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Ausgabe:

März/2023

Spalte:

227–229

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Brand, Fabian

Titel/Untertitel:

Gottes Lebensraum und die Lebensräume der Menschen. Impulse für eine topologische Theologie.

Verlag:

Münster: Aschendorff Verlag 2021. 530 S. = Jerusalemer Theologisches Forum, 40. Kart. EUR 69,00. ISBN 9783402110690.

Rezensent:

Dirk Evers

Bei dem zu besprechenden Band handelt es sich um die Dissertation des katholischen Theologen Fabian Brand, die 2021 in Würzburg angenommen wurde. Es geht dem Vf. um den Versuch einer topologischen Theologie, die Gottes eigene Räumlichkeit als Grund für die topologische Struktur menschlicher Lebensräume zu verstehen sucht. Dabei bezieht sich diese Studie auf das, was gemeinhin spatial turn genannt wird, also auf die Wende in den Kultur- und Sozialwissenschaften, durch die der Raum, ausgehend vom geographischen Raum, weniger als territorial-physische denn als relational verfasste und durch kulturelles Handeln erzeugte Größe in den Blick genommen wird. Raum wird durch die soziale Praxis hervorgebracht und dient zur Etablierung von Machtansprüchen.

In seiner Einleitung beginnt denn der Vf. auch mit Bemerkungen dazu, dass und warum das Raumthema heute eine besondere Relevanz erhalten hat. Dem folgen Referenzen zu theologischen Beschäftigungen mit dem Raum. Besonders wichtig ist für den Vf. die Pastoralkonstitution Gaudium et Spes des Zweiten Vatikanischen Konzils, auf die er sich immer wieder bezieht, aber auch Arbeiten wie die von Ulrich Beuttler und Matthias Wüthrich aus dem protestantischen Raum oder Hans-Joachim Sander aus der katholischen Theologie. Er markiert aber überall auch Defizite, bei der protestantischen Theologie ganz allgemein ihre Fixierung auf die inner-protestantische Auseinandersetzung um die Ubiquitätslehre, die den Raum nach Meinung des Vf.s unterbestimmt als bloßen Container-Raum auffasst. Das wird dann im Übrigen ständig und teilweise bis zur Ermüdung als die tief-dunkle Negativfolie aufgerufen: alle Raumvorstellungen, die den Raum als bloßen, sterilen, blanken etc. Containerraum, als Schachtel für die Dinge, auffassen, sind als raumtheoretisch verhängnisvoll abzulehnen. Räume sind vielmehr sozial produziert, und in sie sind Machtstrukturen »eingeschrieben« (eine Containerraum-Metapher?).

Jedenfalls kann der Vf. mit guten Argumenten und unter Verweis auf eine Fülle verschiedener Analysen deutlich machen, dass der Ausgang von der sozialen Raumproduktion theologisch hilfreich sein kann, um Gott selbst trinitarisch als Raum denken und Gottesbegegnung im Raum beschreiben zu können. Gott ist selbst Lebensraum, und Gott eröffnet Lebensräume für die Menschen, lauten entsprechend die beiden Hauptthesen. Im Einzelnen geht er so vor, dass er in einem ersten Teil eine raumtheoretische Grundlegung erarbeitet, in der entscheidende Konzepte des spa- tial turn in theologischer Absicht aufgearbeitet werden. Es beginnt mit einigen sehr informativen Darstellungen raumtheoretischer Überlegungen aus dem Bereich der Geographie, die zu relationalen Konzepten des kulturellen Raumes weiterentwickelt wurden. Das verbindet der Vf. mit dem postcolonial turn, indem er das Konzept eines thirdspace von Edward Soja ausführlich vorstellt. Dabei ist ihm das Moment des Unableitbaren oder Überraschenden besonders wichtig. Mit Verweis auf Charles Sander Peirce beschreibt der Vf. die Bildung eines dritten Raumes, der aus dem konfliktreichen Gegenüber zweier durch Ausgrenzung markierter Räume entsteht, als einen Prozess der Abduktion. Im Unterschied zu Deduktion und Induktion kommt dieser nach dem Vf. ein Moment des Überraschenden, des Kreativen, der Möglichkeit zu, das der Struktur des dritten Raumes angemessen ist. Schließlich mündet der erste Teil in eine topologische Theologie, die in einem ersten Durchgang die Bedeutung der Raumkategorie für die Theologie erkundet. Hier wird mit den bis dahin gewonnenen Konzepten, vor allem dem thirdspace, gearbeitet, um in den biblischen Texten und in offiziellen Dokumenten der römischen Kirche den doppelten Bezug zur Raumfrage als theologische Aufgabe zu identifizieren: die Frage nach dem Wo der Gottesbegegnung und die Frage nach Raumkonstruktion, die diese Wo-Frage bestimmt.

