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Ausgabe:

April/2023

Spalte:

342-345

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Bünger, Christina

Titel/Untertitel:

Briefliches Zitieren bei Paulus und Cicero. Eine vergleichende Untersuchung zu den Korintherbriefen.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2022. XII, 321 S. = Studies in Education and Religion in Ancient and Pre-Modern History in the Mediterranean and Its Environs, 15. Geb. EUR 69,00. ISBN 9783161600180.

Rezensent:

Christoph Hammann

Diese Monographie steht in der Tradition der Erforschung der neutestamentlichen Epistolographie im Kontext der griechisch-römischen Literatur. Bei der vorliegenden Studie handelt es sich um die überarbeitete Dissertationsschrift Christina Büngers, die bei Florian Wilk im Fach Neues Testament am Sonderforschungsbereich 1136 »Bildung und Religion in Kulturen des Mittelmeerraums und seiner Umwelt von der Antike bis zum Mittelalter und zum Klassischen Islam« der Georg-August-Universität Göttingen entstanden ist. Für das Thema der Studie, einen Vergleich des Zitateinsatzes in den Korintherbriefen des Paulus und in den Briefen Ciceros, bringt B. auf Grund ihres Studiums der Evangelischen Theologie und der Lateinischen Philologie ideale Voraussetzungen mit. Dass sie Paulus mit einem Briefautor vergleicht, der zu einer anderen Zeit gelebt und mit anderen Adressatenkreisen kommuniziert hat als der Apostel, begründet B. damit, dass beide brieflichen Korrespondenzen erstens klar identifizierbare situative Kontexte aufweisen und zweitens Zitate in ihre Argumentationen einbinden (1 f.27). Mit diesen Gesichtspunkten knüpft B. an jüngere Forschungen an, die erstens die Leserschaft des Paulus und die für sie vorauszusetzenden Schriftkenntnisse und zweitens den Schriftgebrauch des Paulus vor dem Hintergrund griechisch-römischer Rhetorik und antik-jüdischer Schriftauslegung untersuchen (2). Die Arbeit umfasst vier größere Abschnitte: eine Einleitung, die beiden thematischen Hauptteile zu Cicero und Paulus und eine Auswertung, in der die Ergebnisse der Studie dargelegt werden. Abgerundet wird die Untersuchung durch ein konzises Fazit, detaillierte tabellarische Übersichten zur expliziten Kennzeichnung (»Markierung«) von Zitaten und ihrer Funktion bei Cicero und Paulus, durch ein ausführliches Literaturverzeichnis und ein Stellenregister.

In der Einleitung verfolgt B. zunächst zentrale Entwicklungslinien sowohl der Cicero- als auch der Paulus-Forschung (4−17) und stellt dabei in rezenten Diskussionen eine verstärkte Wahrnehmung der rhetorischen Funktion von Zitaten und – zumal in Bezug auf Paulus – der Zusammensetzung der Leserschaft heraus (14−16). Mit dem von ihr zugrunde gelegten Zitatbegriff, der letztlich auf die pragmatisch-kommunikative Dimension von Zitaten abhebt und sich darin von dem weit gefassten Intertextualitätskonzept Kristevas unterscheidet (19), kann B. an diese jüngeren Forschungstendenzen anknüpfen. Laut B. besteht ein Zitat aus »dem Prätext, dem Folgetext, dem Zitatsegment und der Markierung des Zitats« (20). Diese Aspekte schlagen sich auf das Vorgehen bei der Analyse der einzelnen Zitate nieder und bilden die tragenden Strukturen der Hauptteile zur Zitationsweise bei Cicero und Paulus. Im Zentrum stehen jeweils die Markierung des Zitats, der genaue Wortlaut des Zitats (der vom Wortlaut im Prätext ggf. abweicht), die Einbettung des Zitats im Prätext, die Funktion des Zitats im Brief sowie die Frage, was das jeweilige Zitat über die Leserschaft Ciceros oder die des Paulus verrät (31). Mit dieser Methodik vermeidet B. eine einseitige Briefanalyse, die entweder rein autorenzentriert oder allein auf die Leserschaft fokussiert ist.

