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Ausgabe:

März/2023

Spalte:

210–213

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Köpf, Ulrich

Titel/Untertitel:

Frömmigkeitsgeschichte und Theologiegeschichte. Gesammelte Aufsätze.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2022. XI, 775 S. Lw. EUR 89,00. ISBN 9783161610042.

Rezensent:

Martin Ohst

Seit 2018 hat Ulrich Köpf in rascher Folge drei Bände mit gesammelten Aufsätzen publiziert, deren Titelformulierungen materiale Gegenstandsbereiche seiner Forschungsarbeit anzeigen – mit Tübingen den wichtigsten Ort seines eigenen Lernens und Lehrens; mit Mönchtum, Reformation und den Verbindungen zwischen beiden Hauptgebiete seiner bisherigen Lebensarbeit. Die titelgebenden Leitbegriffe des hier anzuzeigenden vierten Aufsatzbandes markieren nun nicht Forschungsgebiete, sondern Forschungsperspektiven, deren Erschließungspotential sich auf die Gesamtgeschichte der christlichen Religion als einer in sich lebendig bewegten Ganzheit erstreckt. Die 36 Studien sind bis auf zwei, die hier erstmals erscheinen, zuerst zwischen 1980 und 2019 gedruckt worden. Ihre Themen stammen aus allen Perioden der Kirchengeschichte von der Antike bis in K.s Lebenszeit hinein.

Viele der Aufsätze sind aus Vorträgen für interdisziplinäre Auditorien hervorgegangen; besonders diese Texte erweisen K.s bemerkenswerte Fähigkeit, Einzelphänomene und -probleme mit wenigen, souveränen Strichen in umfassende Zusammenhänge einzuzeichnen und damit auch Nicht-Spezialisten deren Bedeutsamkeit nahezubringen. Das corpus der Texte bilden dann jeweils Einzeluntersuchungen, in denen er den Leser auf seine weit ausgreifenden und tief eindringenden Erkundungsgänge durch die Quellen mitnimmt. Seine eigenen Untersuchungen loziert K. durchgängig präzise in den jeweiligen Forschungsdiskussionen – insgesamt sind die Fußnoten des Bandes eine Fundgrube, sowohl was bisweilen ganz exquisite Quellenbelege als auch die weit über den deutschen Sprachraum hinausgreifenden Bezugnahmen auf die Forschungsliteratur anbelangt. Polemische Auseinandersetzungen sind K.s Sache nicht; umso mehr sticht ein Aufsatz hervor, der eine letzthin in der Lutherforschung mit beachtlicher Breitenwirkung vorgetragene Position nach allen Regeln der Kunst »annihiliert«, wie Fichte das genannt hätte (Martin Luther und Johannes Tauler, 515−539, hier erstmals gedruckt).

