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Ausgabe:

März/2023

Spalte:

222–223

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Hüning, Dieter, u. Stefan Klingner [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Hermann Samuel Reimarus (1694–1768). Natürliche Religion und Popularphilosophie.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2022. IX, 420 S. m. 1 Abb. = Werkprofile, 18. Geb. EUR 129,95. ISBN 9783110652130.

Rezensent:

Albrecht Beutel

Der seit 1728 am Akademischen Gymnasium Hamburg wirkende Altphilologe und Philosoph Hermann Samuel Reimarus (1694–1768), der 1761 in die Petersburger Akademie der Wissenschaften berufen wurde, hat sich zu Lebzeiten vornehmlich durch seine drei Hauptwerke »Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion« (1754), »Vernunftlehre« (1756) und »Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Thiere« (1760), die im 18. Jahrhundert jeweils mehrere Auflagen und Übersetzungen erfuhren, als ein ponderabler, selbstständiger Denker bekannt gemacht. Dagegen ist er im 19. und weithin auch im 20. Jahrhundert fast ausschließlich als Verfasser der erst 1972 vollständig publizierten »Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes«, von der im Jahrhundert der Aufklärung lediglich die von Gotthold Ephraim Lessing herausgegebenen, den umfangreichen, heftig geführten Fragmentenstreit auslösenden sieben »Fragmente eines Ungenannten« (1774–1778) auf den Markt kamen, rezipiert und erforscht worden.

Der vorliegende Band verfolgt das Ziel, die angedeutete wirkungsgeschichtliche Asymmetrie zu überwinden und dem denkerischen Werk des Reimarus insgesamt gerecht zu werden. Er fußt auf den Erträgen zweier Konferenzen, die im Frühjahr 2018 in Frankfurt/Main und Göttingen stattfanden. Gegenüber den meisten wohlfeil gängigen Tagungsdokumentationen weist der Band den nicht zu unterschätzenden, sich als exemplarisch empfehlenden Vorzug auf, dass er die Vortragsmanuskripte nicht unverändert, sondern »unter Berücksichtigung der gemeinsamen Diskussionen auf den beiden Tagungen in – zum Teil stark – überarbeiteter Form« (15) präsentiert.

Die drei ordnungspragmatisch unterschiedenen, das Gesamtwerk des Reimarus sinnvoll strukturierenden Kapitel führen jeweils fünf gelehrte Spezialbeiträge zusammen. Den Auftakt bilden Studien zu dessen »Logik und Erkenntnislehre«. In unterschiedlichen Ansätzen wird dabei die »Vernunftlehre« als ein bislang weit unterschätzter, chronologisch zwischen Christian Wolff und Immanuel Kant lozierter eigenständiger Ansatz gewürdigt. Von erheblichem philosophiehistorischen Interesse erscheint, ohne die anderen Beiträge irgend geringschätzen zu wollen, der plausibel ausgeführte Versuch von Sebastian Abel, die konzise Füllung des Begriffs der »gesunden Vernunft«, der sich im Denken des Hamburger Gymnasialprofessors tatsächlich als ein logisch fundiertes interdisziplinäres Integral erweist, aus dem Gesamtwerk des Reimarus zu erheben (87–101).

Das zweite Kapitel widmet sich der »Bibelkritik und Rationaltheologie« des Hamburger Gelehrten. Obgleich das damit bezeichnete Themenspektrum bislang am intensivsten erkundet worden ist, fördern auch die hier gebotenen Beiträge etliche neue, innovative Einsichten zutage, beispielsweise zu der von Reimarus entwickelten, noch immer fast ganz übersehenen, jedoch wissenschaftshistorisch und -theoretisch ungemein bedeutsamen »kritischen Hermeneutik« (123–175; Holger Glinka). Problematisierungs- oder widerspruchswürdig dürfte es allerdings erscheinen, wenn und wie Wilhelm Schmidt-Biggemann die pauschale These ausführt, Reimarus habe mit seiner »Apologie« die faktische »Zerstörung des Christentums durch kritische Philologie« (177–194) vollzogen, und es am Ende, reichlich unkritisch, nur noch »verwunderlich« nennen kann, dass trotz aller Aufklärung »das Christentum dennoch existiert« (194) – ohne in positionell ungebundener Wahrnehmungs- und Urteilsfreiheit zu erwägen, ob sich ein spätneuzeitliches Christentum nicht auch in seinerseits kritischer Aneignung der kritischen Reimarus-Einwände intellektuell zu behaupten vermochte.

Von »Naturphilosophie und Anthropologie« handelt das dritte Kapitel. Aufschlussreich werden dabei zentrale Aspekte von Reimarus’ Kosmologie, Ethologie und Teleologie freigelegt und erörtert. In theologiehistorischer Perspektive mag die feinsinnige Studie von Stefanie Buchenau besonderes Interesse erheischen, die umsichtig und detailliert darlegt, wie sich der originelle Beitrag des Hamburger Denkers in die von Johann Joachim Spalding folgenreich ausgelöste (vgl. 336–338), in der Spätaufklärung breit geführte »Debatte über die Bestimmung des Menschen« (335–358) einordnen lässt.

Der »Anhang« des in vielerlei Hinsicht instruktiven, weithin eindrucksvollen, aufklärungshistorisch interdisziplinär einschlä- gigen Bandes bietet neben Zeittafel, Siglenverzeichnis und Personenregister auch eine zweigeteilte »Bibliografie«. Deren erster, »Reimarus‘ Schriften« erfassender, das 1979 vorgelegte Reimarus-Schriftenverzeichnis aktualisierender Teil (393–404) stellt ein höchst verdienstvolles historiographisches Werkzeug bereit. Auch die danach gebotene, sinnvoll untergliederte Liste der »Forschungsliteratur« (404–413) lässt sich nutzbringend gebrauchen, sobald man sich daran gewöhnt hat, dass die hier rubrizierten Titel nicht alphabetisch nach Verfassernamen, sondern chronologisch nach ihrem Erscheinungsjahr aufgeführt sind.