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Ausgabe:

April/2023

Spalte:

349-351

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Heilmann, Jan

Titel/Untertitel:

Lesen in Antike und frühem Christentum. Kulturgeschichtliche, philologische sowie kognitionswissenschaftliche Perspektiven und deren Bedeutung für die neutestamentliche Exegese.

Verlag:

Tübingen: Narr Francke Attempto Verlag 2021. 708 S. = Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter. Geb. EUR 128,00. ISBN 9783772087295.

Rezensent:

Christian Strecker

In dem angezeigten Buch, einer 2019/20 von der Ruhr-Universität Bochum angenommenen Habilitationsschrift, beleuchtet der inzwischen in München lehrende Jan Heilmann umfassend die antiken Entstehungskontexte und frühen Rezeptionsweisen der neutestamentlichen Schriften. Ziel der Studie ist es, ein in der neutestamentlichen Forschung verbreitetes und durch entsprechende Thesen der Altertumswissenschaften untermauertes »Grundnarrativ« zu widerlegen, das folgende Punkte umfasst: Die neutestamentlichen Schriften seien auf das laute Vorlesen im Gottesdienst hin verfasst und auf diese Weise tatsächlich auch rezipiert worden. Die größtenteils der Unterschicht zugehörenden Christen hätten sich nicht nur keine Bücher leisten, sondern meist auch gar nicht lesen können. Ohnehin habe man in der Antike generell laut gelesen, seien doch die damals in der unübersichtlichen Form der scriptio continua abgefassten Texte nur so dekodierbar gewesen. Überhaupt sei Literatur in der Antike infolge der geringen Literalitätsrate weithin mündlich tradiert worden. Die antike Kultur sei eine orale Kultur gewesen. H. widerspricht diesem Grundnarrativ in nahezu allen Einzelpunkten. Er tut dies unter Rekurs auf eine Fülle einschlägiger Texte aus der griechisch-römischen, atl.-jüdischen und frühchristlichen Literatur. Das Buch gliedert sich neben Einleitung und Schluss in zwei Hauptteile.

In der Einleitung erhebt H. zunächst den relevanten Forschungsstand. Die gängigen, zumal auch die Kanonforschung bestimmenden Verortungen des Lesens im Gottesdienst werden ebenso kritisch durchleuchtet wie der Forschungsansatz des Biblical Performance Criticism und jüngere monosituative Verankerungen des Lesens in public bzw. communal reading events. Ausführlich widmet H. sich dann der komplexen Debatte über das laute oder leise Lesen in der Antike. Es folgt eine Sichtung von Forschungen, denen H. »methodische Engführungen und Defizite« vorhält. Dazu zählt er Rückführungen des antiken Schreibens und Lesens auf das Gesprochene, Ableitungen der antiken Lese- praxis aus der scriptio continua, Kalkulationen zur geringen Literalität in der Antike, Betonungen der Alterität der antiken Lesekultur, Behauptungen zur großen Bedeutung von Oralität in antiken Gesellschaften und Fokussierungen auf einen vermeintlichen Normalmodus des antiken Lesens bzw. auf bestimmte reading communities. Nach einer Erläuterung des eigenen methodischen Ansatzes beschließt H. die Einleitung mit einer terminologischen Abklärung, in der er drei basale Dimensionen der Lesepraxis erörtert, nämlich Leseweise, Lesesituation und Lesezweck. Diese differenziert er vielfältig weiter aus, um so eine möglichst detaillierte Rekonstruktion der frühchristlichen Lesepraxis zu ermöglichen.

Der erste Hauptteil ermittelt »Grundlagen« der Themenstellung. H. beginnt mit einem knappen Überblick über die antiken Lesemedien (Holztafel, Rolle, Kodex). Es folgt eine beeindruckende, 110 Seiten umfassende Durchsicht antiker Benennungen und Umschreibungen des Leseaktes als (Wieder-)Erkennen, Hören, Sammeln, Begegnung, Suchen und Fragen, Bewegung, Sehen, Essen und Trinken. H. leistet hier wichtige Pionierarbeit, indem er mittels Methoden der digitalen Korpusanalyse eine Fülle neuer Quellen zur antiken Praxis und Deutung des Lesens erschließt. Das Kapitel ist eine reiche Fundgrube für weitere Forschungen. Auch wenn bei einigen Quellenaussagen ein Deutungsspielraum bleibt, lässt der Gesamtbefund kaum mehr Zweifel an der Verbreitung individuell-direkten nichtvokalisierten Lesens in der Antike zu. Diesen Befund untermauernd, legt H. dann unter Berufung auf kognitions- und neurowissenschaftliche Studien ausführlich dar, dass das Lesen der in scriptio continua abgefassten antiken Texte problemlos ohne laute oder murmelnde Vokalisierung allein mittels der Realisierung der inner reading voice möglich gewesen sein dürfte. Die immer wieder angeführten antiken Belege für vermeintliche Schwierigkeiten beim Lesen der scriptio continua entkräftet H. Ein weiteres Kapitel ist dem antiken Publikationswesen gewidmet. Darin postuliert H., Bücher seien in der Antike kein Luxusprodukt und biblische Handschriften jenseits privater Zirkulation mutmaßlich auch im antiken Buchhandel verfügbar gewesen. Unter der Überschrift »Zwischenertrag« weist H. schließlich nach, dass das frühchristliche Mahl als Ort für die Rezeption umfänglicher biblischer Bücher schwerlich infrage kam. Zudem sichtet er die multiplen Formen individuell-direkter Lektüre in der Antike.

