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Ausgabe:

März/2023

Spalte:

214–217

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Benoist, Jocelyn

Titel/Untertitel:

Von der Phänomenologie zum Realismus. Die Grenzen des Sinns.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2022. XXIV, 177 S. = Reality and Hermeneutics, 1. Geb. EUR 49,00. ISBN 9783161613890.

Rezensent:

Burkhard Liebsch

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Ferrer, Guillermo, Gourdain, Sylvaine, Garrera-Tolbert, Nicolás, u. Alexander Schnell [Hgg.]: Phänomenologie und spekulativer Realismus – Phenomenology and Speculative Realism – Phénoménologie et réalisme spéculatif. Würzburg: Königshausen & Neumann 2021. 248 S. = Orbis Phaenomenologicus Perspektiven. Neue Folge, 33. Kart. EUR 29,80. ISBN 9783826074127.


An Aufforderungen, sich auf das wirklich Wichtige zurückzubesinnen, war in der Philosophie des 20. Jhs gewiss kein Mangel. Darunter die viel zitierte Devise Husserls: »Zurück zu den Sachen«, so wie sie sich einem »reinen«, allerdings geradezu weltlosen Bewusstsein darstellen. Hans Blumenberg kommentierte diesen Ansatz ironisch mit dem Buchtitel: »Zu den Sachen und zurück«. Wohin aber − wenn nicht zur intentionalen Gegebenheit, wie sie einem solchen Bewusstsein gegeben sind, dann etwa zur Lebenswelt (Husserl), zum leiblichen Dasein als Modus ursprünglichen Zur-Welt-Seins (Merleau-Ponty), zum Konkreten (J. Wahl), zum tätigen Leben (Arendt) oder zu dem, was sich in Wahrheit »zwischen uns« abspielt (Levinas) und uns rückhaltlos exponiert (Nancy)? Ohne auf vorangegangene Diskussionen um diese Frage Bezug zu nehmen, setzt Jocelyn Benoist noch eins drauf mit der Parole »Zurück zur Wirklichkeit« (61), die zwar auch in dem, was jeweils als wirklich gilt (131 f.), von unaufhebbarer Vieldeutigkeit zu sein scheint, aber in einem »Zeitalter der Entrealisierung«, wo alles Meinung oder Spur von Subjektivität zu werden droht, gerettet werden müsse (127 f.). Was sich so auf den ersten Blick kulturkritisch ausnimmt, wird hier energisch gegen die Phänomenologie der Subjektivität gewendet, die als »bedingungslose Quelle von Sinn« dargestellt wird, welche anscheinend ihrerseits ohne reale Bedingungen auskommt (128.131). Insofern gilt sie geradezu als »wirklichkeitsvergessen« (65), nachdem B. meint gezeigt zu haben, dass es verfehlt wäre, von jeglichem, was »es gibt«, zu erwarten, es müsse »sinnhaft« in Erscheinung treten und sich dabei jenem Bewusstsein offenbaren. Das Reale zeichne sich aber keineswegs durch Präsenz und ebensowenig durch jene Abwesenheit aus, die Derrida gegen die Phänomenologie ins Feld geführt hat, schreibt B., als ob das einfache Alternativen wären (XIV). Seitdem werde Phänomenologie im Grunde nur noch von »letzten Mohikanern« betrieben (XX); und der deutsch-französische (philosophische) Dialog sei allenfalls noch zwischen Habermas und Derrida gepflegt worden (XXI), also bei Autoren, die in den 1960er Jahren ihre philosophischen Werke (nicht etwa runde zehn Jahre früher) begonnen hätten. Von der lange nachwirkenden und erst weit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zur vollen Entfaltung gekommenen Husserl-Rezeption durch Levinas (seit 1929), Sartre und Merleau-Ponty lässt das ebensowenig etwas ahnen wie von der frühen Jaspers-Rezeption durch Dufrenne und Ricœur noch während des Krieges, vom viel späteren Dialog Gadamers mit Derrida oder von deutsch-französischen Gedankengängen entlang von Lyotard, Castoriadis und vielen vielen anderen, wie man sie bei B. Waldenfels seit ca. 1970 bis in die Gegenwart hinein antrifft − nach wie vor verpflichtet auf den Sinn einer Philosophie, die aus Erfahrung hervorgeht und von ihr handeln muss, soll sie nicht in einen rückhaltlosen Konstruktionismus münden, der sich die Begriffe Welt und Wirklichkeit nahezu nach Belieben zurechtlegen könnte.