Statt die Themenfülle dieser Aufsatzsammlung abzubilden, indem ich das Inhaltsverzeichnis reproduziere, werde ich an einigen sachlich-methodischen Charakteristika das in allen diesen Studien sichtbare Profil des Forschers und Denkers Köpf andeuten. Er selbst weist einleitend auf seine »stark ausgeprägten systematischen Interessen« (Vorwort, I) hin. Diese zielen jedoch nicht auf die Errichtung oder Verteidigung eines geschlossenen Lehrsystems, sondern sie bezeichnen »einen nach Zusammenhängen forschenden und auch die Wahrheitsfrage stellenden sach- und problembezogenen Umgang mit theologischen Inhalten, der sich grundlegend von der philologisch-exegetischen Untersuchung von Texten und von der historischen Rekonstruktion von Sachverhalten unterscheidet.« (648) Diese Unterscheidung ist nicht kategorial zu verstehen, sondern im Sinne einer dem Historiker-Theologen gestellten Doppelaufgabe: Wenn er seine Quellen nach den Regeln der his-torischen Kunst zum Sprechen gebracht hat, kann und muss er das, was sie durch ihn seinem Leser sagen, kritisch durchdenken. Mit Emphase vertritt K. das Programm einer historisch-kritischen Theologie, welche die christliche Religion einschließlich ihrer auch, aber beileibe nicht allein biblisch dokumentierten Vorgeschichte als einen historisch zu verstehenden Komplex von Phänomenen versteht, der von Anfang an untrennbar verflochten ist mit anderen Strängen der vor- und außerchristlichen Mentalitäts-, Religions- und Geistesgeschichte. Gern beruft er sich für diese Programmatik – mit dem von ihm ebenfalls hoch geschätzten Emanuel Hirsch (119−148) – auf F. Chr. Baur, dessen Tübinger Lehrstuhl er als siebenter Nachfolger von 1986−2007 innehatte. In offener Abstandnahme von dessen und seiner Schüler geistesgeschichtlicher Konzentration weiß K. sich aber ebenfalls einigen sich religionsgeschichtlichen Fragestellungen zuwendenden Kirchenhistorikern an der Wende vom 19. zum 20. Jh. verbunden. Zu diesen zählen auch die Protagonisten der Religionsgeschichtlichen Schule. K.s Wertschätzung für deren Systematiker, Ernst Troeltsch, hält sich jedoch in Grenzen. K. konstatiert bei ihm ein unausgewogenes Verhältnis zwischen zeitdiagnostisch-polemischen Interessen und historischen Kenntnissen; so habe seine (und seiner katholischen Gewährsleute) verzerrende Fixierung auf den Aquinaten sich noch in späteren Generationen verhängnisvoll auf das Mittelalter-Bild der deutschen evangelischen Theologie ausgewirkt (164−183; pointiert 196−201).

Dass sich in der Kirchengeschichtsschreibung eine dezidiert religionsgeschichtliche Betrachtungsweise nur im Bereich der Antike zu bewähren vermochte, ist nach K. sicher auch der »Macht des Trivialen« zuzuschreiben, deren Berücksichtigung er in der Theologiegeschichtsschreibung Emanuel Hirschs vermisst (147 f.): Johannes v. Walter, der als Mediävist dauerhaft sichtbare Spu- ren in der Forschungslandschaft gezogen hat, ist bei der Umset- zung seines Programms einer frömmigkeitsgeschichtlich zentrier-ten Gesamtdarstellung der Kirchengeschichte gescheitert (Nr. 2, 28−39).

Die von K. favorisierte und praktizierte historisch-kritische Theologie hat ihre Basis nicht in einem normativen Datum, etwa der Bibel, sondern in den Zeugnissen gelebter Frömmigkeit, des »unmittelbaren religiösen Lebens und Erlebens« (Vorwort, I); die Theologie versteht sie folglich als Reflexionsgestalt gelebter Frömmigkeit, als universale und unabschließbare Denkbewegung im Spannungsfeld von »Wirklichkeitserfahrung und Wahrheitsbewußtsein« (148), und das heißt, »daß eine christliche Theologiegeschichte nicht mit den ersten faßbaren Reflexionen eines christlichen Theologen, des Apostels Paulus, beginnen darf, sondern stets auch die vorchristliche Theologie berücksichtigen muß« (475). Die paulinische Theologie ist also ebenso wenig wie die hypothetisch rekonstruierte Verkündigung Jesu das Evangelium, sondern sie ist wie diese eine Reflexionsform des Evangeliums. Sie verweist auf ihren Ursprung in der lebendigen Frömmigkeit zurück: »Theologie – auch die der mittelalterlichen Scholastik oder der altprotestantischen Theologie – steht immer im Dienst des religiö-sen Lebens« (113, Anm. 49). Und sie weist über sich selbst hinaus in ihrerseits unabsehbare Rezeptions- und Reformulierungsgestalten: Paulus figuriert als der erste christliche Theologe, nicht aber als Schöpfer der Normgestalt aller christlichen Theologie.

