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Ausgabe:

März/2023

Spalte:

208–210

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Kaufmann, Thomas

Titel/Untertitel:

Aneignungen Luthers und der Reformation. Wissenschaftsgeschichtliche Beiträge zum 19.–21. Jahrhundert. Hg. v. M. Keßler unter Mitwirkung v. M. Pape.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2022. XIV, 653 S. = Christentum in der modernen Welt, 2. Geb. EUR 124,00. ISBN 9783161613364.

Rezensent:

Markus Wriedt

Monographische Publikationen lassen sich aufgrund ihrer fachspezifischen Spezialisierung kaum als Einzelveröffentlichung verlegen. So sind in den vergangenen Jahren zahlreiche Schriftreihen entstanden, die sich unterschiedlich gut am Markt gehalten haben. Mit dem hier vorliegenden zweiten Band der Reihe »Christentum in der modernen Welt« ist eine innovativ erscheinende neue Publikationsreihe des Verlags Mohr Siebeck in Tübingen sichtbar geworden. Nach einem ersten Sammelband zu »Theology, History, and the German Universities«, hg. von Kevin M. Vander Schel und Michael P. Delonge, haben die Reihenherausgeber Cornelia Richter, Martin Keßler, Tim Lorentzen und Johannes Zachhuber einen Band mit Aufsätzen des bekannten Göttinger Kirchenhistorikers mit dem Spezialgebiet der Reformationsgeschichte vorgelegt. Ziel der bewusst international angelegten Reihe ist es, Beiträge zur neueren und zeitgenössischen Geschichte des Christentums, seiner Theologien und Kulturen zu publizieren. Der unklare Begriff der »Moderne« verdankt sich der anglo-amerikanischen Formulierung »modern Age«, mit dem üblicherweise die Neuzeit bestimmt wird. Dem internationalen Herausgeberkreis geht es darum, die differenziert ablaufenden Gestaltungen von Reflexion und Praxis, Institutionen und Formationen eines pluraler und globaler werdenden Christentums zu erfassen. Dazu trägt der zweite Band ohne Zweifel bei.

Thomas Kaufmann feierte 2022 seinen 60. Geburtstag und wurde von seinem Schüler und Kollegen Martin Keßler mit dieser Aufsatzsammlung geehrt. Angesichts der Fülle an wirkmächti-gen Veröffentlichungen zur Reformationsgeschichte könnte diese Sammlung als ein weiteres dickleibiges Konvolut erscheinen, mit dem gleichsam nur ein Eimer Wasser ins Meer geschüttet wird. Doch dem ist nicht so. Auch wenn die meisten Beiträge des Bandes bereits an anderer Stelle veröffentlicht wurden, ist doch ihre Zusammenstellung von Bedeutung. Der Band wirft ein deutlich erweitertes und differentes Bild auf das fachlich konzentrierte Œuvre K.s, der sich der Reformation aus der Perspektive ihrer Druckgeschichte, darin seinem Mentor und Lehrer Bernd Moeller folgend, widmet. Dass die Reformation durch ihre Aneignungen in späteren Jahrhunderten eine bis heute bestimmende Wirkmacht entfaltet hat, ist ebenso richtig wie banal. Die jeweiligen zeitbedingten Aneignungen Luthers allerdings im Detail einmal zu rekonstruieren, geht deutlich über den Ertrag der Arbeiten der vergangenen Jahre zu den Jubiläen Luthers und der Reformation hinaus.

Die Anordnung der Beiträge lässt die kundige Hand des Her-ausgebers erkennen, der seit vielen Jahren mit K. zusammengearbeitet hat. Vordergründig könnte man von einer chronologischen Zusammenstellung sprechen. Freilich nehmen die insgesamt vier thematischen Blöcke weit mehr als die bloße Aneinanderreihung von Luther- oder Reformationsaneignungen vor. K. rekonstruiert in seinen detailversessenen Aufsätzen eine neuzeitlich-moderne Konfessionskultur und zeichnet die damit unvermeidlich gewordenen Transformationen, Aneignungen und Brüche minutiös nach. Am Beginn stehen Studien zu antisemitischen Luther- florilegien, der Entstehung eines modernen Personenkults um Luther sowie die perspektivisch eher zum Konservativismus und einer frommen Reformationsaneignung zählende Position von Friedrich A. G. Tholuck (1799–1877) unter der Überschrift »Dis- positionen neuzeitlicher Aneignungen der Reformation und Luthers«.

