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Ausgabe:

April/2023

Spalte:

333-335

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Bührer, Walter

Titel/Untertitel:

Schriftgelehrtes Murren. Schriftgelehrte Fortschreibungs- und Auslegungsprozesse in den Murrerzählungen in Exodus und Numeri.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2021. XIII, 418 S. = Forschungen zum Alten Testament, 152. Lw. EUR 149,00. ISBN 9783161610592.

Rezensent:

Eckart Otto

Dieser Monographie zu einigen Erzählungen der Wüstenwanderung Israels im Pentateuch liegt die im Sommersemester 2021 an der Universität Heidelberg eingereichte und angenommene Habilitationsschrift von Walter Bührer, Juniorprofessor an der Ruhr-Universität Bochum, zugrunde. Der Vf. behandelt in dieser Studie von den Erzählungen der Wüstenwanderung Israels in Exodus und Numeri nur solche, in denen ein Murren der Israeliten gegen ihre menschliche oder göttliche Führung auf der Wüstenwanderung im Vordergrund steht. Darin unterscheidet sich diese Studie als thematisch und methodisch eingeschränkt von der zeitgleich in derselben Reihe (FAT 159, 2022) erschienenen, die Wüstenwanderungserzählungen von Ex 15 bis Dtn 34 insgesamt und literaturhistorisch umfassend bearbeitenden Monographie von Jaeyoung Jeon.

Der Vf. will die Murrerzählungen unter »produktions- wie rezeptionsästhetischer Hinsicht« untersuchen und damit einem Trend in gegenwärtiger Bibelexegese Rechnung tragen, der unter dem Siglum »innerbiblischer Exegese« textgeleitete oder schriftgelehrte Fortschreibungs- und Auslegungsprozesse für die Textentstehung biblischer Texte in Anschlag bringt. Diese Prozesse seien nicht ein auf die Kanonisierung des Bibeltextes reagierendes Phänomen, sondern sollen ihrerseits den Kanonisierungsprozess lenken. Als »Auslegung« soll dabei ein spezieller Text-Text-Bezug gelten, bei dem der präsente Text den Referenztext kreativ rezipiere und deutend auf diesen zurückwirke. Nach Meinung des Vf.s soll erst unter dieser hermeneutischen Perspektive von Textproduktion und -rezeption die Redaktionsgeschichte im Pentateuch ein methodisch stabiles Fundament gewinnen und die redaktionsgeschichtliche Analyse theologisch bedeutsam werden, sodass die Studie des Vf.s darauf hin zu befragen ist, ob sie einen Zuwachs an konsensfähiger Stabilisierung in der Theoriebildung zur Redaktionsgeschichte der Wüstenerzählung ermöglicht.

Da schon mit der Entstehung der Murrerzählungen diese aufeinander wie auf Texte anderer Themen Bezug nehmen, spricht der Vf. von einem »schriftgelehrten Murren«. Zeichne sich nach Meinung des Vf.s die neueste Pentateuchforschung nach Überwindung des Quellenmodells einschließlich des »Jahwisten« dadurch aus, dass entweder das Ergebnis der Exegese einzelner Texte auf den Pentateuch insgesamt übertragen werde, oder aber ein vorgegebenes Modell auf die Analyse einzelner Texte, die Verfahren also bislang insgesamt zirkulär seien, so will der Vf. einen »Mittelweg« beschreiten und die Ergebnisse aus der Exegese von Einzeltexten zu »Tendenzen der aktuellen Pentateuchdebatte« ins Verhältnis setzen. Man wird allerdings schon an dieser Stelle einwerfen dürfen, dass die vom Vf. entworfenen Zirkelschlüsse der bisherigen Forschung ein allzu leichtfüßig entworfener Versuch des Vf.s sind, sich einen Freiraum für einen new approach zu schaffen, obwohl die bisherige Forschung stets in strikter Dialektik von Einzeltextexegese und Modell zur Systematisierung der Ergebnisse in Bezug auf das Ganze des Pentateuch und vice versa verfahren ist, sodass nicht der eine Pol in dieser Dialektik gegen den anderen auszuspielen ist, sondern es sich um einen voranschreitenden Lernprozess der Angleichung zwischen Text und Modell mit der Zunahme der Ergebnisse aus den Analysen von Einzeltexten handelt.

Nach einer textsynchronen Kartographie der Murrerzählungen in Bezug auf Murrlexeme im engeren und weiteren Sinne und damit verbunden unterschiedlicher Motive und Formen in diesen Erzählungen sowie nach einer Forschungsgeschichte werden im Folgenden zehn Murrerzählungen in Ex 15,22–27; 16; 17,1–7; Num 11,1–3.4–35; 12; 13–14; 16–17; 20,1–13; 21,4–9 mittels einer Kompositions-, Redaktions- sowie Textgeschichte auf schriftgelehrte Auslegungsprozesse hin befragt, wobei die Doppelüberlieferungen in Ex 16/Num 11,4–35; Ex 17,1–7/Num 20,1–13 einen besonders geeigneten Untersuchungsgegenstand für eine redaktionsgeschichtliche Arbeit auf dem Hintergrund aktueller Forschung zum Pentateuch abgeben. Schon in der Beschreibung seines Programms übergeht der Vf. dabei aber konsequent die Parallelen zwischen derartigen Erzählungen und denen des Deuteronomiums, die im Weiteren nur anhangsweise und beiläufig besprochen werden, was den Ertrag der Studie für die Pentateuchforschung erheblich einschränkt.