Im ersten der beiden thematischen Hauptteile widmet sich B. den Zitaten in Ciceros Briefen. Cicero gibt mehrheitlich der expliziten Markierung den Vorzug, die durch den Wechsel in eine andere Sprache oder die Verwendung eines Metrums erfolgt (34−38). Daneben kann er die Zitate auch eigens thematisieren, etwa indem er erläuternde Angaben zum Werk oder zu dessen Gattung hinzufügt (38−42). Die implizite Markierung (z. B. durch eine bestimmte Positionierung des Zitats im Text) ist bei Cicero dagegen immer mit der expliziten oder thematisierenden Markierung verbunden (42−44). Von dem Wortlaut des Prätextes weicht Cicero in recht wenigen Fällen ab (45−49.227). Umso eigenwilliger kann er mit dem Kontext des Prätextes umgehen, den er zum Teil seinen argumentativen Zwecken dienstbar macht. Hiermit gehen nicht selten gravierende Veränderungen der ursprünglichen Aussageintention einher (51−62.229 f.). Um die Funktion von Zitaten zu beleuchten, unterscheidet B. zwischen formalen, inhaltlichen und relationalen Aspekten (63), wobei Letztere die Kommunikation des Autors mit den Adressaten in den Fokus nehmen. Auf formaler Ebene zeigt sich, dass Cicero mit Zitaten gerne argumentative Abschnitte seiner Briefe beschließt (66−69). Die inhaltlichen Funktionen der Zitate sind bei Cicero stark kontextabhängig. Erfüllen die Zitate in den Atticus-Briefen häufig illustrierende und charakterisierende Zwecke (78−83), so dienen sie in Ciceros politischen Schreiben oft dazu, seine Entscheidungen zu legitimieren (69−78.232 f.). Daneben stärkt Cicero u. a. die Verbundenheit mit seinen Briefpartnern, wenn er in den Zitaten den gemeinsamen Bildungshintergrund in den Vordergrund rückt (84−92.233−235). Den Großteil seiner Briefe richtet Cicero an Freunde und politisch einflussreiche Einzelpersonen aus der römischen Oberschicht (101.114−120.241). Auf Grund des hohen Bildungsgrads seiner Adressaten kann er Zitate einstreuen, ohne das zugehörige Werk oder den Autor zu nennen (42.116.119), Sätze lediglich »anzitieren« und das Ausgelassene als bekannt voraussetzen (49−51.102), die Wahl des zitierten Autors auf den Geschmack des Briefpartners abstimmen (106 f.109), metrisch gebundene Verse übernehmen (247) und griechische Texte zitieren, ohne sie zu übersetzen (225).

