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Ausgabe:

April/2023

Spalte:

347-349

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Grossmann, Katrin

Titel/Untertitel:

Gott fürchten? Eine systematisch-exegetische Rekonstruktion eines missverstandenen biblischen Motivs.

Verlag:

Freiburg i. Br. u. a.: Verlag Herder 2022. 468 S. = Freiburger Theologische Studien, 199. Geb. EUR 90,00. ISBN 9783451090662.

Rezensent:

Lukas Ohly

Ein interdisziplinäres Gespräch zwischen Bibelexegese und Dogmatik aus einer Feder ist selten. Ein solches Projekt wie die Dissertationsschrift von Katrin Grossmann, die an der Katholischen Fakultät Regensburg angenommen worden ist, hat den Vorteil, dass beide Disziplinen eng aufeinander bezogen werden, während interdisziplinäre Tagungen die verschiedenen Zugänge oft unverbunden nebeneinander liegen lassen. Zudem ist das Thema mutig, verschüttete Seiten des christlichen Gottesbildes aufzuspüren. Gott soll als der »furchterregende« (448) wiederentdeckt werden. »Weder eine Engführung auf den ›lieben Gott‹ noch auf einen rachsüchtigen Richtergott« (302) soll fortgeführt werden. Dafür eignet sich G. zufolge der biblische Ausdruck der »Gottesfurcht«. G. ist davon überzeugt, »dass die Gottesfurcht eine vielversprechende Erweiterung des Motivrepertoires systematisch-theologischer Rede von der Beziehung zwischen Gott und Mensch darstellt« (476). Eine Pointe ihrer bibel-exegetischen Untersuchung besteht darin, dass Gottesfurcht gerade keine selbstbezügliche Furcht vor Strafe ist (411). Sie besteht nicht in einem Gefühl (164 f.), sondern in einer ethischen (297) Haltung: einer »Hör-Haltung« auf Gott (173 f.), »Lebensform« (173) oder »Frömmigkeit« (179) und schließlich auch in der existenziell-weisheitlichen Haltung des Grenzbewusstseins der Weisheit (276).

Dass Gott in dieser Haltung als »furchterregend« erfasst wird, liegt dann daran, dass er ein undurchdringliches »Geheimnis« sei, was G. im Anschluss an Karl Rahner feststellt (448.476). Während die Assoziation zwischen Heiligkeit und Furcht nach Rudolf Otto als exegetisch unhaltbar zurückgewiesen wird (177), besteht die Gottesfurcht in der Einsicht einer Gebrochenheit des Gott-Mensch-Verhältnisses (166.301) bei gleichzeitigem Gottvertrauen (297). Gottesfurcht setzt damit nicht die Sünde voraus, erlebt aber die Nähe Gottes dennoch als Gnade (475). Nicht immer bleibt G. bei dieser Differenz von Gebrochenheit und Sünde (430), aber der Ansatz, Rahners »transzendentale Erfahrung« (421 f.) zugrundezulegen und daraus die Unergründlichkeit Gottes (»niemals adäquat eingeholt», 406) mit dem Gedanken der Selbstmitteilung Gottes (432) zu verbinden, nötigt zu dieser Differenz (468). Für G. kulminiert die transzendentale Erfahrung in Jesus Christus, der die vollendete Selbstmitteilung Gottes in einer hypostatischen Union (467) ist. Dies entspricht dem biblischen Befund, wonach Jesus bis auf Hebr 5,7 nie als gottesfürchtig beschrieben ist, woraus G. schließt, dass bei ihm keine Gebrochenheit des Gott-Mensch-Verhältnisses vorliegt (483).

