Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

März/2023

Spalte:

233–235

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Will, Rainer

Titel/Untertitel:

AnVerwandelt in Christus Jesus. Nachfolge aus der »täglichen Taufe« im Vaterunser.

Verlag:

Freiburg i. Br. u. a.: Verlag Herder 2022. 480 S. = Theologie im Dialog, 28. Kart. EUR 45,00. ISBN 9783451392283.

Rezensent:

Alexander Bischoff

Drei Kirchenväter tauschen sich begeistert über ihre geistlichen Entdeckungen aus: Für Tertullian ist im Vaterunser alles drin, das ganze Evangelium, alles was wir täglich zum Leben brauchen: breviarium totius Evangelii, die Kurzfassung des ganzen Evangeliums (Tertullianus). Augustin schwärmt, dass das Vaterunser so etwas wie eine kleine Taufe ist, die uns täglich erfrischen und waschen kann. In illa invenietis quasi quotidianum baptismum vestrum. Für ihn ist die oratio dominica sogar ein Sakrament, ganz wie die Taufe. Und Athanasius spricht von der Theosis (θέωσις, Vergöttlichung) als dem Lebensweg von Christen. »Der Logos ist vermenschlicht worden, damit wir vergöttlicht werden«. Die drei wären sicher so erstaunt wie erfreut zu sehen, dass nun ein Theologe aus dem 21. Jh. diese drei Hauptstränge des Evangeliums in ein kohärentes Ganzes integriert.

Rainer Will hat nach theologischen Studien in Trier, Jerusalem und München und einem Studium der Erziehungswissenschaften in Hannover promoviert, ist seit vielen Jahren in verschiedenen Funktionen in Köln tätig und hat nun seine kürzlich erschienene Dissertation als Buch herausgegeben. »Allerdings«, schreibt W., »muss diese Absicht als ein vermessenes Unterfangen erscheinen, denn es berührt drei Megathemen mit dem jeweils darunter liegenden Wurzelwerk: die Taufe, das Vaterunser und die mit dem Wörtchen ›täglich‹ intonierte Nachfolge« (18).

W. geht diese drei »Megathemen« in dem fast 500-seitigen Buch in mehreren Anläufen durch, um sie in ebenfalls mehreren Durchgängen immer wieder neu zueinander in Beziehung zu setzen. Verbindendes Element ist es, Jesus Christus »selbst als Glaubenden zu betrachten, als den Glaubenden nämlich, der unseren Glauben erzeugt« (32).

In Kapitel 1 wird vorbereitend der Kontext heutigen Glaubensvollzugs in einem säkularen Zeitalter skizziert, insbesondere Walter Benjamins »Anverwandlung« sowie Hartmut Rosas Begriffe »Resonanz« und »Unverfügbarkeit«. Dies erlaubt es W., seinen Grundgedanken der Umgestaltung und Verwandlung soziologisch und philosophisch einzubetten, um sodann einen Neologismus einzuführen, der in seinen Augen besser geeignet ist, das Hauptanliegen zusammenzufassen: AnVerwandlung, so geschrieben (d. h. mit einem großen und kursiven V), um Walter Benjamin nicht einfach »christlich zu vereinnahmen« (47). W. will einen Dreiklang zum Tragen zu bringen, jenen Dreiklang, der darin besteht, »im Glauben und in der Taufe schon dem Vaterunser-Glauben Jesu anVerwandelt zu sein, um daraus ›täglich‹ neu im Sinne der Herzensanliegen Jesu durch das Wirken Gottes anVerwandelt zu werden und (sich) selbst und die Welt anzuVerwandeln in der Kraft des Heiligen Geistes« (55). Der Neologismus nimmt viel Raum ein und wird oft wiederholt; leider ist er sprachlich nicht hörbar, dafür textbildlich unschön (und wird auch bei häufiger Erwähnung nicht schöner).

Kapitel 2 bietet einen ersten Durchgang durch die acht Teile des Vaterunsers (als »bibeltheologische Annäherung« an die Vaterunser-Bitten), wovon der erste Teil, die Vateranrede, für alle folgenden Bitten zentral ist: »am Ursprung der Liturgie steht das Gebet. Und hier gibt es einen kostbaren Rohdiamanten, den die Evangelien geschliffen und überliefert haben: Das Ur-Gebetswort, das nach allem, was wir erschließen können, aus dem Mund Jesu stammt: Abba.« (130, Margareta Gruber zitierend)

Kapitel 3 thematisiert Taufspiritualität und Theosis. »Der in der Taufe bzw. Taufglauben gesetzte Impuls des ›Christusglaubens‹ kann und will im je neuen (unverfügbaren) Resonanz- und Beziehungsgeschehen der ›täglichen Taufe‹ im ›täglichen Vaterunser‹ in ein glaubend, hoffend und liebend gelebtes Leben ›in Christus Jesus‹ und in der Kraft des Heiligen Geistes hineinführen und wirksam werden.« (149)

Kapitel 4 ist das Herzstück des Buches. Es verwebt die drei Themen – Vaterunser, Taufglaube und Theosis (zwar nicht Nachfolge, wie es der Buchtitel eigentlich verspricht) – zu einem neuen Ganzen. Hier werden die Vaterunser-Bitten nochmals ausführlich diskutiert, jetzt aber immer mit Blick auf die Tauf-Spiritualität einerseits und auf den Dreiklang von »verwandelt sein«, »verwandelt werden« und »verwandeln« andererseits. Das Schlusskapitel 5 ist ein Ausblick mit kirchlichen und missionstheologischen Schlussfolgerungen.

