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Ausgabe:

März/2023

Spalte:

241–244

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Werz, Joachim [Hg.]

Titel/Untertitel:

Gottesrede in Epidemien. Theologie und Kirche in der Krise.

Verlag:

Münster: Aschendorff Verlag 2020. 406 S. Geb. EUR 49,00. ISBN 9783402247228.

Rezensent:

Thomas A. Seidel

»Zum Zeitpunkt des Erscheinens dieser Anthologie befindet sich die Welt seit über einem Jahr in einem Ausnahme- und Krisenzustand«, konstatiert der Herausgeber, der katholische Kirchenhistoriker Joachim Werz in der Einleitung zu diesem 2021 erschienenen Band.

Joachim Werz verweist auf die seit dem Frühjahr 2020 (z. T. bis Ende 2021) im politisch-medialen Raum vorherrschende »Katastrophen- beziehungsweise Kriegsrhetorik«, von Staatslenkern wie Angela Merkel oder Emmanuel Macron mit Nachdruck vorgetragen (9), um im Interesse des Infektionsschutzes gegen das Virus SARS-CoV-2 die Solidarität und (auf dem Wege diverser »Lockdowns«) auch den (strafbewehrten) Gehorsam der Bürger einzufordern. Überdies könne, »ein Jahr nach dem ersten Lockdown im März 2020 nicht bestritten werden, dass Menschen, egal welchen Alters und egal welcher (sozialen) Herkunft, unter der COVID-19-Pandemie massiv leiden.« (10) Diese Menschen, so W., »sehnen sich nach einer Botschaft, die Vertrauen fassen, zuversichtlich, mutig sowie entschlossen in die Zukunft blicken [lässt]« (11). Merkwürdigerweise verweist M. an dieser Stelle ausführlich auf die (dystopische) »Prophetie« des israelischen Historikers Yuval Noah Harari: »Wir werden in einer anderen Welt leben, wenn die Krise vorbei ist.« (10, Anm. 3, Harari: »In vielen Fällen ersetzen Roboter Menschen, und sie werden nicht verschwinden, […]. Denn Roboter haben den Vorteil, dass sie nicht infiziert werden können.« (Vgl. zur Auseinandersetzung mit Harari: Thomas A. Seidel/Sebastian Kleinschmidt [Hg.] Coram Deo versus Homo Deus. Christliche Humanität statt Selbstvergottung, GEORGIANA, Bd. 6, Leipzig 2021).

Mit Verweis auf den Grundtenor der meisten Beiträge unterzieht Werz mittels einer »doppeldeutigen Standortbestimmung« die deutsche katholische Amtskirche einer schonungslosen Kritik. Diese Kritik scheint, cum grano salis, auch auf die evangelische Kirche anwendbar. Die vor der Hand medizinisch-politische Corona-Krise lege, so W., die »Krise von Theologie und Kirche« offen. Sowohl Gotteserfahrung als auch Gottesrede verlören an Kraft. Die (universitäre) Theologie habe »ihren eigenen Beitrag geleistet, dass Gott nicht mehr als Sicherheit und Gewissheit wahrgenommen wird – gerade dann, wenn alles fragil und bedroht ist.« (14) Zugleich sei aber auch »eine – im wahrsten Sinne des Wortes – fundamentale Krise der Kirche« festzustellen. Sie habe »keine klaren und starken Worte mehr, weil sie den vertrauensvollen Bezug zu dem und die hoffnungsvolle Ausrichtung auf den, der unsere Stärke (Ps 48,1) und in allen Nöten unsre Hilfe ist (Ps 18,7), verloren hat«. (15) Daher sei es nicht verwunderlich, »dass auch in Zeiten von Corona die Zahlen der Kirchenaustritte steigen« (15).

Nach dieser Generalabrechnung benennt Werz die Zielsetzung des Bandes. Zentral sei die Frage, »auf welche Weise in Geschichte und Gegenwart angesichts von Seuchen-, Epidemie- und Pandemieerfahrungen über Gott gesprochen beziehungsweise wie er verkündet wurde und wird« (17). Das Buch möchte mit »historischer Erfahrungstiefe für gegenwärtige Debatten« sorgen und dafür sensibilisieren, »wie Gottesrede in Epidemien gelingen kann« (21).

Diese Aufgabe wird in zwei Schritten angegangen. Kapitel 1 »Perspektiven aus Bibel, Literatur und Geschichte« versammelt neun Aufsätze. Thematisch wird ein weiter historischer Bogen geschlagen. Er reicht von »biblisch-theologischen Aspekten von Krankheit« (Ilse Müller), »Gottesrede in Epidemien am Beispiel von Cyprian von Karthago [*200; 268†]« (Hans-Ulrich Weidemann), einem Blick auf die karolingische Reform, insb. auf Walahfrid Strabo [*808; 849†] (Christian Stadelmaier), der Gottesrede als »ermutigende Orientierung in Krisenzeiten bei Hildegard von Bingen« [*1098; 1179†], (Barbara Stühlmeyer), »Martin Luthers Umgang mit der Pestepidemie 1527« (vom einzigen protestantischen Autor des Bandes, Markus Wriedt), den »Seuchenpredigten im frühneuzeitlichen Katholizismus« [1593–1685] (Joachim Werz), dem »volkspädagogischen Wirken der Landpfarrer am Beispiel der Pockenepidemien im Fürstbistum Münster« [um 1800] (Andreas Oberdorf), »Cholera als Zeichen der Zeit« und der Auseinandersetzung der katholischen Kirche damit im 19. Jh. (Norbert Köster) und einem »Extra-Beitrag«, der unter der Überschrift »Ansteckungszeit« Epidemien in literarischer Adaption in den Blick nimmt (Achim Geisenhanslüke).

