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Ausgabe:

März/2023

Spalte:

231–233

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Wegner, Gerhard

Titel/Untertitel:

Substanzielles Christentum. Soziotheologische Erkundungen.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2022. 376 S. m. Abb. Kart. EUR 38,00. ISBN 9783374070145.

Rezensent:

Detlef Lienau

Mit seinem neuen Buch »Substanzielles Christentum« hat sich Gerhard Wegner, bis vor Kurzem Leiter des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD, thesenstark in die Diskussion zur Lage der Kirche eingebracht. Die sechs Essays gehören zu einem eher ungewöhnlichen Genre theologischen Denkens. W. nimmt reichen Bezug auf soziologische Untersuchungen und empirische Befunde – und sichtet diese mit theologischen, ja normativen Interessen. Er entwickelt keine eigene Theorie – und hat doch theoretische Ambitionen. Alle Essays haben etwas Exploratives.

Inhaltlich – also im Blick auf die soziologische Lagebestimmung der Kirche und auf die daraus folgenden Handlungsempfehlungen – vertritt W. eine fast einzigartige Position und plädiert gleichzeitig für radikalen Umbau und für die Rehabilitation parochialen »Miefs«. Einerseits diagnostiziert er eine tief verankerte Krise der Kirche: Stichworte sind hier das »korporatistische Setting« mit fehlender Rückkopplung zwischen Mitgliedern und Institution im »staatskirchlichen System«. Dem entsprechen die »passive Organisation« von Kirchenleitungen und die Selbstgenügsamkeit der Gemeinden. Rettung gegenüber diesem »Instandhaltungsstau« läge in einem selbstbestimmten Ausstieg aus dem korporatistischen Setting, in einer Organisationsgestalt, die die Rückkopplungseffekte der Mitglieder strukturell einbezieht. Deutlich ist W. in seiner Kritik an der Selbstbezüglichkeit von Pfarrpersonen und Kirchenvorständen. Diese systemische Eigenresonanz blende nicht nur das Umfeld der Gemeinde aus, sondern auch große Teile der Gemeinde selbst. Zugleich solle es nicht um die Umsetzung von Erwartungen, also platter Nachfrageorientierung, gehen, da in der Regel keine hilfreichen Erwartungen an Kirche und Religion vorliegen. Zielführend sei allein eine an den Mitgliedern orientierte Angebotsorientierung.

Andererseits betrachtet W. »konservativ« gerade klassische kirchliche Sozialformen (Ortsgemeinde, PfarrerInnen, Hochverbundene) als wesentliche und wirksame Orte kirchlichen Lebens sowie Hoffnungsträger kirchlicher Regeneration. Religiöse Kommunikation gedeiht nur in kommunitären Formationen wie Gemeinde, Familie und ihren Ablegern. Gerade in dem oftmals ineffizienten Mief der Parochie und ihren organisationsresistenten Biotopen der Selbstgenügsamkeit vollziehe sich religiöse Sozialisation und Habitualisierung des Glaubens. Von den empirischen Befunden her spricht aus W.s Sicht nichts dafür, die Hoffnung auf Erneuerung in die unendlichen Weiten individueller Spiritualität zu richten. W. stellt sich die Zukunft des Christentums als eine Zukunft von glaubenden Gemeinschaften vor. Allerdings müssen diese Gemeinschaften in bestimmter Hinsicht »wachgeküsst« werden. So verbindet sich ein kritischer Blick auf die Gefangenschaft der Kirche in ihrer strukturellen Selbstgenügsamkeit mit einem Interesse an Potentialen gerade der klassischen Formen parochialen Lebens. W. denkt zusammen, was für gewöhnlich nicht zusammenge- hört – das ist als Kompliment gemeint!

Zwei Interessen schwingen im Titel »Substantielles Christentum« mit. Zum einen eine bewusste Kritik an allen Regenerationsversuchen, die auf die funktionale Nützlichkeit von Religion setzen: Religion wird sich nicht vitalisieren können, indem sie auf ihren Beitrag für den sozialen Zusammenhalt oder für den Wertefundus der Gesellschaft abhebt. Religion kann ihre Vitalität nur in Bezug auf ihre eigene »Substanz« finden. Folgerichtig interessiert sich W. – zum Zweiten – für substanzielles Christentum in heutigen sozialen Formationen. Dadurch kommt Vielfältiges in den Blick – individuelle Religiosität (»Ergriffenheiten«) und liturgische Praktiken ebenso wie die leiblichen, habituell aufzeigbaren Konsequenzen existentiellen Christseins, soziales Engagement als Raum religiöser Erfahrung (und nicht bloß deren Frucht) wie auch den kulturellen und sozialen Output von Religion. Damit werden die Hochverbundenen zu einem Forschungsfeld, insofern bei ihnen Religiosität anders als bei Distanzierten und Indifferenten empirisch ausweisbar ist. W. trägt erste Gesichtspunkte und Einzelstudien zusammen, die substanzielles Christentum in seinen Sozialformen untersuchen – noch nicht als fertiges System, sondern als Skizze und Denkrichtung.

Als Skizze firmiert auch sein Hauptartikel »Soziotheologie«. Hier geht es um eine konstruktive Zuordnung von Soziologie und Theologie. Üblich – und nicht immer hilfreich – sind nach W. Verhältnisbestimmungen, in denen die Theologie sich instrumentelle Hilfe bei der Soziologie borgt und ihr doch nicht auf Augenhöhe begegnet. Ideal wäre eine Theologie, die in einen selbstbewussten Dialog mit der Soziologie eintritt und umgekehrt eine Soziologie, die von der Theologie etwas erwartet.

