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Ausgabe:

April/2023

Spalte:

331-333

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Roesner, Martina [Hg.]

Titel/Untertitel:

Philosophische Schriftauslegung. Geschichte eines ungewöhnlichen Programms.

Verlag:

Münster: Aschendorf Verlag 2022. 228 S. = Adamantiana, 25. Geb. EUR 42,00. ISBN 9783402137628.

Rezensent:

Patrick Ebert

Mit diesem Band legt Martina Roesner Beiträge der Tagung »Philosophische Schriftauslegung« von 2018 an der Katholischen Fakultät der Universität Wien vor. Dabei gilt Roesner als leitende Frage die nach dem Verhältnis von »Glaube (oder Religion) und Vernunft« (9) und wie dieses angesichts der (nur?) Heideggerschen Kritik der abendländischen Metaphysik, die als Entflechtung von biblisch-christlichem Glauben und philosophischem Denken verstanden wird, neu zu bestimmen ist, was am Gespräch zwischen biblischer Schriftoffenbarung und philosophischem Vernunftdenken oder genauer: am Phänomen der philosophischen Schriftauslegung näher betrachtet werden soll (10). Dieser Aufgabe und der Erläuterung dessen, was philosophische Schriftauslegung sein soll, widmet sich der Band in zehn historisch-darstellenden Beiträgen, die hier kurz – freilich nicht alle – besprochen werden sollen.

Den Einstieg macht Alfons Fürst »Origenes und der Ursprung der philosophischen Bibelauslegung« (15–35), indem die tragenden Elemente der christlichen Philosophie des Origenes, der als unumstrittener Begründer dieser Traditionslinie gelten soll (5), (1. das hermeneutische Fundament der Analogie von Sein und Schrift begründet im christologisch konzipierten Logos; 2. die methodische Vorgehensweise in Allegorese, philologischer Technik, Kommentierung und dem Verständnis der Exegese als Lebenshaltung; 3. die Analyse von Begriffen) nachgegangen wird (16–29), wobei Origenes damit einen eigenen Beitrag zur platonischen Philosophie geleistet habe, indem exegetisch die Frage der Vermittlung der Vielheit mit der reinen Einheit des Ursprungs als Freiheitsgeschehen (Gottes und des Menschen) angegangen wurde (29–34).

Die Beiträge von Augustinus Friedbert Weber »›Die Philosophie in den Psalmen‹. Zur kritischen Synthese von biblischem und antikem Denken bei Gregor von Nyssa« (37–52), Ludger Schwienhorst-Schönberger »Philosophische Schriftauslegung in Meister Eckharts Sapientia-Kommentar« (53–70) und Christian Ströbele »Gottes Wort und göttliche Weisheit. Philosophische Schriftauslegung« (71–92) verfolgen ähnliche Verbindungen von Theologie und Philosophie vor dem Hintergrund der Schriftauslegung bei Gregor von Nyssa, Meister Eckhart und Nikolaus Cusanus weiter, wobei die je spezifischen Schwerpunktsetzungen (Autorität der Schrift [40], Ermittlung philosophischer Einsichten im biblischen Text [58], negativ-theologische Grundvoraussetzungen bei gleichzeitiger Unhintergehbarkeit der Schrift [73.90]) deutlich werden.

Mit Karl Erich Grötzinger »Baruch Spinoza im Rahmen der jüdischen Schriftauslegung« (109–124) kommt auch ein Beispiel jüdischer Schriftauslegung zu Wort. Spinoza greife auf die Tradition der Renaissance zurück und verschärfe deren Aspekte der Trennung von Tora-Wahrheit (philologisch) und Vernunftwahrheit (empirisch-philosophisch) – oder »Bibel und Gegenwart« (120) – und Betonung der Prioritätsstellung der Vernunftwahrheit (115–120), was jedoch im Laufe der weiteren Entwicklung jüdischer Schriftauslegung nicht unangefochten geblieben sei (120–123).

Ein spannendes Beispiel philosophischer Schriftauslegung liefert Christopher Arnold »›Vorstellungsarten der alten Welt‹ und Erzählungen der Geschichte Jesu. Schellings Traditionskritik der Evangelien als früher Beitrag zur Leben-Jesu-Forschung« (125–144) mit Schellings früher Schriftauslegung, die sich vor dem Hintergrund seiner Geschichtsphilosophie entfaltet und philologisch/historisch nach dem Sinn und geschichtsphilosophisch nach der Wahrheit des Textes fragt und dabei auf die Kategorien von Mythos und Vernunftgeschichte zurückgreift (135–138).

