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Ausgabe:

März/2023

Spalte:

244–245

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Beckmann, Klaus

Titel/Untertitel:

Dienstweg – kein Durchgang? Als Pfarrer und Staatsbürger in der Bundeswehr. Eine Erinnerungs- und Streitschrift.

Verlag:

Berlin: Miles-Verlag 2022. 264 S. Kart. EUR 19,80. ISBN 9783967760439.

Rezensent:

Jobst Reller

Klaus Beckmann, von Haus aus Pfarrer der Evangelischen Kirche der Pfalz und promovierter Neuzeitkirchenhistoriker, war von 2011 bis 2020 als Militärpfarrer und Militärdekan in der evangelischen Militärseelsorge tätig, u. a. als persönlicher Referent des ersten hauptamtlichen Militärbischofs Dr. Sigurd Rink in Berlin. Das schließt Einblicke in die normalen Vollzüge eines Standortpfarrers vor Ort in Seelsorge und Lebensberatung, lebenskundlichen Unterricht, Gottesdienste und Rüstzeiten, aber auch Erfahrungen aus intensiver mehrmonatiger Begleitung von Einheiten im Ausland in Afghanistan und in Mali und Bekanntschaft mit Leitungsperspektiven ein.

Der Titel ist Programm: »Dienstweg – kein Durchgang?« Der Vf. sieht sich als Anwalt der für die junge Bundeswehr in den 1950er Jahren neu formulierten Führungsphilosophie der sog. »Inneren Führung« neben der in allen Armeen der Welt bekannten äußeren Führung nach Befehl und Gehorsam. »Die Innere Führung ist in der Theorie das perfekte Modell einer protestantischen Berufs-ethik« (98). Das lutherische Konzept des Berufs, dass Alltagsarbeit als Dienst an Gott und am Nächsten und Verantwortung sieht, ist hier nach den Erfahrungen des sog. »Dritten Reichs« für den Beruf des Soldaten in nuce entfaltet. Entsprechend sollte der Dienstweg an sich schon ein Kanal offenen Meinungsaustauschs über alle Hierarchieebenen hinweg sein und sachliche Kritik nicht auf dem Weg nach oben in Wohlgeruch verdampfen (z. B. 91). Der Vf. will in der Reflexion seiner persönlichen Erfahrungen provozieren im guten Sinn, zur Praxis einer am Widerstand im Dritten Reich gegenüber einer Deutschen Wehrmacht als »willigem Erfüllungsgehilfen« (z. B. 85.111) eines verbrecherischen politischen Systems geschulten Führungspraxis zurückrufen im Sinne eines: »Werde immer wieder, der du bist.« Überhaupt schlägt das gründliche Wissen des Vf.s zur neuesten deutschen Geschichte, aber auch zu der des sog. Dritten Reichs und des Kirchenkampfs etwa zu Dietrich Bonhoeffer immer wieder durch. Er intendiert wiederholt das Amt des Militärseelsorgers auch als Wächteramt (227 ff.). Die besondere, gegenüber anderen Armeen singuläre Stellung eines Militärseelsorgers in der Bundeswehr, von Weisungen der militärischen Führung unabhängig zu sein, eröffnet hier eine Aufgabe, wobei der Vf. keinen Zweifel an seiner Bejahung einer das Grundgesetz in Innerer Führung lebenden Bundeswehr lässt. Aber das ist eben immer neu Herausforderung und Aufgabe, kein selbstverständlicher Besitz.

Das Besondere an diesem Buch ist, dass es sich nicht als Programmschrift für eine zu ihren Ursprüngen zurückzurufende Bundeswehr erschöpft, sondern dass es in der Gestalt eines wissenschaftlich reflektierten Erinnerungsbuchs formal und material das gesamte Gebiet einer besonderen kirchlichen Institutionsseelsorge abdeckt. Formal erfährt man alles über die rechtlichen Rahmenbedingungen eines Pfarrdienstes in der staatlich beauftragten und finanzierten Militärseelsorge und die schon erwähnten Grundvollzüge. Die besondere Situation eines Soldatendienstes, zumal im Ausland, der die Potenz zu tödlicher Gewaltausübung einschließt, setzt besondere Inhalte und Materien aus sich her-aus, die im Unterricht wie in der Seelsorge behandelt werden, aber auch für Gottesdienste in Predigt und Gebet den Rahmen abgeben können. Interessanterweise vollzieht sich das pastorale Handeln im ethischen Unterricht wie im Einzelgespräch in der speziellen Seelsorge als Unterstützung eigenständiger Lösungssuche, als »Assistenz zur Selbstklärung« (Friedrich Lohmann). Wenn man so will, dekliniert der Vf. die Praxis einer vom Evangelium ausgehende lebensberatenden Seelsorge durch, die nicht nur auf Kaserne und Camp beschränkt bleibt, sondern im Kontakt zu den Angehörigen, Freunden und Familien der Soldatinnen und Soldaten auch in das ganz »normale« Alltagsleben übergreift. Gegenüber anderen Darstellungen von christlicher Seelsorge wird Seelsorge hier in ihrer Praxis reflektiert auf mögliche Theoreme. Wahrscheinlich gibt es nicht viele Institutionsseelsorger, die eine ähnliche Breite von Themen tangieren.

Auf eine Einleitung (12–53), in der man sich kritisch fragen kann, ob deutsche Überhöhung des Militärs und Untertanengeist in Heilsdimensionen (13.87) so uneingeschränkt herrschten gegen Ideen einer »Volkswehr« (37.92 ff.), folgen drei Hauptteile: I »Dabei und doch draußen« (54–116), II »Riskante Freiheit« (117–152) und III »Mut und Klarheit« (153–237). In allen drei Hauptteilen finden sich Abschnitte zu »Seelsorgerischen Gewissensfragen«, insgesamt vier »Lektionen«, davon zwei in Hauptteil II. Hier formuliert der Vf. im Konjunktiv, so als wären seine konkreten Erfahrungen Gedankenspiele. In Wirklichkeit finden sich hier die Inhalte seiner seelsorgerlichen Erfahrungen, seiner Praxisbeispiele aus Unterricht, Seelsorge und Gottesdienst. Sie sind gleichsam getarnt und anonymisiert, um die Gesprächspartner in Seelsorge und Unterricht zu schützen. Überhaupt verbergen sich hinter Überschriften, die das ethische Thema benennen, wie z. B. »Von der Selbstachtung und der Achtung anderer« (104–112) konkrete Erfahrungen. Das Kapitel könnte mit gleichem Recht »Von der Aufarbeitung des Einsatzes in Afghanistan« heißen. Das Kapitel »Die Treue des Dienstherrn« (121–127) handelt von der Wehrpflicht. Aus Sicht des Rezensenten entsteht ein getreues Bild der inneren Lage der Bundeswehr. Um diese vielschichtigen Aspekte zu entdecken, muss man sich dem Fluss dieses reflektierten Buches einfach hingeben.

Die Titel des Schlussabschnitts (238–256) geben an, was das spezifisch Evangelische an dieser aus der Praxis erwachsenden Seelsorgetheorie ist: »Befreiendes Gedenken«, ein von der Rechtfertigung allein aus Glauben zur Wahrheit befreiter Umgang mit der deutschen Geschichte, »Ermutigen, nicht abrichten«, ein auf der unantastbaren Würde der Geschöpflichkeit aufruhendes Menschenbild, »Empathie heilt Wunden«, ein vom Evangelium her sensibles, zweckfreies Zuhören und schließlich der Zuspruch der Vergebung für alle Schuld: »Größer kann Schuld nicht sein.«