Das zweite Kapitel versammelt unter der Überschrift »Syste-matische Überlegungen angesichts gegenwärtiger Epidemien« eine etwas willkürlich erscheinende Auswahl von zehn theologisch-philosophischen und praktisch-theologischen Einzelbeiträgen. Die ersten beiden Artikel widmen sich der (nicht nur in Corona-Zeiten relevanten) Theodizee-Frage. Während Werner Schüßler diese Frage vorzugsweise philosophisch akademisch beantwortet (238: »Das Theodizeeproblem stellt keinen unüberwindlichen Einwand gegen das Bekenntnis zu einem allmächtigen und allgütigen Gott dar.«), fokusiert Bernd Irleborn auf deren praktisch-lebensweltliche Relevanz. Sein Befund, »dass die Pandemie die sich schon seit langem abzeichnende christliche Glaubens- und Gotteskrise offengelegt und wie unter einem Brennglas sogar verschärft hat«, deckt sich nicht nur mit den einleitenden Bemerkungen des Herausgebers. Der Autor goutiert (tendenziell) die radikale Deutung der Giordano-Bruno-Stiftung, namentlich ihres Beiratsmitglieds Heinz-Werner Kubitza, der dem Christentum eine »abstruse Weltsicht« attestiert. Benedikt Paul Göcke öffnet eine interessante »panentheistische Perspektive auf das Übel der Welt«. Eine befreiungstheologisch-antikolonialistisch inspirierte Würdigung der Enzyklika »Laudato Si´« von Papst Franziskus unternimmt Margit Eckholt unter der Überschrift »Gottesrede zwischen Corona und Aurora«. Sie unterstreicht die päpstlich ausgerufene »weltweite ökologische Umkehr« (291). Bei ihr, wie auch bei Co-Autorin Stühlmeyer, wird die Corona-Pandemie als »Fingerzeig […] auf das Zerbrechen des Machbarkeitswahns«, auf »einen Scheitelpunkt des Anthropozäns« (301) oder als »eine Konsequenz unseres Handelns« gesehen. (123: Stühlmeyer erwähnt, unbelegt und unzutreffend, »eine Ausrottung von 85 % der Insekten und unzähliger Tierarten.«)

Die abschließenden fünf Beiträge nehmen »corona-bedingte« diakonische, liturgisch-sakramentale und pastoral-seelsorgerliche Themen in den Blick: »Kirche im Lockdown« (Martin Kirschner), »Liturgie in der Pandemie« (Benedikt Kranemann), »Beobachtungen zur Debatte um Online-Sakramente« (Judith Hahn), »Ethik in der Pandemie« (Hannes Groß), »Pastoral auf Distanz« (Gerrit Spallek) und »Seelsorge in Pflegewohnheimen der Caritas« (Theresa Stampler).

Der gut lesbare Sammelband bietet mit seinem Zweischritt aus historischer Reflexion und theologischer Zeitbetrachtung interessante Forschungserträge und einige Impulse »für eine Neuausrichtung und einen Neuanfang […] in Theologie und Kirche« (20). Diese Impulse hätten möglicherweise tiefenschärfer ausfallen können, wenn die seit 2020 mitlaufende Debatte zur medizinischen und gesundheitspolitischen Einordnung und zu den statistischen Befunden der Pandemie mitbedacht worden wären. Einzig der Beitrag von Göcke unternimmt eine Kontextualisierung: »Obwohl die durch den Virus Sars-CoV-2 verursachte Pandemie zu millionenfachem individuellen Leid führt und die Weltgemeinschaft vor enorme politische, soziale und wirtschaftliche Probleme stellt, ist sie mit ihren bislang 2,8 Millionen Toten (Stand April 2021) sta-tistisch betrachtet eines der kleineren Übel der Menschheitsge- schichte.« (259) Diese Einschätzung deckt sich mit einer WHO- Schätzung von Anfang Mai 2022. Diese geht für den Zeitraum 2020–2021 (d. h. mit und ohne Impfung) von »etwas mehr als 6,2 Millionen corona-infizierten Toten« aus (von denen etwa 75 % älter als 80 Jahre und zum Teil vorerkrankt waren). (Vgl.: https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/133976/WHO-Weltweit-fast-15-Mil-lionen-Tote-durch-die-Coronapandemie vom 5.5.2022), mithin ca. 0,08 % »an oder mit« Corona Verstorbenen, angesichts einer Weltbevölkerung von derzeit ca. 8 Milliarden. Dieser Hinweis plädiert nicht für eine Banalisierung der Corona-Gefahren. Wohl aber für analytische Genauigkeit und reflexive Sachlichkeit im Interesse sachlich angemessener und theologisch wirkungsvoller »Gottes-rede in Epidemien«.