Mit »Von den Paulinischen Briefen zum seinsgeschichtlichen Nihilismus. Die Heilige Schrift als Katalysator in Heideggers Destruktion der Metaphysik« (145–162) führt Martina Roesner die Diskussion in die Philosophie des 20. Jh.s und verfolgt die Rolle der Heiligen Schrift in Heideggers Auseinandersetzung mit der philosophischen und theologischen Tradition. R. greift dazu auf Heideggers frühe Überlegungen zur Paradigmatizität des Urchristentums für das Motiv der Geschichtlichkeit zurück und zeigt, wie dieser die Schrift gegen die Schrift anführe, um Kritik an der nach Heidegger philosophisch-theologischen Vorstellung des animal rationale im Namen der grundlegenden Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit zu üben (147–153). Dies werde auch nach der vermeintlichen Kehre deutlich, wenn Heideggers Ton gegenüber der Heiligen Schrift zwar kritischer werde und er Schöpfungsglaube und Ebenbildlichkeit als Teil des seinsgeschichtlichen Nihilismus beschreibt, er in dieser Kritik aber immer wieder auf biblische Figuren besonders aus Exodus (Bildlosigkeit und Vorübergang) zurückgreife (151–161).

Nur konsequent folgt Ulrich H. J. Körtner »Existentiale Interpretation. Rudolf Bultmanns Bibelhermeneutik« (163–184), der aber reflektiert feststellt, dass Bultmann bei aller Abhängigkeit vom Denken Heideggers (163–166) gerade keine philosophische Schriftauslegung entwickle, sondern eine philosophisch reflektierte Exegese (Anrede, Existenz, Verstehen) (165). K. stellt dieses Programm im Durchgang durch Bultmanns Unternehmen der Entmythologisierung und existentialen Interpretation des Neuen Testaments (167–172) und in der Auseinandersetzung mit Bultmanns Verknüpfung von philosophischer Daseinsanalyse und Theologie in der Frage nach dem Problem der natürlichen Theologie dar (172–177), um schließlich die Kreuzung der Differenz von Glaube und Unglaube mit der von Verstehen und Vorverständnis zu problematisieren und dagegen eine theologische Hermeneutik des Unverständnisses als Basis theologischer Schriftauslegung zu setzen (177–183).

Den Abschluss bildet Tobias Mayer »›Die Sprache der Geschichte deuten‹. Chancen und Grenzen der typologischen Schriftauslegung bei Jean Daniélou« (185–205). Über das Motiv der Typologie wird Daniélous »geistige Schriftauslegung« – welche gemäß dem postumen Beitrag von Peter Walter (93–107) auch die Schriftauslegung des Erasmus auszeichne –, die zur bundestheologischen (Heils-)Geschichtshermeneutik wird (187), dargestellt (185–190) und auf Chancen und Potenziale des Ansatzes (»Lesbarkeit der Geschichte« als historischer Haftungspunkt, Hoffnungsmoment, Erinnerung an poetische Qualität religiöser Texte, Widerständigkeit gegenüber dem Verstehen) ausgewertet (202–204). Dabei wird ebenfalls die Problematik der Steigerungslogik (191–193.201) und die Gefahr des typologischen Drifts hin zum Antijudaismus im Denken Daniélous kritisch reflektiert (193–201).

Der Band leistet damit sicherlich eine interessante und aufschlussreiche Einsicht in die historische Frage nach Formen philosophischer Schriftauslegung – in der Tat scheint eine solche im Laufe der Theologie- und Philosophiegeschichte aufgetreten zu sein. Doch ist damit die Frage nach der Geltung solcher Ansätze für die Philosophie oder die Theologie noch nicht beantwortet, wenn nicht die Genesis selbst die Geltung sein soll. Eine rein historische Antwort hilft in der Debattenlage »Glaube und/oder Vernunft« nur bedingt weiter. Hier wäre eine konstruktiv-kritische Auseinandersetzung um die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, die Chancen und Grenzen philosophischer Schriftauslegung hinsichtlich ihrer Bedeutung für Philosophie und Theologie (und darüber hinaus?) wünschenswert, die sich – sicherlich auf Grundlage und im Rückgang auf die historische Arbeit, aber eben auch – systematisch-kritisch-konstruktiv dieser Frage widmen müsste, was der Band lediglich andeutet (52.70.91–92.161.181–183.202–205). Dies hätte vielleicht auch zur Klärung der grundlegenden Fragestellung beitragen können, da oft nicht klar ist, was denn nun Schriftauslegung zur philosophischen mache – das philologische oder begrifflich-analytische Vorgehen sowie die philosophische Reflektiertheit (Körtner) wohl kaum, will man nicht in die Reinheitsphantasien eines genuin theologischen Denkens oder Sprechens verfallen, jenseits aller Medialität in Form von Sprache, Schrift, Methodik/Pragmatik etc. Auch das Motiv einer »geistigen Schriftauslegung« jenseits des Buchstabens dürfte, wie Mayer zeigt – bei aller problematischer Ausblendung der Frage nach der Schrift als Schrift –, noch nicht genügen (185). Könnte das entscheidende Moment nicht eher darin liegen, um wessen willen Schriftauslegung betrieben wird – um willen des Glaubens (bzw. des sich offenbarenden Gottes) oder um willen der Vernunft (bzw. des Seins/des Absoluten etc.)? Und im Ausgang dieser Klärung könnte dann der historische auf den systematischen und kritisch-konstruktiven Diskurs rückwirken – im Sinne eines Miteinanders beider Diskurse.