Das Evangelium ist keine formelhaft fixierbare Größe, sondern Dynamik, die nur in ihren fortwährend in Bewegung befindlichen Reflexionsgestalten fassbar ist. Die Intensität, mit der K. den vor- und außertheologischen Spuren dieser Dynamik in der gelebten Frömmigkeit nachgeht, sucht ihresgleichen. Unter den acht hierfür primär einschlägigen Studien (Nr. 11−18), deren Themenspektrum von Heinrich dem Löwen bis zu den spätpietistischen Ausläufern der Blut- und Wundentheologie reicht, sticht noch einmal die über »Produktive Frömmigkeit« (209−251) hervor: Sie geht auch im Unterholz der Populärkultur und auf den Pfaden der Religiösen Volkskunde den Wachstums- und Wucherungsprozessen nach, welche bis ins 19. Jh. hinein im Katholizismus die meditierte Passionsgeschichte mit immer neuen brutalen und bizarren Episoden angereichert haben – mit dem Ziel, den in sich verdienstlichen bzw. zu verdienstlichem Handeln motivierenden Mitleidsaffekt hervorzurufen, lebendig zu halten und zu steigern. Während die meisten Zunftgenossen solche Phänomene wohl allenfalls anlässlich von Mel Gibsons »The Passion of Christ« (2004) kurzzeitig wahrgenommen und sich alsbald angewidert abgewandt haben, hat sich K. nicht nur durch riesige Materialmengen gewühlt, sondern aus ihnen auch eine beachtliche Zahl von wichtigen Beobachtungen gewonnen.

Den Gegenpol hierzu bilden K.s Arbeiten zur Theologiegeschichte, die von einer präzisen Ortsbestimmung dieser Disziplin innerhalb der Historischen Theologie unterfangen sind: Hochstufige Reflexionsgestalten der Frömmigkeit tendieren zur Verfestigung; sie werden jedoch durch die produktive Dynamik neu aufbrechender Reflexionsgestalten des Evangeliums immer wieder verflüssigt – im Zusammenspiel mit Bewegungen der allgemeinen Geistesgeschichte. Angesichts dieses strukturnotwendigen Dauerkonflikts verfolgt K. die Konzeption einer Theologiegeschichte, welche sich dezidiert von der Dogmengeschichte unterscheidet (Nr. 6, 100−118, K.s Tübinger Antrittsvorlesung). Die Letztere, entstanden als Hilfswissenschaft der Dogmatik, bleibe, ob kritisch oder affirmativ, kirchlich-autoritativen Lehrsetzungen verhaftet. Sie richte ihre Aufmerksamkeit mit Vorzug auf solche Gestalten theologischen Denkens, die für den Auf- oder Abbau solcher institutionellen Verfestigungen von Bedeutung waren; sie nehme die Gesamtleistungen großer christlicher Denker nur insoweit zur Kenntnis, als sie in dieser Weise wirksam geworden sind (s. die Exemplifikationen an Origenes, Theodor von Mopsuestia und Luther 112 f.) und vernachlässige dagegen zwangsläufig das innere Sinngefälle und die besondere Denkstruktur der einzelnen Entwürfe. K. hält jene dogmengeschichtliche Betrachtungsweise weder für falsch noch für irrelevant. Er plädiert allerdings dafür, sie der an Institutionen orientierten Kirchengeschichte zuzuweisen und damit Bewegungs- und Entfaltungsfreiheit für eine Theologiegeschichte zu schaffen, die sich der allgemeinen Geistesgeschichte öffnet und die Einzelentwürfe und Schulbildungen nach ihrem inneren Sinngefälle je an ihrem Ort zu würdigen weiß.