Dagegen stellt B. eine »große Reinigung des Sinns« in Aussicht, indem er darauf besteht, Sinn gebe es nur auf der Basis von Realität, die sinnfrei vorliegen könne (106.148). Worauf auch immer man sich »sinnhaft« oder »sinnvoll« beziehe, müsse bereits in irgend-einer Weise real gegeben sein. So gerät B. in die Nähe eines phänomenologischen Grundbegriffs, den er jedoch bei Phänomenologen missbraucht findet, die, wie er meint, einen ursprünglich vom wechsel- und gegenseitigen Geben her zu verstehenden Vorgang ungebührlich desozialisieren (3 ff.). Im Geben aber zeige sich, dass das Gegebene ein Etwas sein müsse, das als solches auch wirklich sei (5). Die Phänomenologie aber beziehe sich letztlich gar nicht auf das so verstandene Geben, sondern auf die bloße Gegebenheit als die »bloße Tatsache, dass etwas gegeben wird«. Sie sehe vom »eigentlichen« Geben (das B. offenbar als soziales verstanden wissen will) ab bzw. betrachte es als bloßen Sonderfall des allgemeinen Gegebenseins überhaupt. Die weitläufigen, von Marion und Hénaff, Godelier und Callié bis hin zu einer »gewissen Ethnologie« (Sahlins, Mauss) zurückreichenden Debatten um das Geben, um Gaben, deren Gegebenheitsweisen, Asymmetrien und Reziprozitäten überspringt B., um genau umgekehrt anzusetzen: Im Rekurs auf ein primäres, keinesfalls schon »soziales« Haben einer Gegebenheit, die als ontologischer Boden schon vorhanden sein müsse, bevor intentional, eventuell auch fälschlicherweise, auf etwas abgezielt bzw. etwas sinnhaft konstituiert werden könne. Dieser Boden verdiene den Titel des »(wirklich) Gegebenen« (14), das allein letztlich verbürge, dass »die Welt wieder[zu]gewinnen« sei gemäß »unserem bereits gegebenen Kontakt« mit ihr, der als solcher »hinzunehmen« sei. Das klingt sehr nach Wittgenstein, der das Gegebene einmal als das Hinzunehmende bestimmt hat.

Aber ist es nicht allenfalls im Modus einer vor-philosophischen Naivität unseres Zur-Welt-Seins hinzunehmen? Und das auch nur, weil es geradezu unvermeidlich ist, solange wir unsere Erfahrung nicht kritisch befragen? Das will B. nun nicht wie Husserl auf dem Weg einer regelrechten »Weltvernichtung« (Ideen I; § 49) tun, sondern indem er zunächst alle seine Grundbegriffe »grammatikalisiert«. Dabei wird ihm das eigene normale bzw. normalisierte Idiom unversehens zur Norm. Er moniert nämlich Verstöße gegen die übliche Grammatik des Gebens und schärft seinen Lesern ein, zu den »Sachen« sei nur von den »normalen« Wörtern aus ein Weg zu finden (3.27). Diesen auch einer linguistischen Phänomenologie bekannten Weg, wie ihn Ricœur im Anschluss an Austin mehrfach in Betracht gezogen hat, verlässt B. allerdings selbst, wenn er es für »offensichtlich« hält, »dass der Geist sehr verschiedene Einstellungen gegenüber seiner Umwelt einnehmen kann« (12). Das ist gewiss keine ganz »normale« Rede, bedenkt man nur, wie der Begriff der Umwelt seit etwa hundert Jahren eine biologische Deutung nahelegt und wie oft schon dagegen Einspruch erhoben worden ist, die Welt(en) der Menschen in einer bloßen Umwelt aufgehen zu lassen.

