M. Hoenen, M. Khorkov, H.-A. Kim, U. Köpf, J. Link, D. Luger, F. Noll, Ch. Paulus, R. Rieger, J. Schneider, D. Werle, W. Williams-Krapp u. U. Zahnd.

Verlag:

Stuttgart-Bad Cannstatt: frommann-holzboog 2021. 560 S. m. 11 Abb. = Melanchthon-Schriften der Stadt Bretten, 15. Geb. EUR 68,00. ISBN 9783772828874.

Rezensent:

Ingo Klitzsch

Das Denken in Epochen hilft u. a. bei der Strukturierung von Wissen, bietet Orientierung und hilft »Innovatives« klarer herauszustellen. Zugleich kann es aber auch dazu führen, dass bestimmte Zeitabschnitte nur selektiv wahrgenommen werden, dass von der nachfolgenden Epoche herkommend die Diskontinuitäten stärker betont werden als die ebenso vorhandenen Kontinuitäten. Hier setzt das Sammelwerk an, gleichsam programmatisch bereits mit dem Titel. Es soll »Das 15. Jahrhundert« als »eine Epoche eigenen Rechts« (10) gewürdigt werden, jedoch nicht nur mit Blick auf das 16. Jh., respektive die Reformation, zu deren 500-jährigen Gedenken 2017 bewusst ein Korrektiv geschaffen werden sollte, sondern auch mit Blick auf 14. Jh., wie Mathias Herweg in der gelehrten Einleitung ausführt. Er skizziert das breite Panorama dieses »Jahrhundert[s] der Mitte« (10.14) mit seinem »Profil aus Vielfalt und Gegensätzlichkeit« (11). Als zweites Anliegen des Bandes, der die Beiträge der gleichnamigen Tagung vom Herbst 2017 dokumentiert, die gemeinsam vom Department für Mediävistik am Karlsruher Institut für Technologie und der Melanchthon-Akademie Bretten verantwortet war, wird »eine gelebte Trans- und Interdisziplinarität« (14) benannt. Dieses schlägt sich in den vier Sektionen nieder, denen die 20 Beiträge zugeordnet sind.

Die erste Sektion umfasst »Historisch-historiographische Zugänge«. Ein deutlicher Schwerpunkt liegt auf Kaiser Friedrich III. (1415–1493), auf den sich vier von sieben Beiträgen beziehen. Doch ist dies angesichts der reichspolitischen Bedeutung dieses Herrschers, dessen Lebensdaten zudem gleichsam das Jh. umfassen, nicht unangemessen. Den Auftakt macht Frank Fuchs (19–27), der den Habsburger als »Herrscher der Superlative« (19) einführt, auch im negativen Sinne seiner – bereits zeitgenössischen – Umstrittenheit. Zudem zeigt er die Ängste und Erwartungen auf, die im 15. Jh. mit dem »dritten Friedrich« aufgrund von Endkaiser-Weissagungen verbunden worden sind. Gabriele Annas zeichnet den mit Friedrichs Herrschaftszeit einhergehenden Wandel der Reichsversammlungen vom mittelalterlichen Hoftag zum Reichstag der Frühen Neuzeit nach (29–53). Daniel Luger identifiziert ausgehend von Ansätzen der jüngeren Humanismusforschung humanistisch gebildete Gelehrte an Friedrichs Hof, bevor der berühmte Enea Silvio Piccolomini Anfang der 1440er Jahre in den Dienst Friedrichs trat (55–77). Christof Paulus entfaltet das konfliktreiche dynastisch-reichspolitische Verhältnis des Kaisers zu seinem Schwiegersohn, dem Wittelsbacher Albrecht IV. (105–116) und ergänzt diese Ausführungen durch eine Edition der eher unbekannten Kaiserchronik Dietrichs von Reisach (117–151). Die weiteren Sektionsbeiträge setzen sehr viel grundsätzlicher an und nehmen dabei auch neuere historiographische Perspektiven auf: Achim Thomas Hack wertet einen zeitgenössischen Augenzeugen-Bericht über die Meerreise von Friedrichs Gattin, Eleonore von Portugal aus, und beleuchtet so exemplarisch einen bisher wenig erforschten Bereich des »Reisekönigtums« (79–103). Joachim Schneider lenkt den Blick auf den Wandel der Geschichtsschreibung mit Fokus auf die Städte und Fürstentümer des Reiches (153–174). Chantal Camenisch untersucht das 15. Jh. aus klimahistorischer Perspektive und bietet zugleich einen instruktiven Einblick in die Möglichkeiten dieses Zugangs (175–194).

