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Ausgabe:

März/2023

Spalte:

217–219

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Hartung, Gerald [Hg.]

Titel/Untertitel:

Die Philosophie des 19. Jahrhunderts. Bd. 1/1: Deutschsprachiger Raum 1800–1830. = Grundriss der Geschichte der Philosophie.

Verlag:

Basel: Schwabe Verlag 2020. XXI, 552 S. Lw. CHF 220,00. ISBN 9783796540905.

Rezensent:

Simon Schüz

Dieser Band gehört zur völlig neu bearbeiteten Ausgabe des alt-ehrwürdigen »Ueberwegs«, einem Standardwerk zur Geschichte der Philosophie. Er behandelt die deutschsprachige Philosophie im Zeitraum 1800–1830 und ist der erste von insgesamt drei Bänden zum »langen 19. Jahrhundert« im deutschsprachigen Raum, die folgenden zu den Jahren 1830–1871 und 1871–1914/18 sind in Vorbereitung.

Bereits die Anlage des Bandes weist einen weiten historischen Horizont aus, mit dem er sich von den üblichen philosophiegeschichtlichen Darstellungen absetzt. Dort wird unter dem Etikett »Deutscher Idealismus« meist eine lineare, doxographisch verengte Fortschrittsgeschichte von Kant (über Fichte und Schelling) zu Hegel erzählt. Solchen Verengungen gegenüber enthält der Band informative Beiträge zu oftmals marginalisierten Figuren (wie Jakob F. Fries, Karl Chr. Krause und Bernard Bolzano) und zu erstrangigen Denkern, die oft anderen Fakultäten (Friedrich D. E. Schleiermacher und Wilhelm von Humboldt) oder der außerakademischen Philosophie (Arthur Schopenhauer) zugeschlagen werden. Neben den personenbezogenen Beiträgen stehen Diskurse bzw. Netzwerke im Vordergrund: Mehrere Beiträge sind philosophischen Debatten gewidmet (über den Status der Naturphilosophie; den philosophischen Realismus; das Verhältnis von Kunst und Philosophie; zwischen Beneke und Herbart über die Grundlegung einer empirischen Psychologie) und Schulbildungen (die Fichte, Schelling- und frühe Fries-Schule). Dieses Konzept schlägt sich auch quantitativ nieder: Von 530 Seiten entfallen etwa die Hälfte auf Beiträge zu überindividuellen Zusammenhängen (inklusive der umfangreichen Einleitung) und die andere Hälfte auf personenbezogene Beiträge.

Die Weitung des historiographischen Horizonts ist auch das Ziel der sehr lesenswerten und informationsgesättigten Einleitung des Herausgebers G. Hartung. Sie behandelt auf 97 Seiten die »institutionellen Bedingungen der Philosophie und die Formen ihrer Vermittlung« im langen Jahrhundert von 1800–1914/18, mit Seitenblicken auf Österreich und die Schweiz, aber dem tendenziellen Fokus auf Preußen. Hartung verbindet die Philosophiegeschichte mit der Sozial-, Kultur- und Wissenschaftsgeschichte sowie der Medien- und Institutionengeschichte. Die entsprechenden Leitmotive der Darstellung sind der Weg der Philosophie von der Universalwissenschaft zu einer geisteswissenschaftlichen Fachdisziplin unter anderen, der Aufstieg und Niedergang des Bildungsbürgertums und seiner neuhumanistischen Bildungsidee, die funktionale Ausdifferenzierung der Wissenschaften im staatlich finanzierten Bildungssystem Preußens, die prägende Rolle kosteneffizienten Buchdrucks und des florierenden Zeitschriftenwesens.

Die Gliederung der anderen Beiträge lässt die in der Einleitung hervorgehobenen historiographischen Aspekte jedoch in den Hintergrund treten. Beiträge zu Personen sind in die Rubriken Leben, Werk, Lehre, Wirkung gegliedert und auf die Gesamtcharakteristik eines jeweiligen Lehr- und Denkgebäudes fokussiert. Beiträge zu Debatten sind gegliedert in die Abschnitte Einleitung, Debatte und Wirkung, wobei die Darstellungsweise nach Chronologie, Personen und Themen jeweils unterschiedlich ausfällt. Jeder Beitrag umfasst eine eigene Bibliographie zur Primär- und Sekundärliteratur.