Der zweite Teil der Studie ist dann exegetisch ausgelegt und möchte das biblische Zeugnis erkunden, das Gott als diejenige Instanz darstellt, die Lebensräume eröffnet. Es finden sich hier interessante und anregende Beobachtungen zu fünf biblischen Texten: zur Gotteserscheinung nach Ex 3, zur Krippe nach Lk 2, zum Kreuz nach Mk 15, zum Grab nach Joh 20 und zur Himmelfahrt nach Apg 1. Das Fazit ist jeweils, dass die Begegnung mit Gott einen Lebensraum für die Menschen eröffnet, der als thirdspace beschrieben werden kann. Und diejenigen, denen Gott so begegnet, sind aufgerufen, eben diesen Raum zu gestalten und offenzuhalten, um damit weitere Gottesbegegnungen zu ermöglichen. Der dritte umfangreichste Teil entwickelt dann zunächst ein trinitarisch gefasstes Modell Gottes als eines eigenen Raumes, den trinitarischen thirdspace. Ausgehend von Überlegungen von Matthias Wüthrich setzt sich der Vf. mit interpersonalen und monosubjektiven Trinitätskonzepten auseinander, zwischen denen er vermitteln möchte, indem er zum einen Gottes eigene Räumlichkeit dreifach als Schöpfungsraum, Offenbarungsraum und Verstehensraum entfaltet, zum anderen den göttlichen Raum im Sinne des thirdspace als hybride Raumproduktion versteht, die die trinitarische Grundfigur einer Einheit in Verschiedenheit neu zu fassen versucht. Auch hier kehrt die Formel wieder, dass der trinitarische Gottesraum »ein zutiefst sozial produzierter« Raum sei, der eben von dem »bloßen Container« eines »beziehungslosen Raum[s]« (416) abzusetzen sei. An einigen Stellen in diesem Teil wird eine gewisse Nähe des Vf.s zur Prozesstheologie deutlich, auf die in der langen Anmerkung 6 auf den Seiten 315–317 ausdrücklich Bezug genommen wird. Das ist nicht ohne Fallstricke, wenn etwa die soziale Raumproduktion sehr grundsätzlich auf den Schöpfungsraum bezogen wird, der nicht einseitig als produktives Handeln Gottes verstanden werden dürfe, sondern als eine Kooperation zwischen Schöpfer und Geschöpf anzusehen ist, so dass der Vf. »die Rede von creatio ex nihilo nicht sinnvoll nachvollziehen« (316) kann. Das wäre doch erläuterungsbedürftig. Es mag an dieser Stelle angemessen sein, auf eine Engführung hinzuweisen, die in der sozial-kulturwissenschaftlichen Perspektive begründet ist: der ganze Ansatz ist sehr anthropozentrisch. Lebensräume für andere Geschöpfe kommen kaum in den Blick und können nicht wirklich auf Gott und den Lebensraum des Menschen bezogen werden.

Dieser dritte Teil der Studie erörtert dann einen auf diese Räumlichkeit Gottes bezogenen Perichorese-Begriff, bei dem ein weiterer biblischer Bezug ins Spiel kommt, nämlich Jesu Erzählung vom barmherzigen Samaritaner. Damit wird der Übergang gefunden zu ethischen und ekklesiologischen Überlegungen. Der Vf. hebt hervor, dass aufgrund seiner Analysen eine abschließende Antwort auf die Frage nach dem Wo Gottes nicht gegeben, aber doch eine Kriteriologie entwickelt werden kann, wo sich Gottesbegegnung ereignen kann: dort, wo Menschen in Solidarität fürein-ander Lebensräume eröffnen und dadurch einen thirdspace auch für Gott produzieren. Auch wenn es Orte der Zusage göttlicher Präsenz wie den Tempel oder die Kirche gibt, erschließt sich Gott doch primär an den Rändern und durch die Öffnung dieser Orte zu denen hin, die ausgeschlossen sind. Das entfaltet der Vf. in Bezug auf die Kirche durch die Skizze einer perichoretischen Ekklesiologie, die eine binäre Codierung von Innen und Außen im Sinne des thirdspace überwindet.

Damit schließt sich der Bogen dieser anregenden Studie, die von allen mit Gewinn gelesen werden wird, die sich mit den Potenzialen einer topologischen Theologie nach dem spatial turn auseinandersetzen wollen. Ein kleines Manko ist das Fehlen eines Sachregisters, aber auch das mitgelieferte Namenregister ist unvollständig. So fehlen z. B. der Eintrag zu Homi Bhabha, mit dem sich der Vf. ausführlich auseinandersetzt, und der zu Eberhard Jüngel, der jedenfalls gelegentlich erwähnt wird.