So will B. wie schon einige andere vor ihm mit dem »Mythos des Gegebenen« (McDowell) aufräumen. Ein Gegenstand sei eine Norm, nichts Gegebenes (31 f.). Dann aber wird Realität definiert als eine Sache, die ist, was sie ist. Als Wirklichkeit sei sie nicht wahr oder falsch. »Sie ist, das ist alles.« Das soll sich ohne Weiteres aus der »Grammatik der Realität« ergeben, nicht aus derjenigen der Intentionalität (38). Kann das entsprechende normalisierte Reden von Realität aber so jenen Mythos überwinden, oder fällt es nun seinerseits auf einen Mythos der Realität zurück? »Wirklichkeit ist immer nur das, was sie ist«, das sei gerade »ihre Definition«, lesen wir hier (56). Und doch könne kein Gegenstand ohne entsprechende Auffassung Gegenstand sein (39, 73), auch dann nicht, wenn er in seiner »Selbstheit« erfasst wird. Gemeint ist vermutlich eher die als Reidentifizierbarkeit zu begreifende Selbigkeit der Dinge (33). Auch diese erfordert, etwas als dasselbe zu erfassen, was es nicht ohne unser Zutun sein kann (71). Wenn unser Zutun im Spiel ist, muss es keineswegs darauf hinauslaufen, über das so oder so Aufgefasste, Wahrgenommene oder anders in Erfahrung Gebrachte zu verfügen. Vielfältig ist bereits gezeigt worden, wie sich in unserer Erfahrung Abwesendes, nicht Gegenwärtiges, jeglicher Phänomenalität sich Entziehendes und sie Übersteigendes abzeichnen kann, darunter auch die Alterität Anderer, die für B.s Fragen nach Grenzen des Sinns allenfalls dort und indirekt zum Thema wird, wo diskutiert wird, wie das, »was wir in unserer Lebensform ›Wahrnehmung‹ nennen« (35), als Soziales zu verstehen ist. Bezieht Wahrnehmung sich auf Reales mit Realitätssinn und Realitätsprüfung, so bleibt sie doch vielfach darauf angewiesen, sich »als real bestätigt« zu finden (25). Als Gegenstand gilt dann eventuell die Antwort auf die Frage »Was siehst du?« (40) − vorausgesetzt, man hat sich überhaupt ins Gespräch miteinander begeben und öffnet sich für abweichende »Sichtweisen«. Nur dann kann sich auch die »Mehrdimensionalität von Realität« und die »Familienähnlichkeit« von Wirklichkeiten abzeichnen (22), die sich keineswegs durchweg epistemisch »verifizieren« lassen. Die Wirklichkeit Anderer wird jedenfalls viel eher durch deren Wirksamkeit bezeugt als bewiesen.

Auch hier zeigt sich: Die von B. im Sinne einer »Zweiten Philosophie« verlangte Klärung des Wirklichkeitsbegriffs (75 f.) bekommt es mit vielfältigen, zu kontextualisierenden Bedeutungen dieses Begriffs zu tun (85) − wie auch seit Platon (Sophistes; 255e−259d) die Rede von allem, was »ist«, und dem in irgendeiner Weise »Sein« zugesprochen wird. Geht es dabei aber nur darum, auszugrenzen und zu »brandmarken«, was nicht als wirklich gelten soll, und in diesem Sinne darum, das Sagen zu haben, unter dessen »Guillotine« (80 f.) andere Wirklichkeiten fallen müssten? So gerät man in radikal polemisches Fahrwasser.

Wer bestimmt dann kritisch, welche Wirklichkeit wirklich »wirklich« ist − zumal wenn »die Bestimmung« von Wirklichkeit niemals »in der Wirklichkeit selbst zu finden« ist (94 f.)? Ist das nur ein Problem der Relevanz (83.92), dessen also, was für wen als wirklich zählt (97), nicht zuletzt auch politisch? Können dabei wirklich »alle mitreden« (101)? Oder sollten sie es dürfen, gegebenenfalls auch ohne dabei die geringsten Voraussetzungen zu erfüllen, wenn sie etwa »alternative Fakten« ausposaunen, ohne an abweichenden Perspektiven Anderer überhaupt Interesse zu haben? Wie auch immer wir Realität höchst unterschiedlich erfahren, auslegen, deuten und interpretieren mögen (von einer hermeneutischen und machttheoretischen Dimension von Wirklichkeit verrät B. fast nichts) − wenn sie »nie schlechterdings ›die unsrige‹ sein« kann (103), so liegt das nicht zuletzt daran, dass sie weder auf eine aperspektivische objektive Welt zurückzuführen, noch auch in einer Pluralität von unaufhebbaren Perspektiven aufzulösen ist (vgl. 119). Das wiederum mag daran liegen, dass diverse Wirklichkeiten keineswegs einfach auseinanderfallen oder bloß nebeneinander »gegeben« sind, sondern lateral miteinander verflochten sein können, um infolgedessen Übergänge zu ermöglichen. Davon, dass gerade diese diesseits des Rheins in weitläufigen, auch für die Kulturwissenschaften wichtigen Forschungen erkundet worden sind, verrät B. nichts. Unter der Überschrift der mit B.s Monographie eröffneten Buchreihe Reality and Hermeneutics der Bonn Studies in the New Humanities verliert man so jeden Bodenkontakt gerade mit den benachbarten Wissenschaften. Neu ist hier, wie so oft, vieles vor allem deshalb, weil man das »Alte« einfach glaubte außer Acht lassen zu können oder, in diesem Fall explizit, gar mit dem »Hochdruckreiniger« wie Schmutz beseitigen zu sollen.