Die zweite Sektion ist »Literarischen Aspekten« gewidmet. Hier geraten insbesondere der Humanismus und sein Niederschlag nördlich der Alpen in den Fokus. Jan-Hendryk de Boer versteht in seiner quellengesättigten Studie die humanistischen Dialoge in Anknüpfung an Niklas Luhmann und dessen Schülerin Elena Esposito als »Realitätsverdoppelungen«, mit deren Hilfe zeitgenössische Sinnprobleme bearbeitet wurden (197–246). Günter Frank geht dem in die Zukunft weisenden Europa-Bild von Enea Silvio Piccolomini nach, zu dessen konstitutiven Elementen jedoch auch die »Turkophobie« gehört (247–258). Joachim Hamm wendet sich dem berühmten Narrenschiff von Sebastian Brant zu und zeigt dessen Beitrag zur von seinem Schüler verantworteten lateinischen Fassung, die erst in der Zweitausgabe den von beiden anvisierten Stand erreicht hatte, so dass letztlich diese zu edieren wäre (259–288). Dirk Werle untersucht die Bibliothek des Johannes Trithemius bzw. Johannes Guttenberg würdigende Gedichte des Heidelberger Frühhumanisten Adam Werner von Themar. Obwohl er nicht in erster Linie auf den »historischen ›Eigenwert‹ des 15. Jahrhunderts« zielt, zeigt seine Studie exemplarisch, »dass literarische Phänomene in der Regel nicht einer Logik des Neuen unterliegen, wonach dann Vorläuferschaften oder Narrative einer historischen Ermüdung konstruiert werden können« (289–301, 291). Werner Williams-Krapp hingegen verlässt den humanistischen Kontext. Er beschreibt quellengesättigt die Ursachen der im 15. Jh. greifbaren »Literaturexplosion« (305) hinsichtlich der Versorgung der Laien mit geistlichem Schrifttum und leitet so bereits zur nächsten Sektion über, der »Theologie und Kirchengeschichte« (303–320).

In dieser dritten Sektion entfaltet zunächst Berndt Hamm, ausgehend von der Laisierung der Theologie, den Zeitraum 1380–1520 als »Ära einer faszinierenden Dynamik […], deren Antriebskräfte eine vitale Vielfalt und auffallende Antagonismen zeigen« (324–373, 325). Dazu thematisiert er des Weiteren die aufkommende Beschriftung von Bildern bzw. Bebilderung von Schriften, fragt nach den Antriebskräften des Wandels, zeichnet den »pastoralen Schub« nach – mit der von ihm in die Forschung eingebrachten Begrifflichkeit als »Frömmigkeitstheologie« bezeichnet –, um in den letzten Schritten die Entwicklungen methodisch bzw. grundsätzlich-programmatisch mittels der Begriffe »Transgression«, »Transformation« und neue »Synthese[forme]n« zu vertiefen. Kurz: Ein in jahrzehntelanger Forschung fundierter Überblick, in dem am Ende auch der Ausblick auf die Reformation nicht fehlt. Analoges gilt für die von Ulrich Köpf gebotenen Ausführungen zu den unterschiedlichen »Typen« von Theologie im 15. Jh., untergliedert nach ihren »Orten« (375–402). Gegenüber seinen früheren Überlegungen führt Köpf aus, dass in diesem Zeitraum der »monastische« Typus nicht »in ausgeprägter Gestalt« (390) zu greifen sei und identifiziert stattdessen den Typus der »Theologie des Klosterlebens/des monastischen Lebens« (386).

