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Ausgabe:

März/2023

Spalte:

225–227

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Müller-Friemauth, Friederike, u. Rainer Kühn

Titel/Untertitel:

Diesseits. Säkulare Religion für eine neue Welt.

Verlag:

Wien: Edition Konturen 2022. 320 S. Kart. EUR 28,00. ISBN 9783902968777.

Die Verheißung dieses Buches ist gewaltig: »Diese Gedanken sind ungeheuerlich – nicht nur für Sie, sondern derzeit auch noch genauso für uns.« (228) Faust kommt endlich zu seinem Recht! Was ihn einst »sogar einen Pakt mit dem Teufel schließen ließ, um ein letztes Mal aus diesem übervollen Seelenquell (der Mythen) zu schöpfen, das können wir heute wissenschaftlich selbst ins Visier nehmen und praktisch bewältigen.« (167) Denn der okzidentale Logos, die Differenz von Glauben und Wissen, habe abgedankt, wie überhaupt jedes »draw a distinction«. »Glaube ist nur eine andere Version von Wissen, nämlich spiritualisiertes.« (290) Beides sind Konstruktionen, anthropologische Möglichkeiten, die keinen Zugang zum Jenseits, gar zu Gott, mehr brauchen: »Wir entscheiden, woran etwas liegt: und zwar durch die Art, wie wir es befragen.« (294)

Die Triebkraft ist die – letztlich selbst gestaltete − Evolution, und zwar des Bewusstseins; sie bringe die säkulare, nur noch humane, Religion hervor: »Endlich dürfen wir uns selbst genügen!« (230) Gott hat uns einst geholfen, das gilt es anzuerkennen, aber nun muss alles selbst gestemmt werden. »Wir entscheiden unsere Evolution fortan in bewusster Spiritualität mit, im Abgleich mit unserer Technik.« (233) All das führt in Bereiche menschlichen Handelns, »die noch nie ein Mensch zuvor gesehen hat«. Was für die Natur bedeutet: Wir können »irdisch vollumfänglich adäquate Natur ›machen‹«, die besser ist als die, die wir kennen (228.256). Da staunt man, stimmt aber zu, wenn es heißt: »In rein instrumentalistischer Zurichtung unseres Handelns werden wir die ökologische Krise nicht bewältigen.« (282) Die neue Göttin ist die Evolution und wir können Anteil an ihrer Macht gewinnen, wenn wir uns auf ihr Wirken einlassen und den BIOS in den Mittelpunkt stellen. Einige unter uns, »Menschen mit außergewöhnlicher geistig-spiritueller Kraft« (177) haben schon erfolgreich in dieser Richtung gewirkt. Es brauche solche Heroen! Deswegen sollte man auf die Wutbürger achten (122).

Die gegenwärtigen Geistesgrößen aber bringen es nicht mehr. An dreien arbeiten sich die Autoren besonders ab. Charles Taylor verdiene überhaupt keine Gnade, denn ihm ginge es nur darum, die alte theologische Logozentriertheit weiterzuschreiben. Sein Motto könnte angeblich sein: »Menschsein allein genüge nicht« (183). Überhebliches Fazit: »Im Selbstgespräch eines gläubigen Katholiken Verständnis, gar Sympathie für Vorstellungen über eine spirituell begabte Weltlichkeit zu erwarten, ist auch wohl zu viel verlangt.« (185) Ähnlich brutal das Urteil zu Habermas: Ob seine Rekonstruktion der okzidentalen Vernunft »wahr sei oder nicht, ist uns ziemlich egal: Dieser Maßstab ist praktisch nicht relevant.« (202) Wozu kommt er denn dann hier überhaupt noch vor? Einzig mit Harari finden die Autoren einige Gemeinsamkeiten in der Versöhnung von kalter Wissenschaft und Technik mit dem Glück der Menschen in ihrer Transformation zu Göttern, zögern aber mit einer vollen Anerkennung, da Harari sich auf den Buddha bezieht und damit an Eigenwerte einer anderen Kultur anschließe, die, so heißt es knallhart, »zu unserer nicht anschlussfähig« ist (213). Seltsam! Denn ansonsten wird immer wieder auf die Gemeinsamkeiten von Orient und Okzident hingewiesen.

