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Ausgabe:

März/2023

Spalte:

250–251

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Hoffmann, Claudia

Titel/Untertitel:

Migration und Kirche. Interkulturelle Lernfelder und Fallbeispiele aus der Schweiz.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2021, 192 S., Kart. EUR 32,90. ISBN 9783290184124.

Rezensent:

Friedemann Burkhardt

Die Basler Theologin Claudia Hoffmann legt einen bedeutsamen Beitrag empirischer Gemeindeforschung mit durchgängig ökumenischer Perspektive vor, den sie religionssoziologisch verortet. Das Buch ist handlich, gut lesbar, strukturiert, aktuell und ideal geeignet, um sich mit dem Themenfeld Migration und Kirche vertraut zu machen. Es basiert auf einer qualitativ-empirischen Untersuchung von Migrationskirchen im Schweizer Kanton Aargau, die H. zwischen 2017 und 2020 an der Theologischen Fakultät der Universität Basel durchführte. Die Studie steht im Kontext einer Reihe weiterer Publikationen zur Migrationskirchenforschung der vergangenen fünf Jahre im deutschsprachigen Raum und bereichert diese als fachlich profunde Monographie. Im Fokus stehen ökumenische Kooperationen und Netzwerke, Theologie und Praxis gelebten Glaubens und das Selbst- und Auftragsverständnis der internationalen Kirchen. Ziel der Studie war es, den einheimischen Kirchen Impulse für die Zusammenarbeit mit migrationskirchlichen Gemeinden zu geben, eine Brücke zwischen Forschung und gemeindlichem Leben zu schlagen und zum gegenseitigen Verständnis beizutragen.

Um die Wahrnehmung der internationalen Gemeinden zu befördern, beginnt die Darstellung der Forschungsergebnisse in Kapitel 2 mit einer exemplarischen Vorstellung von zehn Migrationskirchen. Diese werden zunächst in den Kontext der religiösen Gemeinden des Kantons Aargau gestellt, in dem sich auch 25 Moscheegemeinden sowie buddhistische und hinduistische Zentren befinden. Die Karte im Anhang ist erhellend. In dem Zusammenhang wird die bedeutsame Frage nach der Sichtbarkeit von Migrationskirchen erörtert. Bei den Fallbeispielen handelt es sich um acht Kirchengemeinden des Protestantismus, von denen etliche eine charismatische oder pentekostale Prägung zeigen. Eine Gemeinde gehört zur orthodoxen und eine zur römisch-katholischen Glaubenstradition. Bemerkenswert am ersten Zwischenfazit ist die Liste von Gemeinsamkeiten der Migrationskirchen. Vornweg die, dass sie keine eigenen Kirchenräume besitzen und sich fortwährend auf der Suche nach geeigneten Räumlichkeiten befinden.

Kapitel 3 stellt ein bisher wenig behandeltes Thema der Migrationsforschung ins Zentrum. Gefragt wird nach Einflüssen von Migrationsprozessen auf das ökumenische Miteinander von Gemeinden. Datenbasiert werden vier Beziehungsmodelle beschrieben und diskutiert: das Vermietungs-, Kooperations-, Integrations- und Partnerschaftsmodell. Wieder liefert ein sorgfältiges Fazit inspirierende Einsichten für die Praxis und zeigt, was eine ökumenische Zusammenarbeit erschwert, aber auch, was sie befördert. Abschließend hält H. fest, dass Schweizer Kantonalkirchen unter Ökumene häufig das Miteinander von reformierten und katholischen Gemeinden verstehen, dies aber zu kurz greife, weil es den weltchristlichen Horizont vermissen lässt und ebenso die Freikirchen übersieht. Dass dieses Ergebnis nicht nur für die Schweiz kennzeichnend ist, zeigen empirische Gemeindestudien für Deutschland, die einen ökumenischen Ansatz verfolgen.

Im Mittelpunkt des vierten Kapitels stehen theologische Lernfelder wie Verständnisse und Formen von Heilung, Gebet, Mission und Evangelisation, die sich im zwischenkirchlichen Miteinander als solche stellen. Diese werden in den beiden Abschnitten »Spirituelle Vitalität« und »Missionarische Zuversicht« in interkultureller Perspektive betrachtet, in einen weltchristlichen Horizont eingeordnet und abschließend daraufhin betrachtet, was migrationsökumenische Begegnungen befördern kann. Keinesfalls gelingt das Miteinander, wenn die kontroversen Themen den Anfang der Begegnungen bestimmen. Bei der Kontaktaufnahme geht es zunächst darum, einen Vertrauensraum zwischen einheimischen und internationalen Gemeinden aufzubauen. Welchen Raum eine fruchtbare Migrationsökumene braucht, reflektiert der letzte Abschnitt des Kapitels. Dabei begibt sich H. auf die Suche nach einem Interkulturalitätskonzept, das die Gestaltung jenes vielbeschworenen Dritten Raums inspiriert. Durchaus kritisch verwendet sie dafür das Bild des Treppenhauses als Modell für einen interkulturellen Lern- und Begegnungsraum.

Das abschließende Kapitel 5 diskutiert die Ergebnisse der Studie im gesamtkirchlichen Kontext der Schweiz in ökumenischer Perspektive und zieht die Linien dann weiter im Blick auf die Lage in Deutschland und Europa. Das Buch endet mit drei konkreten Schlussempfehlungen für eine gelungene Migrationskirchenökumene: Erstens soll die Kirche für die gesellschaftlichen Prozesse interkulturellen Zusammenlebens eine Vorbildfunktion übernehmen. Zweitens empfiehlt es sich, die Themen Migration, Migrationskirchen und Flucht in der erforderlichen Differenziertheit zu betrachten. Und drittens geht es um die Implementierung eines interkulturellen Zusammenlebens, das binäres Denken überwindet, indem es auf die Fokussierung der Differenzen verzichtet. Positiv ausgedrückt geht es um eine ökumenische Gemeinschaft, an der die einzelnen Akteure gleichberechtigt teilhaben und die sie gleichrangig repräsentieren.

Hat das Buch sein anvisiertes Ziel erreicht? Ich glaube Ja! Es führt differenziert ins Thema ein, enthüllt Realitäten, weckt Verständnis, baut Brücken und gibt Anstöße für eine neue Theorie und Praxis in der Kirche.