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Ausgabe:

April/2023

Spalte:

311-313

Kategorie:

Altertumswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Cairns, Douglas, Hinterberger, Martin, Pizzone, Aglae, and Matteo Zaccarini [Eds.]

Titel/Untertitel:

Emotions through Time. From Antiquity to Byzantium.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2022. IX, 518 S. = Emotions in Antiquity, 1. Geb. EUR 99,00. ISBN 9783161613418.

Rezensent:

Sarah-Magdalena Kingreen

Die neue, bei Mohr Siebeck erscheinende Reihe »Emotions in Antiquity« wird dem auch in der Theologie vernehmbar werdenden Forschungstrend gerecht, Emotionen und Gefühle als einen Gegenstand historischer Forschung zu verstehen. Der zu besprechende Band »Emotions through Time« ist aus einem internationalen Forschungs-Netzwerk von 2016−2018 (Leverhulme Trust International Research Network grant) entstanden und eröffnet diese Reihe. Das Buch gliedert sich in fünf verschiedene Teile, die einerseits überblicksartig das Forschungsfeld der Emotionsgeschichte abstecken (»Introduction«, 1−56), und sich andererseits anhand von verschiedenen Quellengattungen Querschnittsthemen widmen, um das »Byzantine emotional universe« (3) und seine Auswirkungen auf mittelalterliche und frühneuzeitliche Kultur besser zu verstehen sowie aus der Rezeptionsperspektive heraus wiederum die antiken Konzepte von Emotionen weiter zu beleuchten.

Methodisch sieht Douglas Cairns die historische Emotionsforschung zu einem vergleichenden Ansatz verpflichtet, um die jeweiligen sprachlichen, sozialen und kulturellen die Emotionen beeinflussenden Umstände der Epochen präzise herausarbeiten und so auch die Emotionen selbst besser verstehen zu können (40).

Douglas Cairns stellt sich in seinem Einleitungsaufsatz »Emotions through time?« den grundlegenden Anfragen, die immer wieder an Historikerinnen und Historiker, die Gefühle oder Emotionen in den Fokus ihrer Forschung stellen, gerichtet werden. Cairns entkräftet die häufig zu lesende Kritik, dass der Gegenstand der Emotionsgeschichtsschreibung, nämlich Emotionen, schon allein deshalb nicht analysierbar sei, weil Emotionen einzig als eine subjektiv wahrnehmbare, private Erfahrung verstanden werden. Dagegen argumentiert Cairns in zwei Richtungen: Einerseits begründet er, dass Emotionen immer schon Erfahrungen sind, die »intersubjektiv und kulturell« geprägt sind (19). Daher sind Emotionen – die eigenen und die der anderen – nicht vom Kontext, in dem sie sich ereignen, zu lösen. Hierzu bezieht er auch aktuelle psychologische Forschung ein (bspw. Lisa Feldman Barrett), um zu schließen: »Emotions are not just events in the brain or body; they are also events in the world« (19). Als solche bilden sie einen Gegenstand historischer Forschung. Daher argumentiert Cairns andererseits mit der historischen Arbeit selbst. Weil diese anhand von »Beweisen von Ereignissen« Vergangenheit versteht (6 f.), bietet die Emotionsgeschichtsschreibung, die untersucht, wie verschiedene Emotionen zu verschiedenen Zeiten, in verschiedenen Kontexten entsprechend des in dieser Zeit und dieser Kultur vorherrschenden Konzepts verstanden wurden, eine Möglichkeit, traditionelle Forschungsansätze durch die Hinzuziehung von »affective concepts and phenomena as such« (33) zu weiten.

In den beiden folgenden Aufsätzen bieten (erneut) Douglas Cairns (»Emotion research in Classics«) sowie Martin Hinterberger und Aglae Pizzone (»Research on emotions in the Byzantine world«) jeweils einen kurzen forschungsgeschichtlichen Überblick, um dann den vorliegenden Band zu verorten; insbesondere für die jüngere Epoche attestieren die Autoren der Forschung »an embryonic state« (41).

Teil 1 sammelt unter dem Themenkomplex »Philosophy and Religion« (57−117) drei Beiträge, die sich einzelnen Phänomenen in diesem Bereich widmen. Versteht Andrea Capra die Idee einer ›poetischen Kette‹ in Platos Ion als ›emotionale Kette‹, deren Hintergründe und Rezeption er untersucht, und anhand derer er die Grenzen zwischen Emotion und Weisheit in verschiedenen Kontexten besser nachzeichnen kann, diskutiert Divna Manolova die Verflechtung von Staunen (τὸ θαυμάζειν), Ehrfurcht (ἄγη, θάμβος, σέβας) und Ratlosigkeit (ἀπορία) in der byzantinischen Entwicklung. Petra von Gemünden untersucht die Emotion der ὀξυχολία (»wütendes Temperament«) in der frühchristlichen Schrift »Hirt des Hermas« in sprach- und bildsemantischer sowie diskursanalytischer und formkritischer Perspektive. Sie zeigt die theologische Bedeutung dieser Emotion auf.