Anders und darum lesenswert verhält es sich mit dem von Guillermo Ferrer u. a. herausgegebenen Band zum Verhältnis von »Phänomenologie und spekulativem Realismus« zumindest bei einigen, weit weniger geschichtsvergessenen Beiträgen, wo sie etwa vom naiven Realismus ausgehen (128), der so ganz naiv möglicherweise gar nicht ist, wenn er von sich aus auf Spuren von Brüchen im Wirklichen führt. So in mannigfaltigen Befindlichkeiten, in Erfahrungen des Betroffen- und Ausgeliefertseins (166.168), die, wie Canguilhem gezeigt hat, im Schmerz ein negatives, fragendes Erstaunen herrufen können: Warum widerfährt dies mir oder Anderen? Warum so? Warum schier endlos? Wie passt der in langes Leiden übergehende Schmerz zu einer Welt, die keine finale Aussicht auf Heilung bietet − und zwar im Horizont einer physikalisch zu beschreibenden »Realität ohne Sinn« (149), die sinnfrei zu sein scheint, aber nicht »sinnlos« sein muss? Wie Löwith gezeigt hat, setzt dieses Prädikat Erwartungen voraus, die enttäuscht wurden. Und solche Erwartungen können nur Subjekte hegen, die es mit einer ihnen widerstehenden und sich ihnen widersetzenden Wirklichkeit zu tun bekommen. Von Maine de Biran über Hölderlin und Hegel bis hin zu Dilthey und Merleau-Ponty wurde geltend gemacht, im Rekurs auf die vielfältige Erfahrung von Widerstand allein sei zu klären (153), welches »Problem« wir ursprünglich mit Realem haben, das niemals im Bezug aufgeht, in dem wir zu ihm stehen oder in den wir uns verstricken. In der asubjektiven Phänomenologie Patočkas, an die Gaitsch anknüpft, findet man die menschliche Subjektivität bereits depotenziert zu einer Teilhaberschaft an einem Erscheinungsgeschehen, das sich an ihr zwar abspielen muss, das sie aber nicht allein sich selbst verdankt (158) und das sie gewiss nicht schon auf der Basis einer ersten, naiven Realitätsgegebenheit der Realität der Welt im Ganzen versichert (161). Mit dieser Aufgabe ist heute jede Disziplin überfordert, wie es auch schon das klassische Modell des Kreises der Wissenschaften deutlich macht. Demnach sind wir aus der Natur (wie auch immer genau) hervorgegangen und können infolgedessen in mannigfaltigen Wirklichkeit(en) »zur Welt sein«, die uns nicht von sich aus lehrt, was sie als solche eigentlich ausmacht. So bleiben wir auf einen sozialen Prozess der Auseinandersetzung in dieser Frage verwiesen, dessen Auf- und Unabgeschlossenheit auch Philosophen ein Anliegen sein sollte; zumal in einer Zeit, in der sich allzu viele damit hervortun, ganz allein darüber befinden zu können, was real, wirklich und wirksam, was Tatsache ist und was den Titel »Sein« verdient.

Man kommt nicht umhin zu fragen, ob sich nun auch »neue Realisten« an diesem fatalen Spiel beteiligen wollen, um das von ihnen festgeschriebene Verständnis von Realität und Sein als einzige Alternative zu einer Zeit zu offerieren, der man nicht zuletzt mit Blick auf Philosophen von Nietzsche bis hin zu Lyotard und Deleuze zum Vorwurf gemacht hat, den Sinn dieser Begriffe weitestgehend aufzulösen und sich infolgedessen an populistischer Willkür mitschuldig gemacht zu haben, der das nur als willkommener Vorwand dienen dürfte. Dabei stehen Populisten gar nicht in dem Ruf, sich der mühsamen Lektüre philosophischer Texte zu unterziehen. Umgekehrt sind deren Leser und Autoren offenbar nicht davor gefeit, ihrerseits das Sagen haben zu wollen, wenn es darum geht anzugeben, was wirklich ist und was als solches »zählen« sollte. Wie fast immer ist der Gebrauch gewisser Metaphern, vor allem solcher der Reinigung, ein Warnzeichen in dieser Richtung.