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Ausgabe:

März/2023

Spalte:

223–225

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Lamm, Julia A

Titel/Untertitel:

Schleiermacher’s Plato.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2021. XXI, 255 S. m. 8 Tab. Geb. EUR 79,95. ISBN 9783110694895.

Rezensent:

Andreas Arndt

Julia A. Lamm ist in den letzten beiden Jahrzehnten bereits mit einer Reihe von Aufsätzen zu Schleiermachers Platon-Rezeption hervorgetreten; die jetzt vorliegende Monographie führt ihre bisherigen Forschungen auf der Basis des neuesten Standes der Edition und Diskussion zusammen und erweitert sie zu einem fundierten Gesamtbild. Das Buch bietet ein umfassendes und differenziertes Bild von Schleiermachers Platon-Interpretation und zugleich eine gründliche Auseinandersetzung mit der bisherigen Forschung. Das Buch setzt damit neue Maßstäbe und kann ohne Zweifel als das neue Standardwerk zum Thema gelten.

Der Titel – »Schleiermacher’s Plato« – ist so zu verstehen, dass der Fokus auf der Bedeutung Platons für Schleiermacher und seiner spezifischen Interpretation Platons liegt und nicht in erster Linie danach gefragt wird, inwiefern Schleiermacher zum Verständnis Platons beigetragen habe (vgl. 3 f.). Das Buch ist, der Einleitung zufolge (8), in zwei Hauptteile gegliedert. Der erste (Kapitel 2 bis 4) steht unter der Fragestellung »How did Schleiermacher understand Plato?«, wobei Schleiermachers Einleitungen zu seinen Platon-Übersetzungen als Leittext dienen, die hier erstmals umfassend auf ihren systematischen Gehalt hin überprüft werden. Der zweite Hauptteil (Kapitel 5 bis 7) fragt dann, »[i]n what ways might Schleiermacher’s religious thought have been influenced by Plato?« Dabei vertritt L. die These, dass Schleiermachers Denken zwar von Platon beeinflusst sei, jedoch durch einen von ihm in spezifischer Weise und nicht unbedingt im Rahmen seines eigenen Denkens interpretierten Platon, so dass nicht von einem Platonismus Schleiermachers, sondern eben von »Schleiermacher’s Plato« zu sprechen sei (8).

In der Einleitung wird zunächst eine instruktive Übersicht über Schleiermachers lebenslange Beschäftigung mit Platon geboten, bevor dann mit dem zweiten Kapitel speziell das von Friedrich Schlegel angeregte und anfangs zusammen mit ihm verfolgte Projekt der Platon-Übersetzung in den Mittelpunkt gerückt wird. Anhand der allgemeinen »Einleitung« Schleiermachers im ersten, 1804 erschienenen Band der Platon-Übersetzung arbeitet L. vier zentrale Themen heraus:

a) Schleiermacher knüpfe an Wilhelm Gottlieb Tennemanns Platon-Deutung insofern an, als er Platon nicht mehr vom Neuplatonismus her verstehen will; anders als Tennemann wolle er aber Platons Philosophie immanent rekonstruieren und weniger äußere Zeugnisse und historische Spuren zum Verständnis bemühen (vgl. 35).

b) Schleiermacher verstehe Platon als Künstler und die Dialoge als ein artistisches Ganzes, das sich einer pädagogischen Absicht – der schrittweisen Hinführung auf die Prinzipien – verdanke (vgl. 39 f.).

c) Die Form der Darstellung sei entsprechend der Dialog, der nicht eine exoterische Form der Darstellung sei (wie die Vertreter der These von der ungeschriebenen Lehre Platons meinen), sondern, in Schleiermachers Worten, »bildende Dialektik« (43) und damit der pädagogischen Zielsetzung entspreche.

d) Hieran orientiere sich schließlich auch die Bestimmung der Folge und Authentizität der Dialoge durch Schleiermacher, der jedoch – fälschlicherweise – den Phaidros als den frühesten bestimmt, weil er die Keime zu allen anderen Dialogen enthalte. Trotz dieser irrigen Annahme, so L., sei jedoch auch in der neueren Forschung die zentrale These Schleiermachers, dass Platons Denken eine sys-tematische Einheit bilde, wieder affirmiert worden (53).

