Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

April/2023

Spalte:

323-325

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Alkier, Stefan, Karakolis, Christos u. Tobias Nicklas

Titel/Untertitel:

Sola Scriptura ökumenisch. Biblische Argumente in öffentlichen Debatten.

Verlag:

Paderborn: Brill/Schöningh Verlag 2021. 235 Seiten. EUR 29,90. ISBN 9783506760388.

Rezensent:

Manuel Bonimeier

Mit »Sola Scriptura ökumenisch« liegt der erste Band der von Stefan Alkier, Thomas Paulsen und Tobias Nicklas neu gegründeten Reihe »Biblische Argumente in öffentlichen Debatten« vor. Das von den Herausgebern erklärte Ziel liegt darin, sich als professionelle Exegese einzumischen in kirchliche, kulturelle und gesamtgesellschaftliche Debatten und dabei das kritische und kreative Potential biblischer Texte zu nutzen (V). Die von Tobias Nicklas in einem seiner Beiträge pointiert konstatierte Ausgangslage lässt aufhorchen:

»Worin sind die Gründe zu sehen, dass exegetische Literatur […] auf meist nur geringes Interesse stößt und selbst in ordentlich sortierten Buchhandlungen bestenfalls eine ganz kleine Nische einnehmen darf? […] Ist die Sprache, in der wir schreiben, zur reinen Binnensprache geworden? Ist es so, dass wir uns einfach nicht genug mühen, die Relevanz exegetischen Arbeitens aufzuzeigen, oder haben wir in manchen Fällen wirklich den Sinn für die Relevanz dessen, was uns bewegt [...] verloren?« (168)

Nach Ansicht von Stefan Alkier, Tobias Nicklas und Christos Karako-lis wird auch die im ersten Band thematisierte ökumenische Frage von Systematikern und Kirchenhistorikern dominiert (XVII). In der Überzeugung, dass »nur die gemeinsame, erwartungsvolle wie kritische Hinwendung zur Schrift tragfähiger Ökumene ermöglicht« (VI), stellen sie zunächst zehn Leitthesen als Grundlage der gemeinsamen Arbeit vor. Dabei gewinnt das Buch sein besonders reizvolles Profil auch durch die Zusammensetzung des Autorenteams: ein römisch-katholischer (Tobias Nicklas), ein protestantischer (Stefan Alkier) und ein griechisch-orthodoxer (Christos Karakolis) Neutestamentler leuchten verschiedene biblische Perspektiven auf das Thema Ökumene aus. Dabei gehen die Autoren in fünf Schritten vor. Nach einer gemeinsamen »Einladung« (I.) und der Vorstellung der Leitthesen (II.) steuert jeder Autor jeweils einen Beitrag zu hermeneutischen (III.), methodologischen (IV.) und ökumenischen Entfaltungen (V.) bei, bevor schließlich »Ermöglichungen schriftgemäßer ökumenischer Praxis« (VI.) aus Sicht der drei genannten Konfessionen skizziert werden. Ein Bibelstellen- und Sachregister rundet das Buch ab.

Den Lesern wird schnell deutlich, dass die einzelnen Beiträge zu Hermeneutik, Methodik und Ökumene sehr unterschiedliche Schwerpunkte setzen und sich nur gelegentlich in Fußnoten auf- einander beziehen. Das Buch erhält so den Charakter eines klassischen Sammelbandes, der eher schlaglichtartig verschiedene Aspekte des weit gesteckten Themas Bibelauslegung und -rezeption behandelt. Einen gemeinsamen Nenner gibt es trotzdem in Form der eingangs aufgestellten Leitthesen, die gleichsam die Stoßrichtung der darauf folgenden Beiträge vorgeben. Die Thesen sind aus einer theologischen, das heißt einer emischen Perspektive formuliert, wenn die Schrift als Bezeugungsinstanz des Wortes Gottes (These 1,3) oder deren Inhalt als Heilswille Gottes für alle Geschöpfe (These 8,4) bezeichnet wird. Diesem theologischen Grundprogramm schließen sich alle drei Autoren an und arbeiten dann (inter)konfessionelle Potenziale verschiedener Modi von Schriftauslegung heraus.