Klar ist: Die alten metaphysischen Überzeugungen Europas sind erledigt. Das Projekt Vernunft sei schlicht autologisch konstruiert: »Weil wir qua rationalem Denken etwas durchgearbeitet haben, hat das Ergebnis den Status Vernunft verdient. Wir schließen also das Werkzeug mit der Sache kurz, das ist des okzidentalen Pudels Kern.« (51) Rationalität gilt damit zumindest als unterkomplex. Das gelte insbesondere für die Problematik der Kausalität. Auch das verwundert, denn stellt nicht die beschworene Evolutionstheorie, der Stern der Erlösung, geradezu den absoluten Gipfel solcher Rationalität dar? Aus einer Reihe von Indikatoren konstruiert sie ein Narrativ, das alles und jedes in seinen Bann schlägt. Wenn man schon eine Inventur der rationalen Welt vornimmt, müsste man doch gerade hier beginnen. Die alten Mythen über den Anfang der Welt mit Göttern, Heroen und Königen waren viel wärmer.

Aber es gibt auch noch einen neueren, gefährlicheren Gegner: die pazifischen Protagonisten des Silicon Valley. Dort läuft das alte logozentrische Programm aggressiv weiter in Richtung der Singularität. Neuester Schritt: Zellen zu schaffen, die man wie Computer programmieren könne: »der Königsweg in die human-spirituelle Katastrophe« (259). Denn hier werde das für den BIOS konstituierende Bindungs- und Beziehungsparadigma des Menschlichen ausgesetzt: Es gebe dann kein Ich und Du mehr. Subjektivität wäre technisch herstellbar. Dagegen muss Europa angehen und darf sich nicht technologisch unterkriegen lassen. »Als ob sich der Mensch durch sein Tun von seiner Existenz erlösen könnte; was für ein irrer Gedanke.« (265) Descartes würde endlich triumphieren!

Bewusstsein sei eine Verknüpfung, eine Beziehungsstruktur und nicht eine Summe von Einzelgehalten (124). »Das das Ich-Bewusstsein flankierende Logos-Modell ist für neues Denken viel zu einseitig und unterkomplex.« (143) Das Ich sei ein Ergebnis und kein Ausgangspunkt. Da wird man zustimmen – aber auch fragen, woher die Autoren das denn eigentlich so genau wissen – immerhin geben sie zu, dass die Weltreligionen dieses Wissen kultivieren, sogar die Liebe! (125) Der okzidentale Gott – eine »Horrorgeschichte« (155) − desensibilisiere unser Bewusstsein gegenüber Leben und den anderen und verankere den Menschen außerweltlich, was angeblich Liebe, Fürsorge, Natalität usw. tilgen würde. Es wundert nicht, dass Begründungen dafür fehlen.

Bei allem Erstaunen über die kritikwürdigen gewaltigen Ansprüche dieses Buches muss man anerkennen, dass sich die Autoren auf einen weiten Weg gemacht haben und ihn noch nicht zu Ende gegangen sind. Auch soll die Vernunft nicht abgeschafft, sondern in den Dienst des BIOS gestellt werden. Vieles bleibt offen, auch die Macht der Evolution: »Es könnte eine besondere Kraft oder Energie der Evolution geben.« Aber sie müsse menschengerecht sein, »für uns passen« – was eher zauderlich klingt. Und so ist das Buch auch eine große Suchbewegung von »Alpha« (Zusammenfassung zu Beginn) bis »Omega« (Ausblick) in 40 Abschnitten, in denen die großen Narrative traktiert werden: Vorgeschichten, Menschengeschichten, Vernunft-, Bewusstseins-, Religions- und Wissenschaftsgeschichten sowie Zukunftsgeschichten. Die Perspektive ist radikal: »Die Situation des Planeten lässt die alten Transzendenzrituale (Glaube, Liebe, Hoffnung) nicht mehr zu. Dazu ist die Situation zu ernst.« (165) Auch die Menschenrechte zählten dazu.

Nicht immer erscheint in diesem Buch alles klar zu sein, vieles ist rein thetisch und nicht wenig unsauber und ungerecht. Auch fehlen ernsthafte Auseinandersetzungen mit einem theologisch verantworteten Gottesverständnis oder auch dem immer wieder anklingenden Buddhismus. Hier könnte vieles sehr viel besser »kalibriert« werden (ein Lieblingswort der Autoren). Auch vermisst man Exkurse in aktuelle Systemtheorie oder z. B. zu Bruno Latour. All das liegt an dem ungeheuren, prophetischen Drive des Buches. Man wünscht ihm noch viele Kritiken!