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Ausgabe:

März/2023

Spalte:

251–253

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Pieritz, Christian

Titel/Untertitel:

Eine lutherische Ökonomie.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2021. X, 340 S. = Praktische Theologie im Wissenschaftsdiskurs, 27. Geb. EUR 99,95. ISBN 9783110744330.

Rezensent:

Christoph Weber-Berg

Christian Pieritz wagt sich mit seiner Dissertation in ein wenig bearbeitetes Forschungsfeld vor. Von seiner Biografie her, als gelernter Bankkaufmann, ist er allerdings dazu prädestiniert, sich mit der »Verbindung von Theologie und Ökonomie« zu befassen. Betreut wurde er vom jüngst emeritierten Inhaber des Lehrstuhls für Praktische Theologie in Rostock, Thomas Klie und vom Göttinger Praktischen Theologen Jan Hermelink als Zweitgutachter. Nur auf den ersten Blick mag erstaunen, dass P. seine Arbeit im Kontext der Praktischen Theologie – und nicht etwa der Ethik oder der Religionssoziologie – versteht. Sehr bald wird bei der Lektüre klar, dass es P., der als Pastor der Nordkirche tätig ist, weder um einen ethischen Blick auf wirtschaftliches Handeln noch um einen phänomenologischen oder distanziert theologischen Blick auf Ökonomie, sondern um die Frage nach der Möglichkeit einer spezifisch konfessionell geprägten, evangelisch-lutherischen Ökonomie geht.

Nach dem ersten, einleitenden Kapitel wendet sich P. im zweiten Kapitel den »Konstellationen von Theologie und Ökonomie« zu. In der Darstellung des Forschungsfeldes umkreist er die durch ihn selbst zu bearbeitende Leerstelle. Dazu erläutert er ökonomische Grundlagen wie das Modell des »homo oeconomicus», Ansätze der Institutionenökonomik sowie Theorien der Märkte. Im Abschnitt »Neoklassik als Weltdeutung« scheint erstmals auf, was von P. auch in späteren Kapiteln aufgegriffen wird: die Problematik eines Selbstverständnisses der Ökonomie als positive Wissenschaft, die sich gegen normative Implikationen abgrenzt, um alle Lebensbereiche im Rahmen eines rationalen Denkmodells zu erklären und die Welt vorhersagbar zu deuten. Damit einher geht eine Blindheit gegenüber Theorieeffekten, die dazu führen, dass Ökonomie sehr wohl weltgestaltend – normativ – auf ihr ursprünglich fremde Lebensbereiche einwirkt.

Nach der Darstellung ökonomischer Grundlagen nimmt sich P. bestehender Verhältnisbestimmungen von Ökonomie und Theologie an: Wirtschaftsethik, ökonomische Ethik, Religion in ökonomischer Perspektive und Ökonomie als Religion. Auch in ihrer jeweiligen Kürze sind die Darstellungen geeignet, als Kontrastfolien für das Vorhaben P.s zu dienen, die Möglichkeit einer spezifisch lutherischen Ökonomie auszuloten. In praktisch-theologischer und kirchlich-theologischer Hinsicht ist der Exkurs zum Fallbeispiel des eMp, des »Evangelischen Münchner Programms«, aufschlussreich, das von 1997 bis 2002 im Dekanat München zusammen mit der Beratungsfirma McKinsey umgesetzt wurde. »Ökonomie als Methode in der Kirche« zeigt die Schwierigkeit auf, die sich Kirchenleitungen stellt, wenn gesellschaftliche und finanzielle Rahmenbedingungen dazu führen, dass ökonomische Deutungs- und Gestaltungsansprüche in der Kirchenentwicklung Einzug halten. Wie kann Kirche marktfähig sein, ohne marktförmig zu werden?

Im dritten Kapitel zeigt P. auf, warum es seinen Forschungsbeitrag braucht: es gibt zwar »Theological Economies», aber keine Literatur, die »eine dezidiert lutherisch geprägte theologische Ökonomie« bearbeitet. Außerdem ist das Feld theologischer Ökonomien sehr heterogen. Diesem Feld nimmt sich P. im vierten Kapitel beschreibend an.

