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Ausgabe:

März/2023

Spalte:

240–241

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Ludwig, Johannes

Titel/Untertitel:

Zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Die politische Praxis des Heiligen Stuhls bei den Vereinten Nationen im Spiegel der katholischen Begründung der Menschenrechte.

Verlag:

Freiburg i. Br. u. a.: Verlag Herder 2021. 432 S. = Freiburger theologische Studien, 197. Geb. EUR 80,00. ISBN 9783451391378.

Rezensent:

André Munzinger

Diese Studie ist eine für die Drucklegung leicht veränderte, bei Julia Enxing entstandene Dissertation, die im Wintersemester 2020/21 in Dresden angenommen worden ist. Sie stellt eine Verbindung ge-nealogischer, geltungstheoretischer und praxeologischer Aspekte der Menschenrechte im Horizont der römisch-katholischen Theologie und Kirche in Aussicht. Johannes Ludwig hat Internationale Beziehungen, Internationale Sicherheit, International Political Economy und Katholische Theologie studiert und verkörpert somit die interdisziplinäre Vernetzung der Fragestellung.

Sie geht im ersten, einleitenden Kapitel von einer vielschichtigen Mängelanalyse aus, nämlich dass die Menschenrechte in der Gegenwart sowohl empirisch-politisch als auch normativ gefährdet sind. Die Rechte sind nicht selbstverständlich. In dieser systematisch-theologischen Arbeit wird deshalb untersucht, wie das Zweite Vatikanische Konzil zu einem Wandel in der katholischen Menschenrechtsbegründung geführt hat und wie sich die menschenrechtliche Praxis des Heiligen Stuhls bei den Vereinten Nationen daran anschließt.

Im zweiten Kapitel wird das vorkonziliare Menschenrechtsverständnis der katholischen Tradition untersucht. Dabei werden die zwei Säulen der christlichen Offenbarung und des Naturrechts herausgestellt. Für den Offenbarungsbezug werden die Gottesebenbildlichkeit, Gotteskindschaft, aber auch die christologisch definierte Menschwerdung hervorgehoben. So werden die Menschenwürde und die sich ihr anschließenden Rechte aus der dogmatischen Begründung heraus expliziert. Wesentlich ist zudem die beachtliche Tradition des Naturrechts, die vom Vf. auf stoische Wurzeln, Augustinus und Thomas von Aquin zurückgeführt wird und die sich mit der Aufklärung und der Neuscholastik zwar in die Gegenwart übersetzen lässt, aber doch Defizite aufweist. Daraus erwächst somit keine geradlinige Befürwortung der Menschenrechte, sondern der Phase der Ablehnung folgen eine der Annäherung und daraufhin eine der Annahme.

Beachtlich sind die Erinnerungen an die Qualität der Ablehnung, bei der beispielsweise Papst Pius IX. die weltanschaulichen Hintergründe der entsprechenden Diskurse um die weltliche Anerkennung von Rechten Mitte des 19. Jh.s als Irrtümer und als Schaden für die Seelen verdammt (75, z. B. mit Verweis auf den Annex zur Enzyklika Quanta Cura). Bei der kritischen Würdigung dieser vorkonziliaren Phase argumentiert der Vf. mit Charles Taylor, Hans Blumenberg (und letztlich Hegel) für eine dialektische Spannung zwischen Brüchen und Kontinuitäten, zwischen (römisch-katholischer) Tradition und der Moderne der Menschenrechte (vgl. 122–129. Hilfreich ist der Überblick zum Verhältnis der Geschichte der profanen Rechtsansprüche und der entsprechenden kirchlichen Dokumentationen (vgl. 104).

Im dritten Kapitel wird die Begründung der Menschenrechte im Rahmen des Zweiten Vatikanischen Konzils untersucht. Der Vf. diskutiert dabei, wie weit diese Begründung trag- und anschlussfähig ist. Er wählt zur Vertiefung den Fokus der Enzyklika Pacem in Terris von Papst Johannes XXIII., welche im Geiste des Konzils verfasst worden ist. Dabei wird wiederum die Spannung zwischen den Hermeneutiken der Diskontinuität einerseits (das Konzil als Bruch mit der Tradition) und der Kontinuität andererseits (das Konzil als Erneuerung der Kirche) herausgearbeitet (z. B. 220).