Daneben treten der Typus der »scholastischen Theologie« wie der bisher nur in Ansätzen erforschte Typus der »humanistischen Theologie« – die »Theologie der Mystik« wird nicht als eigener Typus ausgewiesen, sondern habe sich in mehreren Typen niedergeschlagen. Zudem konturiert Reinhold Rieger das theologische Profil des Jh.s mit Fokus auf die »Hermeneutik« (403–435). Er entfaltet die »allmähliche Ablösung der augustinischen Dinghermeneutik durch eine hieronymianische Sprachhermeneutik« (405), mit der eine Konzentration auf den Literalsinn einhergeht, anhand von Pierre d’ Ailly, Johannes Gerson, Paul von Burgos, Dionysius dem Kartäuser, Hieronymus Savonarola (!) und Gabriel Biel und fragt abschließend nach dem historischen Kontext dieses Wandels. Ueli Zahnd stellt – in Anknüpfung an Hübener – auf Grundlage einer statistischen Auswertung der Sentenzenkommentare des 15. Jh.s die in der Forschung etablierte These in Frage, dass es eine Dominanz nominalistischer Positionen in der spätmittelalterlichen Theologie gegeben habe; deren Entstehung sieht er fundamental mit der Person Luthers verbunden (437–454). Den theologischen Rahmen im engen Sinne verlassend, wendet sich Maarten J. F. M. Hoenen dann den mit dem »Wegestreit« einhergehenden Konflikten an den Universitäten zu, die er als – von nur wenigen Denkern, z. B. Heymericus de Campo und Nikolaus Cusanus, überwundene – »limits of fifteenth-century scholasticism« versteht (455–469, 456). Mikhail Khorkovs Studie wiederum ist als einzige weniger grundsätzlich orientiert. Er untersucht die Debatten der Erfurter Kartäuser über das Verständnis von Weisheit und die mystische Theologie und berücksichtigt hier vor allem auch die Rolle von Nikolaus von Kues (471–489).

In der kurzen vierten Sektion »Musiktheorie, Kunst« untersucht zunächst Hyun-Ah Kim »the intersection of music, rhetoric and moral philosophy«, und zwar am Beispiel von Franchinus Gaffurius und mit Fokus auf das rhetorische Prinzip des »decorum« (493–508, 494). Dass das 15. Jh. auch in kunstgeschichtlicher Perspektive eine »Umbruchszeit« ist, zeigt Alexandra Carmen Axtmann am Beispiel der Buchmalerei auf, in der sich die Miniaturen »von den vormals oft nur funktions- und kontextgebundenen illustrierenden Darstellungen lösten und sich im Sinne der neuen selbstständigen, autonomen Kunstwerke veränderten« (509–535, 511). Dabei konnte das neue Medium der Druckgrafiken im Hintergrund stehen, ebenso aber auch das nicht minder neue »innovativ erfindende Zeichnen« (528).

Das mit diesem Band gezeichnete Porträt des 15. Jh.s ist kein vollständiges und kann es auch nicht sein. Bei der Rezeption der vielfältigen Themen und Thesen hilft ein Personen- und Sachregister. Immer wieder illustrieren qualitativ hochwertige Abbildungen oder Graphiken die Argumentation. Bedauerlich ist, dass die Beiträge von Fuchs und Williams-Krapp für den Band in der Vortragsfassung und damit ohne elaborierten Anmerkungsapparat geblieben sind – wer die genauen Nachweise einsehen möchte, ist auf andere Publikationsorte verwiesen. Der Schwerpunkt des Bandes liegt auf der Historiographie und der Theologie. Dennoch sind für die erstrebte »Trans- und Interdisziplinarität« wichtige Schneisen geschlagen worden, zugleich sind diese weiter zu vertiefen.

Vor allem aber gilt: Das, was aufgegriffen wird, zeigt eindrücklich die Vielfalt und den Spannungsreichtum des 15. Jh.s und wird hoffentlich dazu beitragen, dass diese Phase in der Forschung zukünftig stärker ateleologisch wahrgenommen wird.