Das folgende dritte Kapitel widmet sich vor allem der hermeneutisch-kritischen Arbeit Schleiermachers an Platon vor dem Hintergrund der von Tennemann und Friedrich Schlegel in ihrer Platon-Deutung verwendeten kritischen Verfahren. Gegen Tennemann bestehe Schleiermacher darauf, dass »the literary needed to be balanced by the internal or literary«, gegen Schlegel, dass »the literary needed to be balanced by historical investigations and philological details” (62). L. zeigt überzeugend und detailliert, dass und wie Schleiermacher die Grundlagen seiner Theorie der Hermeneutik und Kritik in der Übersetzung und Interpretation Platons entwickelt und erprobt. Der Gegensatz zu Friedrich Schlegel, dessen Notizen zu einer »Philosophie der Philologie« Schleiermacher sehr gut kannte, wird dabei jedoch stark überzeichnet: Schlegels Standpunkt ist nicht nur der eines »new criticism«, sondern der eines einheitlichen hermeneutisch-kritischen Prozesses, der in eine transzendentalphilosophische Dialektik mündet. Allenfalls ließe sich sagen, dass Schlegel der von ihm selbst geforderten philologischen Mikrologie in seinen Skizzen zu Platon nicht entsprochen habe. Auch Schleiermacher hielt indessen Hermeneutik und historische Kritik nicht, wie von ihm angemahnt, im Gleichgewicht, indem ihn sein hermeneutisches Prinzip des »Keimentschlusses« und einer daraus folgenden einheitlichen Entwicklung dazu verleitete, irrigerweise den Phaidros als den frühesten Dialog anzusehen und von dort aus eine Folge der Dialoge zu konstruieren, die, wie L. einsichtig macht, ein pädagogisches Fortschreiten als Entwicklungs- und Ordnungsprinzip unterstellen (78 ff.). Dabei erfülle nicht das Dialogische die propädeutische Funktion, sondern der Mythos, der dann durch die dialektisch vermittelte Einsicht abgelöst werden müsse (81). Die systematische Struktur der Philosophie Platons sei schließlich dadurch geprägt, dass der Dialektik zwei Reihen von »realen Wissenschaften« zugeordnet werden, nämlich Physik und Ethik (82). Damit projiziert Schleiermacher (worauf L. hier nicht ausdrücklich hinweist) seine eigene Systemkonzeption auf Platon, obwohl die Dreiteilung in Dialektik, Physik und Ethik sich erst später bei Xenokrates findet.

Das vierte Kapitel befasst sich anschließend mit Schleiermachers Interpretation der platonischen Dialektik, die, Hinweisen Schleiermachers folgend, als »spekulative« Dialektik angesehen werden könne (87 f.). Dabei wird besonders hervorgehoben, dass es eine notwendige Verbindung von Dialektik und dialogischer Form gebe, die zugleich den Gegensatz gegen die sophistische Dialektik markiere (90); im Rahmen der propädeutischen Entwicklung gehe es darum, vom Mythos zur wissenschaftlichen Form fortzuschreiten (welche den Mythos aber nicht ersetze; 90), wobei dieser Fortschritt zugleich die Reihen der Physik und Ethik zu entwickeln habe. Die Dialektik gehe aus von einem Impuls (Eros, Trieb), der methodisch bearbeitet und zur Darstellung gebracht werden müsse, wobei die Mitteilung der Forschung folge. Während bei Platon das spekulative Moment vielfach an den Mythos gebunden sei, nehme Schleiermacher den Mythos als Ausgangspunkt des dialogisch-dialektischen Prozesses und wehre damit letztlich die spekulative Dialektik ab, wobei L. betont, dass sie auf die Gründe hierfür, die sie in Schleiermachers eigener Dialektik-Konzeption vermutet, nicht weiter eingehen könne (105 f.).

Damit ist auch eine Grenze der vorliegenden Untersuchung bezeichnet, denn das im engeren Sinne philosophische Umfeld der Schleiermacherschen Platon-Rezeption bleibt (wie schon im Blick auf F. Schlegel erwähnt) weitgehend abgeschattet. Hierzu be- dürfte es in der Tat weiterer Untersuchungen im Anschluss an die S. 5 genannte, aber nicht wirklich ausgewertete Monographie von Christoph Asmuth. L.s Interesse gilt vor allem dem Verhältnis der Platon-Studien zur Theologie Schleiermachers, dem sie in den folgenden Kapiteln in eindringlichen Interpretationen zu Die Weihnachtsfeier. Ein Gespräch (1804) und zur zweiten Auflage der Reden über die Religion (1806) nachgeht. Vor allem im Blick auf die Reden stellt der detaillierte Nachweis der Beziehungen zu Schleiermachers Platon-Interpretation einen bedeutenden Erkenntnisfortschritt dar. Zu Recht betont L. auch in den abschließenden Bemerkungen, dass Schleiermacher einen »modernen« Platon präsentiere (231); dies im Blick auf Schleiermachers in Halle und Berlin entwickeltes philosophisches System zu zeigen, bleibt trotz der in vieler Hinsichten bahnbrechenden Arbeit L.s ein Desiderat der Forschung, aber auch hierfür legt ihr Buch vielfach bereits einen soliden Grund.