Im Blick auf die Soziologie heißt das: Glaube wird nur wirksam, wenn Gott als in die Wirklichkeit eingreifend erfahren wird. Eine soziologische Sicht, die diese Logik ausblendet, erklärt das Reli- giöse weg, anstatt es in seinen sozialen Zusammenhängen zu verstehen. Umgekehrt braucht Theologie Soziologie, weil Reli- gion nicht (nur) vom Himmel fällt, sondern in Lebensformen und sozialen Zusammenhängen real wird. In seinen Überlegungen nennt W. methodische Ansprüche, disziplinäre Verhältnisbestimmungen, inhaltliche Referenzpunkte, offene Fragen und (mögliche) Erträge für die Kirche. Seine Überlegungen oszillieren zwischen den beiden Polen, dass ohne Soziologie Wirklichkeit nicht zu erfassen ist, und andererseits Religion unverfügbares Geheimnis bleibt, nicht in Funktionalität aufgelöst werden darf und sich als sozial nutzlos zunehmend aus der Gesellschaft entbettet – was dann vielleicht wieder den Raum bietet, dass sie überraschend und überschießend zur Geltung kommt.

Mit diesen Idealbestimmungen im Hinterkopf schlägt W. mehrere Schneisen: Durch die Geschichte der Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen, durch die reale kirchliche Situation der Gegenwart (charakterisiert durch den Wegfall ihrer vormaligen Existenzgarantie durch Staat und Gesellschaft) und durch exemplarische soziologische Analysen der neuen Situation. Hier ist besonders Luhmanns Aufsatz, der sich der möglichen Organisierbarkeit von Religion und Kirchen widmet, von Interesse. W. knüpft hier zugleich an und zieht Grenzen: Es ist (mit Luhmann) unabdingbar, dass sich Kirche von einer passiven in eine »aktive« Organisation verändert, sich also mit Anreizstrukturen und Rückkopplungseffekten zwischen Zielen und deren Erreichung organisiert. Es ist (ebenfalls mit Luhmann) unabdingbar, dass diese Ziele genuin theologisch, aus religiösen Einsichten heraus formuliert werden. Denn eine Ableitung aus nicht-religiösen, gesellschaftlichen Bedürfnissen heraus fördert nur die Selbstsäkularisation der Kirche. Aber gegen Luhmann pocht W. auf ein eigenes Theologiever- ständnis.

Daraus ergibt sich die spannende Pointe, dass bei allem Zwang zur Organisation wesentliche Bestandteile christlicher Religiosität unorganisierbar bleiben: »Ein Gottesdienst hat kein Ziel« (95). Entsprechend ist es das paradoxe Ziel kirchlicher Organisation, authentische Erfahrung und authentische Artikulation von Ergriffenheit, eine Art absichtliche Absichtslosigkeit, zu ermöglichen, zu fördern oder wenigstens nicht zu verhindern.

Wie ein Cantus firmus zieht sich durch W.s Überlegungen die Frage, ob Religion als ein soziales Epiphänomen oder ein Phänomen eigener Art behandelt wird. Dies ist eine Frage an die Soziologie, die oftmals Religion als primär abhängige Variable behandelt. Und es ist eine Frage an Theologie und Kirche, die diese Einschätzung mitunter übernimmt und glaubt. Dagegen plädiert W. immer wieder für eine selbstbewusste und also auch kritische Lesart soziologischer Entwürfe, in denen die Theologie ihre eigenen Einsichten in Gottes Wirksamkeit in der sozialen Realität nicht herunterspielt, sondern ernst nimmt – im Wissen, dass Religion und Kirche durchaus von vielen sozialen Faktoren abhängig sind. Auch hier denkt W. zusammen, was für gewöhnlich nicht zusammengehört: Die selbstbestimmte Handlungsmacht (»agency«) der Kirchen und der theologische Umgang mit der hohen Abhängigkeit der Kirche von externen Faktoren.

Dieser Bezug auf das »Eigene« der Religion führt bei W. zu ungewohnten Handlungsempfehlungen. Gegen viele derzeitige kirchenleitende Reformprozesse empfiehlt er eine missionarische Kirche: »Die Kirche muss jene Bedürfnisse, auf deren Befriedigung ihre Anerkennung beruht, erst einmal neu erzeugen« (66). Gegen eine Kirche, die von niemandem etwas erwartet und nicht an-ecken will, um niemanden zu vergraulen, fordert er: »Wir müssen wissen, was wir mit den Menschen wollen, und es ihnen auch sagen« (138).

W. ist in den gegenwärtigen Transformationsprozessen von Kirche mit großem Gewinn zu lesen. Sein Plädoyer für eine Stärkung von Religiosität und Theologie ist gerade darum anregend, weil er als ehemaliger Leiter des Sozialwissenschaftlichen Instituts nicht im Verdacht steht, dass dies auf Kosten der Wirklichkeitskompatibilität geht. Gerade seine Kenntnis der empirischen Daten führt ihn dazu, der Eigenlogik des Religiösen im Zusammenspiel mit soziologischer Wirklichkeitswahrnehmung Gewicht zu geben, damit tatsächlich eine Soziotheologie entsteht.