Für Bezüge zur Theologie besonders hervorzuheben sind die systematisch durchgebildeten und detailliert informierenden Beiträge zu Schleiermacher, Schelling und dem religionsphilosophisch oft übergangenen Bolzano. Ferner hervorzuheben sind die Beiträge zu Fries, dessen Begriff der »Ahndung« u. a. bei Martin Leberecht de Wette und Rudolf Otto wirkmächtig rezipiert wurde, und zu Krauses »Panentheismus«. Die Beiträge zu Fichte und Hegel blenden die Zentralstellung des Christentums in ihrem Denken zwar nicht aus, gehen aber vergleichsweise wenig ins Detail. Unterbelichtet bleiben die Bezüge zur Religion im Beitrag zum »philosophischen Realismus«, der den für Jacobi zentralen Zusammenhang von Sein, Gott und Glauben nicht thematisiert.

Ein wichtiges Verdienst des Bandes ist die Vernetzung von Denkern und Rezeptionslinien. Im Dienst dieses Anliegens operieren die Beiträge zur Fichte- bzw. Schelling-Schule mit einem weit ausgelegten, in Ermangelung von Selbstbeschreibungen angreifbaren Schulbegriff, erschließen dafür aber Zusammenhänge, die kaum erforscht wurden (»Fichte-Schule«) oder einer Heuristik bedürfen (so das Dickicht des Naturphilosophie-Diskurses, der als »Schelling-Schule« aufgeschlüsselt wird). Auch die Beiträge zu Debatten erörtern nicht bloß ausdrücklich geführte Diskussionen, sondern kartographieren Diskursfelder. Hier seien drei Beiträge exemplarisch genannt. M. Koßler rekonstruiert die eher subkutan geführte Debatte zum Verhältnis von Kunst und Philosophie entlang eines systematischen Rasters, in das zahlreiche Protagonisten subtil und mit einigen rezeptionsgeschichtlichen Korrekturen (bes. zum Rang Solgers) eingeordnet werden. P. Ziche entfaltet ein überzeugendes, wissenschafts- und institutionengeschichtlich kontextualisiertes Panorama, das von spezifischen systematischen Fragen ausgeht, die Kants vereinheitlichender Begriff von Naturwissenschaft sowie seine Theorie polarer Kräfte aufwerfen, und ihre Weiterentwicklung im Streit um spekulative versus empirische Naturerkenntnis nachzeichnet. V. Pluder zeigt an der Debatte zwischen Herbart und Beneke, welche Herausforderungen die Ablösung von der rationalistischen Psychologie einerseits und die produktive Anknüpfung an Kant andererseits beinhaltete.

Die Beiträge zu kanonischen Figuren fallen unterschiedlich aus. Der Beitrag zu Fichte entfaltet dessen Denken sowohl in der Breite seines Werkes als auch systematisch kohärent und nachvollziehbar; ähnlich ist es bei Schelling. Der Beitrag zu Hegel hingegen betont die Breite von dessen Denkmotiven so stark, dass er sie eher beschreibt als systematisch entwickelt und so ohne Vorkenntnisse schwerer zu durchdringen ist.

Bei aller Weite des Horizonts fallen zwei Lücken auf. Beiträge zu (und von) Frauen fehlen; Henriette Herz, Caroline Schelling, Rahel Varnhagen von Ense und Dorothea Veit werden bisweilen am Rande erwähnt, erst jüngst neu entdeckte Philosophinnen wie Karoline von Günderrode gar nicht (s. Nassar/Gjesdal 2021). Der Komplex deutsch-jüdischer Philosophie, der Anti-Judaismus der »Idealisten« und ihre Rezeption der Kabbala (s. Franks 2010) werden ebenfalls entweder nur am Rande oder gar nicht beleuchtet; so wird z. B. der systematisch weitreichende Einfluss Salomon Maimons nur an einer Stelle angedeutet (vgl. Franks 2005, Melamed 2004).

Die Bibliographien der Beiträge fallen sehr unterschiedlich aus. Wie auch bei anderen Bänden des »Grundrisses« besteht die Sekundärliteratur tendenziell aus älteren und eher wenigen Titeln. Gerade die Bibliographien zu Fichte, Hegel und der Realismus-Debatte übergehen die englischsprachige Forschung weitgehend und führen enttäuschend wenige Sekundärtitel auf; die zu Bolzano, Krause und der Naturphilosophie-Debatte hingegen sind kompendienhaft. Die umfangreichen Listen von Primärliteratur hingegen sind ein wichtiges Forschungswerkzeug, ebenso die hilfreichen Regis-ter zu Personen und Sachen.

Der neue »Ueberweg« empfiehlt sich somit als wichtiges und umfassendes Nachschlagewerk für Forschung und Lehre, das die bestehenden Darstellungen zur klassischen deutschen Philosophie um einen historisch wie historiographisch erweiterten Horizont ergänzt.