In diesem Zusammenhang verwundert der Buchtitel »Sola Scriptura ökumenisch«. Ein Blick in die mit den Worten »Allein die Schrift« einsetzenden Leitthesen lässt vermuten, dass hier sola scriptura auch tatsächlich Programm ist. Der römisch-katholische Rezensent vermisst in allen zehn Thesen Begriffe wie Erinnerung oder Tradition, die dann aber in den Einzelbeiträgen durchaus in verschiedener Weise zur Sprache kommen. Tobias Nicklas, Professor für Exegese des Neuen Testaments der Universität Regensburg, weist darauf hin, dass die Bibel selbst Produkt von Auslegung und Tradition und ohne eine sie aktualisierende Gemeinschaft toter Text sei (121). Die Bedeutung von Bibelrezeption und -auslegung betont auch der in Athen lehrende Christos Karakolis mit einem Beitrag zur patristischen Hermeneutik. So werden die unterschiedlichen konfessionellen Zugänge immer wieder in den Blick genommen, allerdings ohne konsequent einander gegenübergestellt zu werden. Manchmal gibt es Versuche einer Annäherung oder sogar einer Harmonisierung, wenn etwa Karakolis Perspektiven aufzuzeigen versucht, wie sich das protestantische sola scriptura und das orthodoxe sola ecclesia nicht gegenseitig ausschließen müssten, sondern miteinander koexistieren könnten (67). Ob jedoch ausgerechnet der Sola-Begriff als Schlagwort tragfähiger Ökumene taugt, erscheint fraglich. Die weitere Argumentation Karakolis’, Kirche und theologische Schriftauslegung würden sich gegenseitig bedingen, macht doch gerade den Sola-Begriff in diesem Zusammenhang unbrauchbar.

In die Argumentation des evangelischen Professors für Neues Testament der Goethe Universität in Frankfurt am Main, Stefan Alkier, fügt sich der Begriff sola scriptura stimmig ein. Ausgehend von einem interdisziplinär anschlussfähigen und literaturwissenschaftlich hervorragend ausgearbeiteten Intertextualitätkonzept, das sich auch innerhalb der neutestamentlichen Exegese bewährt, skizziert Alkier Wege einer rezeptionsorientierten kanonischen Bibelauslegung. Ob es jedoch tatsächlich ausreicht, sich die Bibel als narrativen Gesamtentwurf von Schöpfung bis Apokalypse selbst auslegen zu lassen, wird gerade im Dialog mit den anderen Konfessionen umstritten bleiben. Wenn Alkier von einem »Gesamtsinn der Schrift« (20) schreibt, bleibt die Frage offen, wie dieser letztlich entsteht. Wer legt fest, was der Gesamtsinn der Schrift ist und welche Rolle kommt dabei den vielen biblischen Perspektiven, Gottes- und Jesusbildern im Einzelnen zu, wenn in einer unendlichen rezeptionsästhetischen Polyphonie jede und jeder Lesende den Textsinn auf andere Weise konstruiert?

Die Autoren bieten zu ökumenisch strittigen Fragen, wie etwa zum Verhältnis von Schrift und Tradition, keine gemeinsame Position an. Dennoch räumen sie mit diversen verkrusteten Vorannahmen auch innerhalb der exegetischen Tradition auf, die zu hermeneutischen Aporien und auch zu gegenseitigem Unverständnis führen. Ein Beispiel ist Alkiers Plädoyer für eine Verabschiedung von der innerhalb eines schrift- und druckbasierten Medienuniversums entstandenen Idealvorstellung von einem Original der Schrift (11). Ebenso fragwürdig erscheint ihm der von der historisch-kritischen Forschungstradition heraufbeschworene falsche Gegensatz von Text und Geschichte (26–27). Von der historischen Frage nach der Geschichte hinter dem Text abgesehen, antworten narrative Konstruktionen, so Tobias Nicklas, vielmehr auf Fragen wie »Wer bin ich?« und »Wer sind wir?« (114). So wird auch deutlich, was neutestamentliche Texte als frühchristliche Identitätsentwürfe in der ökumenischen Diskussion nicht leisten können. Sie können weder historische Argumente liefern noch anachronistisch als »Zeuge für das metasprachliche Schema: ›Das Christentum und seine Umwelt‹« (153) gelesen werden.

In jedem Fall wirkt das Buch der eingangs zitierten Befürchtung, die Exegese hätte der Theologie und dem gesellschaftlichen Diskurs kaum mehr etwas zu sagen, durch eine prägnante und anschauliche Sprache außerhalb eines zu spezifischen Fachjargons entgegen. Zudem schaffen die Autoren immer wieder durch treffende außerbiblische Beispiele aus Film und Literatur Anknüpfungspunkte jenseits der exegetischen und theologischen Enzyklopädie. Der Band ist in jedem Fall ein lesenswerter Stimulans zur interkonfessionellen Diskussion und macht Lust auf weitere biblische Argumente in öffentlichen Debatten.