Ob die drei Kirchenväter das Buch mit den vielen Wortspielen, Wiederholungen und Fachausdrücken zuende gelesen hätten? Wahrscheinlich hätten sie es, dank ihrer himmlischen Intelligenz und heiligen Geduld. Der Rezensent hat zwar beides nicht, aber zuende gelesen hat er das Buch dennoch. Nur fragt er sich: Muss man im 21. Jh. so hölzern und gewunden schreiben? Muss man so in einer Dissertation schreiben? Wäre es nicht geschickter, bei einer solch spannenden Grundidee zu den drei Grundpfeilern des Glaubens die potenziellen Leserinnen und Leser mit einer zugänglichen Sprache zu gewinnen? Jean Paul mahnt, »den Leser auf seinen Schreibfingern [zu] tragen«. Der Rezensent ist ein wenig befrem- det, dass ein Autor so wenig Mühe auf sich nimmt, seine Arbeit vom Dissertationsjargon in eine angenehmere Sprache zu überführen (Pinchas Lapide sagt: »Im Grunde ist alles Sprechen Übersetzung«) und die doch recht zahlreichen Fehler (ganz besonders in den französischen Zitaten) auszumerzen. Ist es ein ungeschriebenes Gesetz, dass eine Doktorarbeit möglichst hochgestochen-akademisch daherkommen sollte? Ist es das, was ein Doktorvater einfordert? Oder ist es deutsche Gepflogenheit? In der englisch-sprachigen wissenschaftlichen Literatur wird jedenfalls viel mehr Wert auf eine verständliche Sprache gelegt – eine Sprache, die den Lesern nicht hochmütig zu verstehen gibt, dass sie nicht vom Fach sind. Trotz einer leisen Enttäuschung empfiehlt der Rezensent das Buch aber als gewinnbringende Lektüre auf zwei Arten:

Zum einen kann man es als Nachschlagewerk nutzen. Die meis-ten neueren Publikationen über das Vaterunser werden referiert, ebenso die vielen wichtigen Schriften aus Patristik und heutiger Theologie. Für die kirchliche Unterweisung könnte das Buch zu einem hilfreichen Arbeitsinstrument werden, es demonstriert, was andere Kirchenväter über das Vaterunser sagen: 1) Das Vaterunser ist »coelestis doctrinae compendium«: Leitfaden der himmlischen Lehre (Cyprianus). 2) Die Vater-Anrede und Bitten sind: »Grundlagen zur Erbauung der Hoffnung, Stützen zur Festigung des Glaubens, Speisen zur Erquickung des Herzens, ein Steuerruder auf den richtigen Weg und ein Hilfsmittel zur Behauptung des Heils« (Cyprianus). 3) »Wer das Vaterunser betet, dem wird der ganze Reichtum Gottes gegeben.« (Chrysostomos)

Zum anderen kann man das Buch als Meditations- und Gebetshilfe benutzen. Die unermüdlich kreisende Bewegung und Betrachtung der verschiedenen Bitten aus verschiedenen Blickwinkeln lädt ein dazu, lange bei einem kurzen Gebetssatz (wie bei einem Herzensgebet) zu verweilen, die dichten und vielschichtigen Bedeutungen zu verkosten. Das wäre ganz im Sinne von weiteren Kirchenvätern, die sich zum Geheimnis des Vaterunsers äußern: 1) Das Vaterunser ist die Stillung unserer Sehnsucht (Gregor von Nyssa). 2) Das Vaterunser rettet die Herde, wie Christus der Hirte vor dem Wolf rettet und sie auf die grüne Wiese führt (Sedulius). 3) Das Vaterunser ist eine Perle, die man hegen und pflegen sollte (Ambrosius). 4) Das Vaterunser ist der Geber aller guten Gaben (Tertullianus).

Eine Predigt von Theodor von Mopsuestia erlaubt es W., den Grundgedanken seiner Arbeit folgendermaßen auf den Punkt zu bringen (258): Das Vaterunser wird »von denen gelernt, erkannt und bewahrt, die sich dem Taufglauben genaht haben«. Beten heißt für ihn AnVerwandlung des Erbetenen ins tägliche Leben: »Wahres Gebet ist also der rechte Lebenswandel, die Liebe zu Gott, die Sorge um das, was er will.«