Einen Schritt in Richtung seines eigenen Forschungsvorhabens geht P. im fünften Kapitel, das er mit »Zugänge zu einer lutherischen Perspektive« überschreibt. Gleich zu Beginn des Kapitels deutet er an, in welche Richtung seine Argumentation gehen wird. Es geht ihm nicht darum, einen Primat der Theologie über die Ökonomie zu postulieren, sondern »analog zu systematisch-theologischen Rechtfertigungsstrukturen einen Dualismus zu verbinden« (181). Durch diese Anbindung an die Rechtfertigungsstrukturen im Sinne des Christenmenschen als simul iustus et peccator erhält die theologische Perspektive auf die Ökonomie ihre konfessionelle Prägung. P. stellt sich die Frage, wie der iustus »nicht nur deskriptiv, sondern auch performativ als frame oder im Sinne von Theorieeffekten wirksam sein könnte« (186).

P. unternimmt es in diesem Kapitel, drei differenzierte Perspektiven herauszuarbeiten: Eine exegetische, eine theologiegeschichtliche und eine systematische. Exegetisch widmet er sich der »Ökonomie der paulinischen Kollekte« und zeigt auf, dass diese keiner Tauschlogik folgt, sondern als Beziehungsgabe ökonomisch nachvollzieht, was Paulus theologisch verkündet: Gottes Gnade und Zuwendung, die kein Mensch »besitzen« kann, und die auf Ausgleich angesichts von Not ausgelegt sind. Theologiegeschichtlich stellt P. die »Reformation als Dekommerzialisierung« heraus. In der merkantilen Logik der vorreformatorischen Theologie diente das Geld dem Heilserwerb. Der Protest gegen genau diese Logik stand als Auslöser am Ursprung der Reformation. In systematischer Perspektive zeigt P. die zentrale Rolle des simul in Luthers Theologie auf und leitet dessen Bedeutung für eine lutherische Ökonomie ab. Bezüge zur Doppelthese in der Einleitung zur Freiheitsschrift (»niemandem untertan/jedermann untertan»), zur Unterscheidung von »altem und neuem Menschen« sowie »innerem und äußeren Menschen« referiert er anhand verschiedener Autoren, um im Rahmen seiner »Präzisierung: Simul iustus et peccator« (269–281) die Bedeutung der Dialektik, der Gleichzeitigkeit dieser existenziellen Gegensätzlichkeiten sorgfältig herauszuarbeiten. Das simul synthetisiert nicht Sünde und Rechtfertigung. Es hat zur Folge, dass ein Christ mit sich selbst uneins ist: der Stand als Gerechtfertigter ermöglicht es, die Sünde an sich selbst zu erkennen. Diese neue, mit sich selbst uneinige Identität des gläubigen Menschen eröffnet neue Handlungsalternativen. Diese Denkfigur ist der Schlüssel zur von P. im abschließenden sechsten Kapitel ausgeführten Möglichkeit eines »simul theologia et oeconomia«. Eine lutherische Ökonomie bietet einen Deutungsrahmen, der zwei widerstreitende Perspektiven in dialektischem Bezug zueinander bestehen lässt, und gerade daraus die Möglichkeit zu alternativen Handlungsoptionen eröffnet.

»Eine lutherische Ökonomie« von P. ist keine leichte Kost. Das Werk hat vereinzelt Längen, die möglicherweise der Anlage einer Promotionsarbeit geschuldet sind, die sich keine »Abkürzungen« erlauben darf. Dennoch: Das Buch ist sehr gut lesbar und wird nicht nur ökonomisch interessierte Theologinnen und Theologen ansprechen, sondern hoffentlich auch theologisch interessierte Vertreter der Ökonomie. Wer materiell die Darstellung einer »lutherischen Ökonomie« erwarten würde, wird allerdings leer ausgehen. P. erarbeitet in hoher Sorgfalt und Ausführlichkeit theologisch die Möglichkeit einer solchen Ökonomie. Wer bereit ist, sich darauf einzulassen, erhält einen hermeneutischen Schlüssel zur homiletischen Auseinandersetzung mit Ökonomie und einen spezifisch konfessionellen Denkrahmen für theologisch-ökonomische Weiterarbeit.