Im zweiten Hauptteil analysiert H. zunächst Darstellungen und Reflexionen der Lektüre im antiken Judentum. Mit Blick auf das Alte Testament betont er, das quantitative Übergewicht von Vorleseszenen indiziere nicht, im nachexilischen Judentum sei nur vokalisierend in Gruppen gelesen worden, dürfte doch hinter den wenigen alttestamentlichen Belegen für individuell- direktes Lesen (u. a. in Dtn 17,18 f.; Jos 1,8; Ps 1,2) eine breitere Praxis gestanden haben. Die gängige Einengung der antik-jüdischen Lesepraxis auf kollektive Lektüreformen in gottesdienstlichen Vollzügen sei mithin verfehlt. Die berühmte Vorleseszene in Neh 8 sei so auch keine Ätiologie des synagogalen Gottesdienstes, sondern eine des demokratisierenden Zugangs zur Tora, und die späteren Bezeugungen der synagogalen Toralektüre am Sabbat indizierten kein liturgisches Vorlesen, sondern eine in der Lehre verankerte Torarezeption. Ganz auf dieser Linie identifiziert H. in der frühjüdischen Literatur (äthHen, Sir, 2Makk, Philon, Josephus, Qumran) etliche Verweise auf individuell-direktes Lesen sub- oder nichtvokalisierender Prägung. Aus der Adressierung eines anonymen Lesepublikums im griechischen Sir und 2Makk folgert H. des Weiteren, das hellenistische Judentum habe mit seinen Schriften an der Buch- und Lesekultur der hellenistisch-römischen Welt und am Buchhandel partizipiert. Der im Sirachbuch bekundete Ausschluss von Handwerkern als Rezipienten dokumentiere überdies die konsequente Ausrichtung auf ein literalisiertes Publikum, was H. so auch für das Neue Testament meint voraussetzen zu können. Im Kapitel über das »Lesen im Neuen Testament« beleuchtet H. dann nach einer Sichtung kleinerer Leseszenen zunächst die in der ntl. Brief- und Erzähl- literatur bekundete Rezeption atl. Schriften. Wenigen Verweisen auf kollektiv-indirekte Rezeptionen, die wiederum explizit jenseits liturgischer Vollzüge verortet werden, stellt H. etliche Belege für Formen individuell-direkter Lektüre gegenüber. Es folgt eine Rekonstruktion der Rezeptionsformen der Paulusbriefe: Während die Protopaulinen eine kollektiv-indirekte Rezeption anvisiert hätten, die aber nicht dem in der Performanzkritik entwickelten Protokoll entsprochen habe, seien die Deuteropaulinen individuell gelesen worden. Schließlich bespricht H. die Notizen in Mk 13,4 und Offb 1,3. Er identifiziert sie – im letzten Fall mittels textkritischer Erwägungen – als direkte Ansprachen an einen individuell-direkten Leser und untermauert mit weiteren Argumenten, dass das Markusevangelium und die Johannesoffenbarung insgesamt auf individuelle Lektüre gezielt hätten.

In einem Rück- und Ausblick sichert H. zunächst wichtige Ergebnisse. Er wendet sich dann nochmals gegen die gängige Betonung des oralen Charakters des frühen Christentums, führt demgemäß die Komposition ntl. Texte und deren Abschriften statt auf Erinnerung und Diktat auf Lese- und Schreibtischarbeit zurück, datiert die Durchsetzung des Lektorenamts und einer geordneten gottesdienstlichen Lesung sehr spät, rehabilitiert Harnacks These der Verbreitung individuell-direkter Lektüre in der Alten Kirche und lotet diesbezüglich die Konsequenzen für die Kanongeschichte aus.

H. hat ein ausgesprochen gelehrtes Standardwerk zu den antiken Lektürepraktiken und den diversen Formen der Textrezeption im antiken Judentum und Christentum vorgelegt. Das Buch eröffnet der Forschung durch die bestechende Fülle der ausgewerteten Quellen und die breite Heranziehung und Diskussion der einschlägigen Fachliteratur viele neue Perspektiven. Freilich: Nicht jede Deutung der Quellen und nicht jede These vermag vollauf zu überzeugen. Die starke Relativierung der Bedeutung mündlicher Rezeptionsprozesse zugunsten einer massiven Aufwertung der antiken Schrift- und Lesekultur wirkt bisweilen überakzentuiert. Die konsequente Verortung der neutestamentlichen Schriften in einem rundweg literarisch gebildeten Milieu verträgt sich zu- dem nicht recht mit bestimmten theologischen Botschaften der Schriften selbst. Alle diese und weitere mögliche Anfragen ändern aber nichts daran, dass das Buch ein großer Gewinn für die Forschung ist.