Für die Analyse des Zitateinsatzes bei Paulus legt B. 1Kor und 2Kor zugrunde. Anders als Cicero greift Paulus häufiger zu einer thematisierenden Markierung von Zitaten, was (auch) darauf hindeutet, dass er bei seinen Adressaten nicht mit ausgeprägten Kenntnissen der Schriften Israels rechnen kann (246). Paulus steht Cicero jedoch darin nahe, dass er es in keinem Fall bei einer nur impliziten Markierung des Zitats belässt (136). Zur thematisierenden Kennzeichnung der Zitate verwendet Paulus formelhafte Wendungen wie καθὼς γέγραπται (wie geschrieben steht) oder λέγει γάρ (denn es heißt), die die Zitate als Träger des Wortes Gottes auszeichnen (131 f.223 f.). Die explizite Markierung eines Zitats (durch einen sprachlichen Wechsel) lässt sich bei Paulus ungleich schwerer ausmachen als bei Cicero. Denn der Übergang von der Diktion des Apostels in die Sprache und die Semantik der Septuaginta dürfte für die weniger gebildeten und nicht mit beiden Spielarten des Griechischen gleichermaßen vertrauten Kreise in Korinth nur schwer erkennbar gewesen sein (135.203 f.). Eine Ausnahme bildet hier die von der Prosa des Paulus sich abhebende Lyrik der Psalmen (226). In höherem Maße als der Römer verändert Paulus den im Prätext vorzufindenden Wortlaut, was nur in wenigen Fällen auf die ihm vorliegende Ausgabe der Septuaginta zurückzuführen ist. B. zeigt gut, dass Paulus seine Prätexte bewusst modifiziert, wobei er sie inhaltlich und stilistisch an den brieflichen »Zielkontext« anpasst (140−148). Damit deckt sich, dass Paulus auch den Kontext des jeweiligen Zitats christologisch umprägen (154 f.) oder auf aktuelle Gemeindeprobleme beziehen kann (155 f.159.230 f.). Auch in den Korintherbriefen erfüllen die Zitate vielfältige Funktionen. So kann ein Zitat innerhalb einer Argumentation als Basis, als Scharnier oder als Endpunkt dienen (163−175). Doch zeigt sich an den Funktionen der Zitate in 1Kor und 2Kor auch, dass sich Paulus im Unterschied zu Cicero an eine Gemeinde und damit an ein Kollektiv richtet, was sich auf die Kommunikationssituationen auswirkt, in denen die Schriftzitate erscheinen. Sie begegnen vermehrt in Kontexten, in denen Paulus seine Entscheidungen legitimiert (178−180) und seinen Apostolat rechtfertigt (183−185), die Gemeinde ermahnt (188−190), sie für ihre Konflikte kritisiert und zur Einheit aufruft (195−200). Zumal in der Verwendung von Zitaten in apologetischer Absicht kommt Paulus Cicero nahe (243 f.). Eine gemeinsame Bildungsgrundlage in Form von umfassenden Schriftkenntnissen kann Paulus in der Gemeinde von Korinth dagegen nicht voraussetzen (210−214.221.234).

In ihrer Studie geht B. von der Voraussetzung aus, dass der Zitateinsatz nicht zuletzt von der Leserschaft sowie von der Beziehung des Autors zu dieser Leserschaft abhängig ist (18.245). Um jedoch für Paulus eine wirkliche Abstimmung von Zitaten auf seine Leserschaft – und das kann nur heißen: auf die jeweilige Leserschaft – nachzuweisen, wäre neben dem Vergleich zwischen Cicero und Paulus zudem ein Vergleich zwischen den Korintherbriefen und anderen Briefen des Paulus anzustellen. Dies zeigt B. selbst an (28), wenn sie darauf hinweist, dass sich vor allem im Römerbrief und im Galaterbrief eine Vielzahl von Zitaten aus den Schriften Israels findet. Den Rahmen einer vergleichenden Studie zu Cicero und Paulus hätte dies freilich überstiegen. Stattdessen begrenzt B. ihre Textbasis auf die Korintherbriefe und die Sammlung Ad familiares. Diese Entscheidung ist gut begründet, da sich die darin versammelten Schreiben an durchaus heterogene Adressatenkreise richten und so für einen Vergleich geeignet sind (28.33).

Auch wenn B.s Studie – wie ihr Untertitel nahelegt – als neutestamentliche Arbeit zu verstehen ist, erscheint Cicero keineswegs als bloße Folie für den Zitateinsatz in den Korintherbriefen. Vielmehr achtet B. darauf, beiden Autoren in gleichem Maße gerecht zu werden. Dieses ausgewogene Verhältnis erlaubt genaue Vergleiche und kommt somit letztlich auch dem Verständnis der Zitate bei Paulus zugute. Hervorzuheben sind die transparente, sich organisch aus dem Gegenstand ergebende Struktur, die klare sprachliche Gestaltung und die philologische Genauigkeit, die B. durchgehend an den Tag legt. Anstatt Cicero und Paulus vorschnell zu harmonisieren, nimmt sie exakte Verhältnisbestimmungen vor und belegt damit ein ausgeprägtes Sensorium für die unterschiedlichen kulturellen Hintergründe. Insgesamt hat B. mit ihrer Dissertationsschrift Briefliches Zitieren bei Paulus und Cicero eine überaus anregende und weiterführende Studie vorgelegt, die zweifelsohne eine Bereicherung der Forschung zur Epistolographie des Paulus darstellt.