K. wäre allerdings gründlich missverstanden, wenn man ihm vorwürfe, er betreibe Theologiegeschichte gleichsam im luftleeren Raum: Das Gegenteil ist der Fall. Auf Schritt und Tritt macht er darauf aufmerksam, dass Frömmigkeitsbewegungen und theologische Gedankenbildungen nur im Rekurs auf ihre Ursprünge in konkreten sozialen Bedingungsgefügen verständlich sind. Leitmotivisch wird das an seinen Verweisen auf den Typus monastischer Theologie deutlich: Das Leben unter dem Abt nach der Regel im Kloster war nicht das primäre Thema, sondern das Ursprungsmi-lieu eines theologischen Denkens, das sich weniger am Leitbild eines in sich intellektuell konsistenten Gesamtverständnisses von Gott und Welt, Mensch und Geschichte ausrichtete, sondern theologische Aussagen auf die Lebens- und Erfahrungswirklichkeit des Subjekts, also auf die gelebte Frömmigkeit hin formulierte und interpretierte. Diese Einsicht, die am Beginn seines wissenschaftlichen Weges stand, erhebt K. ins Allgemeine, und von ihr geleitet spürt er den Fäden nach, welche die Theologiegeschichte mit der Bildungsgeschichte verbinden – hier kommt also auch die Institutionengeschichte zu ihrem Recht.

Besonders die Studien über Protagonisten reformatorischer Theologie bezeugen den Erkenntnisgewinn aus dieser methodischen Weichenstellung. So räumt K. gründlich auf mit der gängigen dogmatisch-biblizistischen Überfrachtung der Denomination von Luthers Wittenberger Lehrstuhl (540−555); er weist nach, wie schon die Erstgestalt von Melanchthons Loci und dann erst recht deren spätere Entwicklungsstufen die besonderen Bedingungen und Zielsetzungen seiner Berufspraxis als akademischer Lehrer widerspiegeln und macht damit den Übergang von der reformatorischen Theologie zur konfessionellen Orthodoxie geschichtlich verständlich (647−671.672−698). An Nikolaus von Amsdorff zeigt er, wie ein mittelmäßig begabter Hochschullehrer allmählich in seiner Berufspraxis zum wirksamen Multiplikator reformatorischer Theologie wurde (627−646).

Ein Musterstück der Theologiegeschichtsschreibung unter bildungsgeschichtlichem Blickwinkel ist K.s Plädoyer für eine aus der Fixierung auf die Kontroverse zwischen Luther und Erasmus sich lösende Wahrnehmung des Humanismus als eines verständnisnotwendigen Koeffizienten in der Genese des reformatorischen Christentumsverständnisses (459−477); im Forschungsüberblick fällt auf, dass Dilthey und der in dieser Hinsicht von diesem abhängige Troeltsch fehlen.

In einer Zeit, in der Theologie gern in vereinfachender bzw. vergröbernder Aufnahme von Formulierungen Schleiermachers affirmativ als ›Funktion der Kirche‹ apostrophiert wird, fällt es auf, mit welcher Deutlichkeit K. leitmotivisch die Konfliktträchtigkeit dieses Verhältnisses hervorhebt. In einem souveränen Überblick schildert er das Verhältnis von Theologie und Kirchenleitung von den Anfängen bis ins Mittelalter als Geschichte von Konflikten (413−449): Das kirchenleitende Interesse an Theologie konzentriert sich – ganz legitim! – auf die Gewinnung und Sicherung von identitätssichernder Lehre, während die Theologie – ebenso legitim! – vorrangig und selbstzweckhaft auf Erkenntnis hinarbeitet. Dem dankbaren Leser drängt sich rückblickend die Frage auf, warum Augustins Kampf gegen Pelagius nicht erwähnt wird. Die hier vorgezeichneten Linien zieht die folgende Studie über die Ausübung kirchlicher Lehrgewalt im 13. und 14. Jh. (440−458) kräftig weiter aus. In impliziter, aber deutlicher Wendung gegen die aus dem modernen Reformkatholizismus stammende Tendenz, die autoritär-repressiven Züge der Papstkirche mit deren tridentinischer Reorganisation, wenn nicht gar erst mit der Restauration des 19. Jh.s entstanden sein zu lassen, ruft K. pointiert in Erinnerung, dass die ideellen und institutionellen Grundlagen für all das (spätestens) im 12./13. Jh. entstanden sind.

Soweit ein kurzer Überblick, der hoffentlich gezeigt hat, dass es sich bei diesem monumentalen Aufsatzband in der Gesamtkonzeption wie in jedem Einzelstück um ein von der ersten bis zur letzten Seite lesenswertes Muster seiner Gattung handelt.