In Teil 2 werden nun Quellen behandelt, die ihren Fokus auf die rhetorische Theorie und Praxis richten (119−223). Byron MacDougall untersucht die Konstruktion von Sympathie, also »the sharing of pathos between the subject of discourse, the producer of discourse, and the audience« (121), anhand von Predigten. Er zeigt, dass Pathos für die Konstruktion durchaus wichtig ist und sich durch eine Rezeptionsdynamik einstellt, die auf dem Vorwissen und der Erinnerung der Hörenden aufbaut; allerdings bleibt Sympathie ein temporäres Phänomen, das vor allem performativ aufgebaut wird. Aglae Pizzone widmet sich der Behandlung von πάθη in der ersten christlichen rhetorischen Theorie von Johannes Sikeliotes (2. Hälfte des 10. Jh.). Pizzone weist nach, dass Sikeliotes πάθη nicht nur als Instrument des Redners zur Affizierung des Publikums versteht, sondern dieser einen ontologischen Status zuweist, sodass der rhetorische Ausdruck von Emotionen auch die Aufgabe der »reproduction and reorganisation […] of every aspect of reality« durch Sprache hat (51). Floris Bernard nimmt Barbara Rosenweins Konzept der ›emotional communities‹ auf und betont die Kontextgebundenheit der Wertung von Emotionen. Um zwei ›emotional communities‹ im 11. Jh. zu analysieren, untersucht er Bernard Psellos’ Trauerrede für seine Schüler sowie das Textkorpus von Symeon. Jan R. Stenger zeigt – entgegen dem sich häufig findenden Ratschlag des Chrysostomus, Leidenschaften zu vermeiden –, wie bewusst der antiochenische Prediger emotionale Rhetorik einsetzt, um seine Hörerschaft durch die Erregung von Emotionen zu einer »fundamental restructuring of the emotional fabric« (198) anzuleiten und die Gemeinde so auch zu einer emotional community zusammenzuführen. Dagegen fokussiert Niels Gaul auf die historische Entwicklung von emotionaler Performanz, mit der Rhetoren versuchten, durch Mimik, Stimme, Gestik etc. Emotionen bei der Hörerschaft zu evozieren. Während die byzantinischen theoretischen Ideale der Zweiten Sophistik weiterhin entsprachen, sieht Gaul unter dem Einfluss christlicher Entwicklungen eine Zuwendung des byzantinischen Vortragsideals hin zur klassischen Grundlegung.

Teil 3 sammelt unter der Überschrift »Literature« (225−358) verschiedene Quellenstudien, die byzantinische Verarbeitungen von Emotionen herausarbeiten. Douglas Cairns thematisiert Eustathius von Thessalonikis Interpretation des Konflikts zwischen Odysseus und seinem Herzen (Odyssee 20,13−21) als Darstellung eines Motivationskonflikts, während Mircea Graţian Duluş die Darstellung und Hervorrufung von Emotionen in den Predigten von Philagathos von Cerami untersucht. Margaret Mullett behandelt die Vielfalt der Emotionen in der anonym überlieferten byzantinischen Tragödie »Christos Paschon« aus dem 12.Jh.; Angst, Freude, Neid und Hoffnung identifiziert sie als die Wichtigsten und vergleicht ihr Vorkommen in zwei zeitgenössischen Texten von Nikephoros Basilakes und Nikolaos Mesarites. Martin Hinterberger fokussiert auf die byzantinische Verwendung und Einstellung zu den Emotionen Scham und Arroganz in der byzantinischen Geschichtsschreibung des 12. und 13. Jh. und der Entwicklung gegenüber dem antiken Verständnis. Einer konkreten Emotion wendet sich auch Stavroula Constantinou zu, die die Darstellung und Konstruktion von Zorn im »Krieg von Troja«, einer Überarbeitung des »Romans von Troia« von Benoît de Saint-Maure untersucht und aufzeigt, dass beide Werke durchaus ihre eigene emotionale Entwicklungslinie aufweisen.

Teil 4 (»Art and Ritual«, 359−432) eröffnet die Perspektive auf Visualisierung von Emotionen in Kunst und Ritual. So stellt Vicky Manolopoulou byzantinische, insbesondere in Konstantinopel zur Erinnerung an vergangene Naturkatastrophen abgehaltene sowie Begräbnis- und Festprozessionen in den Fokus ihrer Untersuchung und zeigt auf, wie solche ritualisierten Prozessionen auf die Beziehung zwischen menschlichen und göttlichen Emotionen einwirkten. Galina Fingarova untersucht die emotionale Wirkung von Darstellungen des Jüngsten Gerichts und zeigt – anhand von Text- und Bildquellen sowie anhand von Epigrammen auf –, dass diese Darstellungen Angst evozierten. Viktoria Räuchle stellt mütterliche Gefühle in literarischen und künstlerischen Quellen in den Mittelpunkt; sie zeichnet nach, dass von der klassischen, griechischen Darstellung bis in byzantinische Zeiten hinein, die Mutter insbesondere verbunden mit den Tugenden der Mäßigung und Selbstbeherrschung dargestellt wurde.

Das Buch endet mit einem Nachwort von David Konstan, der noch einmal allgemeiner auf die Entwicklung der aristotelischen Grundlegung von Emotionen in byzantinische Zeit blickt. Die byzantinischen Autoren »steeped in the Classical tradition« (440), und doch markiert Konstan eine Transformation von Emotionen durch die Zeit, deren Grund er auch in einer bestimmten monastischen Tradition verortet.

Dieser äußerst lesenswerte Aufsatzband, der mit einer ausführlichen Bibliographie sowie einem Stellen- und Sachregister schließt, eröffnet eine Vielfalt von Studien zu Emotionen, die nicht nur die kulturelle Gebundenheit von Emotionen ernst nehmen und zugleich einen Versuch wagen, Entwicklungen und Bezüge dieser aufzuzeigen, sondern die auch durch die Vielzahl an detaillierten (Text-)Studien neue Aspekte wichtiger Quellentexte herausarbeiten. Dass der selbst gewählte Anspruch, eine Vielfalt an Quellengattungen heranzuziehen (3), dennoch hauptsächlich von textlichen Quellen grundiert ist, zeigt auf, wie das höchst interessante Forschungsfeld noch weiter geöffnet werden kann.