Die Studie wechselt im vierten Kapitel zur Perspektive der völkerrechtlichen Praxis des Heiligen Stuhls. Hierbei wird zunächst das Verhältnis von Heiligem Stuhl und Staat als Vatikanstadt erklärt. Sodann werden die manifesten Interessen des Heiligen Stuhls im Horizont der Menschenrechtspolitik erläutert und einige eigentümliche Diskrepanzen diskutiert. Diese betreffen die Infragestellung der Universalität und Unveräußerlichkeit der Menschenrechte, indem die Kirche die Besonderheiten des Kanonischen Rechts, der Lehr- und Meinungsfreiheit in der katholischen Kirche wie auch die Konditionalität der Menschenrechte betont.

Von weltgesellschaftlicher Bedeutung sind die Hinweise auf die »unheiligen Allianzen« mit Akteuren, die ebenfalls an den Menschenrechten ihre Kritik finden. Dabei geht es beispielsweise um die Frage der Finalität der Menschenrechte, ob das Gemeinwohl die individuellen Rechte vollendet oder begrenzt. Auch die dezidierte Ablehnung neuer Menschenrechte und des Gender-Mainstreaming werden ausführlich in kritischer Absicht erläutert. So wird deutlich, dass der Heilige Stuhl eigenständige Narrative gegenüber den Menschenrechten entwickelt, die deren Geltung und Schutzfunktion untergraben (sogenannte Counter Frames; vgl. Überblick 314).

Im fünften Kapitel wird dagegen die Arbeit des Heiligen Stuhls als Katalysator des Menschenrechtsdiskurses diskutiert. Anhand von verschiedenen politischen Topoi wird deutlich, dass der Heilige Stuhl seinerseits problematische Narrative gegenüber den Menschenrechten entlarven und somit diese zu ihrem Potenzial führen kann. Der Vf. erläutert diese Strategie mit Blick auf Flucht und Migration, die Friedensthematik und den Zusammenhang mit den Schöpfungsrechten. Er stellt beispielsweise die Betonung der Abrüstung durch den Heiligen Stuhl und dessen positiven Friedensbegriff heraus, um somit die globale Rüstungspolitik einer Kritik zu unterziehen.

Im abschließenden sechsten Kapitel werden die Hauptfragen der Arbeit wieder aufgegriffen und einer eigenständigen Antwort zugeführt. Zum einen wird die Tragfähigkeit der katholischen Menschenrechtsbegründung und zum anderen die Konsistenz der menschenrechtlichen Praxis des Heiligen Stuhls ergebnisorientiert dargestellt. Letztlich sei der Heilige Stuhl dann effektiv, wenn er der entwickelten Menschenrechtsbegründung treu bleibe, er stärke somit seine eigene Glaubwürdigkeit und könne der Staatengemeinschaft wegweisende Impulse liefern.

Für die protestantische Ethik ist diese Arbeit ein Gewinn. Es werden weitreichende Detailinformationen der Genese der römisch-katholischen Menschenrechtsbegründung geboten und die geltungstheoretischen Paradigmenwechsel nachvollziehbar erläutert. Vor allem die praxeologischen Fragen der Rolle des Heiligen Stuhls bei den Vereinten Nationen sind für reformatorische Kirchen fremd. Hier greift ein politisches Selbstverständnis, das sie sich nicht aneignen, aber doch als Teil der globalen Religionslandschaft anerkennen werden müssen. Dabei stellt sich die Frage (an die Vereinten Nationen und den Heiligen Stuhl), wie die Religionen dieser Welt in ihrer radikalen Pluralität abgebildet und gehört werden können, wenn es um Menschenrechtsfragen geht. Die Möglichkeiten des Heiligen Stuhls sind nicht auf andere religiöse Akteure übertragbar. Welche anderen Modelle der religiös-kulturellen Beteiligung sind denkbar (z. B. UNAOC)? Diese Diskussion ist dringend weiter für die werdende Weltgesellschaft zu führen. Dazu leistet der vorliegende Band einen wesentlichen Impuls.