Ein zweiter Abschnitt wendet sich den positionellen Formationen in der Zeit des Kaiserreiches zu. Dazu zählt die Gründung der Zeitschrift für Theologie, einem »Flaggschiff« protestantischer Theologie des Tübinger Mohr Siebeck Verlags im letzten Jahrhundert und bis heute, sowie zwei weitere Studien zu Adolf von Harnack (1851–1930) und Reinhold Seeberg (1859–1935) einerseits und Ernst Troeltsch (1865–1923) andererseits. Sie alle entfalteten ihre Werke unter dem Eindruck des Kaiserreiches, der »Urkatastrophe der Menschheit« im Ersten Weltkrieg und in der Nachkriegszeit in den Wirren der Weimarer Demokratie. – So lautet denn auch der Titel des nächsten Abschnitts »Kontinuitäten, Umbrüche und Transformationen – von der Weimarer Republik über das ›Dritte Reich‹ bis in die frühe Nachkriegszeit«. Der kühne Bogenschlag entspricht dem sich wandelnden Geschichtsbild von Traditionsbrüchen zwischen Weimar, Berlin und Bonn und arbeitet sehr genau heraus, dass es zahlreiche Verbindungen der drei Klein-Epochen gibt und auch personelle Kontinuitäten nicht übersehen werden sollten. Gleichwohl konnte Neues entstehen, das freilich nicht selten die Innovationen früherer Jahre in sich trug. Das arbeitet K. in zwei Studien zu Werner Elert (1885–1954) und Erich Seeberg (1888–1945) heraus, die lange ihrer Nähe zum Nationalsozialismus geziehen wurden. Heinrich Bornkamm (1901–1977) konnte trotz früher Verstrickungen wirkmächtig seit 1931 den Verein für Reformationsgeschichte führen. Damit wird historiographisch der Übergang zur Nachkriegszeit möglich, den K. mit einem Überblick zur Reformationsgeschichtsforschung nach 1945 bis in die frühen 60er Jahre des letzten Jahrhunderts eröffnet. Eine Spezialuntersuchung wendet sich dem Göttinger Gelehrten Hermann Dörries (1895–1977) zu, der, obwohl Patrologe, auch einige Arbeiten zur Reformationsgeschichte vorgelegt hat und ebenfalls zu den Bindegliedern der drei eingangs benannten Epochen gehört.

Unter der Überschrift »Theologizität und Geschichte – Dynamiken neuerer und aktueller kirchengeschichtlicher Reformationsgeschichtsforschung« wendet sich K. in verschiedenen Beiträgen der Bedeutung des Humanismus für die Akzentuierungen der neueren Reformationsgeschichte zu. Ein Text schreibt die Reformationsgeschichtsforschung nach 1945 bis zur Jahrtausendwende fort, ein anderer Aufsatz wendet sich den Diskussionen über Luthers reformatorischen Durchbruch infolge der Auseinandersetzungen um Ernst Bizers Lutherbuch zu. Abschließend positioniert sich K. – wie schon in den vorausgegangenen Beiträgen – streitbar in der Debatte um die Einschätzung der Reformation als einer Epoche und plädiert entschieden gegen die Pluralisierungsbemühungen der Reformationsinterpretation in der neueren Forschung.

Ein Anhang enthält drei Texte »In memoriam Bernd Moeller« (1931–2020). Martin Keßler ediert einen Lebensbericht des Göttinger Gelehrten und K. steuert einen Nachruf auf seinen akademischen Lehrer sowie eine Trauerpredigt bei – beides ist von tiefer Dankbarkeit, Verehrung und akademischer Verbundenheit geprägt. Auf diese Texte von und zu Moeller folgt eine wissenschaftliche Bib-liographie K.s, erstellt von Christoph Schönau, Mitarbeiter an K.s Göttinger Lehrstuhl. Eine Liste der Erstveröffentlichungen, ausgewählte Literatur zu den vorgelegten Beiträgen und Register zu Personen, Orten und Sachen schließen den reichen Band ab.

K.s Sprache ist seit den Anfängen dicht und facettenreich, manchmal nicht frei von Manierismen, immer aber eindrücklich und erinnerungsfest. Seine Untersuchungen sind dabei stets von eminenter Quellenkenntnis und stupender Gelehrsamkeit. Sie sind in den umfangreichen Anmerkungen notiert, die nicht selten mehr als die Hälfte einer Seite füllen; und so das Verdikt Anthony Graftons »Die tragischen Ursprünge der deutschen Fußnote« (1995) unfreiwillig bestätigen. Freilich sollten Leser, die K. rezipieren oder gar kritisieren wollen, diese Fundgrube archivalischen und literarischen Wissens sorgsam studieren. Nicht nur wird eine Fülle unbekannten Materials präsentiert, es werden auch Zusammen- hänge erschlossen, die bei oberflächlicher Lektüre verborgen bleiben.

Dem Herausgeber ist für diese Bereitstellung wertvoller Forschungsbeiträge zu danken. Möge der Band im Zeitalter digitaler Reproduktion nicht in den Regalen der Universitätsbibliotheken verstauben. Vielleicht hilft dagegen auch die Veröffentlichung als E-Book, die der Verlag gleichzeitig ermöglicht. So oder so: Der Band, der dem mit dem Leibniz-Preis ausgezeichneten Göttinger Kirchenhistoriker hier überreicht wurde, ist ein veritabler Geburtstagsgruß. Dem Glückwunsch des Herausgebers möchte man sich anschließen: ad multos annos collega!