Die ältesten Wasserwundererzählungen in Ex 15,22–27*; 17,1–7* sollen wie im traditionellen Quellenmodell der Neueren Urkundenhypothese Teil einer vorpriesterschriftlichen Exoduserzählung gewesen sein, während die Wachtel- und Mannaerzählung Ex 16,1–31* dem Quellenmodell der Neueren Urkundenhypothese entsprechend zu PG gehören soll, was in einer auf die Erhellung von Auslegungsprozessen konzentrierten Arbeit ein erstaunliches Ergebnis ist, das die intensive Verknüpfung von Ex 16 mit post-priesterschriftlichen Texten konsequent übergeht. Im Gegensatz zu den Murrerzählungen im Buch Exodus sollen die jüngeren Erzählungen im Numeribuch von einer grundlosen Unzufriedenheit des Volkes ausgehen. Die beiden Erzählungen in Num 11 seien in V. 1–3 am deuteronomistischen Richterschema orientiert und in V. 4–35 an den vorsinaitischen Murrerzählungen in Ex 16–17. Eine priesterschriftliche Kundschaftererzählung in Num 13–14*, die aber post-PG sein soll, begrenze die Strafe noch auf die murrende Exodusgeneration und wahre so die Landverheißung. Nicht-priesterliche Nachträge sollen dann die Kundschaftererzählung mit der Sinaiperikope, dem Deuteronomium und dem Josuabuch verknüpft haben. Die literarischen Zusammenhänge der priesterlichen Grunderzählung mit der Priesterschrift wie der die Erzählung in literarische Zusammenhänge von der Sinaiperikope bis zum Josuabuch einbindenden »Nachträge« bleiben unterbestimmt, womit die Ergebnisse insgesamt literaturhistorisch in der Luft hängen. Das gilt nun auch für die Frage, wie die Parallelerzählung in Dtn 1,19–46 in diesen Kontext einzuzeichnen ist. In einer auf literarische Auslegungsprozesse konzentrierten Arbeit, die einen Beitrag zur Pentateuchdiskussion leisten will, wäre zu erwarten gewesen, dass gerade den Parallelerzählungen in Numeri und Deuteronomium besondere Aufmerksamkeit gewidmet worden wäre. Dann allerdings hätte der Vf. erkennen können, dass die postdeuteronomistischen Autoren in Num 13–14 sich nicht nur der Erzählung in Dtn 1,19–46 bedient haben, sondern hier wie auch an anderen Stellen im Numeribuch die Quellen der Quellen genutzt wurden, also der Erzählungen, die den deuteronomistischen Autoren im Deuteronomium als Vorlage dienten, was darauf hinweist, dass die Autoren in Num 13–14 durchaus ein Wissen von der Geschichte ihrer Quellen hatten (siehe Deuteronomium 1–11, HThKAT, 377–384), eine Einsicht, die tatsächlich die Redaktionsgeschichte mit der Auslegungsgeschichte auf neue und produktive Weise verknüpft. Num 11 sei als Scharnier zwischen vor- und nachsinaitischen Murrerzählungen der priesterlichen Grundschicht in Num 13–14* nachzuordnen und Num 12 sei als von Num 11 abhängig dessen Korrektur in Gestalt einer schriftgelehrten Erzählung.

Das, was nach dem vom Vf. zugrunde gelegten Programm Stärke und Proprium der Studie sein soll, die literarische Identifikation von Prozessen textgeleiteter und schriftgelehrter Fortschreibungs- und Auslegungsprozessen mittels redaktionsgeschichtlicher Analytik, erweist sich gerade als die Schwäche der Arbeit, was dazu führt, dass der Vf. bei literaturhistorischen Zuordnungen im Ungefähren verbleibt, ja das Vermeiden eindeutiger redaktionsgeschichtlicher Zuweisungen selbst zum Programm erhebt und lieber dabei bleibt, die Ergebnisse seiner Einzeltextanalysen nur zu Trends der neueren Pentateuchforschung in Beziehung zu setzen. Unbeantwortet bleiben Fragen nach der sozialen Verortung der unterschiedlichen Kreise, die nach Meinung des Vf.s das Geschäft der Textschöpfung durch Auslegung von Texten betreiben, nach ihren theologischen Intentionen dabei und vor allem nach ihren historisch-politischen Kontexten in persischer Zeit. Wer zu diesen Fragen zu den Wüstenwanderungserzählungen Material und neue Impulse der Forschung erwartet, wird in der umfassenderen, parallel in FAT erschienenen Studie von Jaeyoung Jeon fündig werden. Erhebt der Vf. den Anspruch, mit der Auslegungsgeschichte der Wüstenerzählungen der Redaktionsgeschichte ein bislang zu wenig beachtetes Fundament zu verleihen, so steht die Einlösung dieses vielversprechenden methodischen Ansatzes noch aus. Die Studie wird durch eine Übersetzung der exegetisch analysierten Texte, eine Bibliographie und die üblichen Register abgeschlossen.