Rahner ist somit der dogmatische Komplementärfaktor dieser interdisziplinären Arbeit, quasi die Lesehilfe für die biblische »Gottesfurcht«, da nach J. B. Metz mit Rahners theologischem Hintergrund »wir alle – katholische Theologie in dieser Zeit treiben« (22). Allerdings müht sich G. sehr ab, diesen Hintergrund aufzudecken, da für Rahner »Gottesfurcht« kein zentraler Begriff ist, sondern sogar einer veralteten Bußtheologie zugeordnet wird (405). Furcht behindert nach Rahner sogar den Glauben (408). Um Rahner dennoch die Wichtigkeit des Motivs der Gottesfurcht zuschreiben zu können, bemüht G. »Analogien« zwischen seinem und dem biblischen Denken. Zudem betont sie begriffliche »Ambiguitäten« (128.301 f.489) im Motiv der Gottesfurcht. Wenn doch nach G. die Gottesfurcht so ein wichtiges Motiv ist, dann muss Rahner wichtige Gründe gehabt haben, warum er es nicht benutzt hat (»wohl darin begründet, dass der weite Bedeutungsgehalt […] überlagert ist von einer Engführung auf die Furcht um das eigene Heil«, 412). Was Rahner wichtig ist, muss dann irgendwie doch mit Gottesfurcht zu tun haben. Die Analogiebildungen der Dissertation wirken erzwungen: Der transzendentale Gottesbezug bei Rahner, dessen »radikale Freiheitsentscheidung […] dem Menschen verhüllt« sei (438), entspreche der »klare[n] Entschiedenheit«, die in der Bibel »als ›gottesfürchtiges Verhalten‹ beschrieben« werde (439). Die Grenze der Analogie liegt aber auf der Hand: Wenn doch der Gottesbezug deshalb »verhüllt« ist, weil er »unthematisch« (406) ist, dann muss auch die Gottesfurcht unthematisch sein. Das widerspricht aber ihrer ethischen und weisheitlichen Grundierung. Somit scheint mir Rahner das biblische Verständnis eher zu erschweren. G. assoziiert mit ihrer Methode der Ambiguität recht frei, dass das, worauf sich der Mensch in der transzendentalen Erfahrung unwissentlich bezieht, und das, worauf sich der biblische Gottesfürchtige richtet, dasselbe Phänomen sind (»in analoger Weise«, 482).

Der Versuch, Komplementaritäten zwischen bibelexegetischen Befunden und Rahner abzutrotzen, wird methodisch dadurch unterstützt, dass G. »Belegstellen« sammelt (412). Zwar bemerkt G. im Denken Rahners ein Zurücktreten des Furchtmotivs, doch behandelt sie seine »Belege« (379) weitgehend kontextlos. Ähnlich werden zwar Entwicklungen zwischen den biblischen Testamenten und der LXX herausgestellt, doch scheint G. einer biblischen Theologie anzuhängen, die die »biblische Überlieferung bewusst als Ausgangspunkt der theologischen Reflexion« (487) offenbar wie einen theologisch kohärenten Text versteht. Die Methode der Ambiguität ist dann das Korrelat einer kohärenzorientierten Theologie. Inhaltlich aussagearm sind dabei die formalen Bedeutungsunterscheidungen, die an digitale Mustererkennungen erinnern. Vor allem im bibelexegetischen Teil erschöpfen sich etliche Beobachtungen in vielfach tabellarisch dargestellten Unterschieden von Wortverwendungen. Umso mehr habe ich ein Bibelstellenverzeichnis vermisst. Die detaillierten Zuordnungen lassen sich so vom Leser kaum wiederfinden. Das Fehlen eines Verzeichnisses wäre nur verschmerzbar, wenn die Arbeit als E-Book vorliegen würde, was aber nicht der Fall ist.

Es verblüfft dann, dass die Herangehensweise der theologischen Rekonstruktion Rahners ebenso mit »Belegstellen« aufwartet. »Die vorliegende Arbeit möchte dabei nicht primär einen Beitrag zur Rahner-Forschung leisten, sondern vielmehr ausgehend vom biblischen Befund, exemplarisch anhand des Werkes Rahners Analogien zum biblischen Motiv der Gottesfurcht aufzeigen« (416). Man kann rückfragen, ob Rahners Theologie so überhaupt zur eigenen Entfaltung kommen kann. Doch erweist sich der Analogie-Teil der Arbeit vornehmlich als Interpretation Rahners, dem dann nur in losen Assoziationen die biblische Bedeutung von Gottesfurcht untergeschoben wird. Fast jede Bezugnahme auf Rahner lässt sich komplementär mit Gottesfurcht verbinden, Sünde als das bleibende Existential des menschlichen Lebens (438 f.), das anonyme Christentum (444 f.), die Reaktion auf die Begegnung göttlicher Personalität (453) oder »die Kategorie der Nähe« (457).

Dabei könnte man gerade an der Christologie eine Grenze der Gottesfurcht festmachen: Wenn Gott in Christus seine Selbstmitteilung unüberbietbar vollendet, dann muss sie vor allem für Jesus selbst vollendet sein. Muss dann aber nicht für Jesus die transzendentale Erfahrung verloren gehen, indem sie voll erfüllt wird? Und geht so nicht der Ansatz bleibender Existantiale verloren, auf dem die Menschlichkeit Christi gründet? Dann jedoch wird man zwischen Rahner und Gottesfurcht wählen müssen.