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Ausgabe:

März/2023

Spalte:

205–207

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Halík, Tomáš

Titel/Untertitel:

Der Nachmittag des Christentums. Eine Zeitansage. Übers. v. M. Barth.

Verlag:

Freiburg i. Br. u. a.: Verlag Herder 2022. 320 S. Geb. EUR 22,00. ISBN 9783451033551.

Rezensent:

Arne-Florian Bachmann

Nicht weniger als eine Zeitansage verspricht Thomaš Halík mit seinem Buch »Der Nachmittag des Christentums«, also einen gro-ßen Wurf, der die Gegenwart theologisch deutet und so zur Umorientierung des Christentums einen Beitrag leisten soll. Das Buch ist dabei gleichermaßen eine grundlegende theologische Selbstverortung H.s als auch Manifest für eine Transformation des Christentums.

Die titelgebende Metapher vom Nachmittag des Christentums ist C. G. Jung entliehen, der die tiefenpsychologische Entwicklung des Menschen durch eine »Mittagskrise« gekennzeichnet sieht. Diese ist durch eine vertiefende Integration des bisher Ausgeschlossenen und Uneingestandenen (»des Schattens«) zu bewältigen, um so zu einer ganzheitlichen Form des Selbst zu gelangen. Diese Metapher überträgt H. auf die Entwicklung des Christentums, das sich gegenwärtig in einer Art Mittagskrise befindet. Die multiplen Krisen des Christentums, die sich als Entkirchlichung, Krise des Klerus, Säkularisierung und Traditionsabbruch zeigen, deutet er als Kairos, in dem eine neue, »nachmittägliche Form« des Christentums Gestalt gewinnen kann. Mit der Metapher ist also ein Dreischritt in der Deutung der Entwicklung des Christentums verbunden, die sich gleichsam in eine vorkritische, kritische und nachkritische Phase gliedert. In einer gekonnten Verknüpfung der verschiedenen Bildwelten bringt er die Mittagskrise auch zusammen mit dem Phänomen der Akedie, welche bei Euagrios Pontikos durch den Mittagsdämon verkörpert wird, der zu einem Spannungsverlust im geistlichen Leben führt. Außerdem wird nach und nach deutlich, dass auch das Kreuz (»Finsternis am Mittag«) als Urbild der Mittagskrise gelten kann, in dem sich der Entzug Gottes und das Mitleiden mit den Menschen ausdrückt. Diese evokative Metapher bildet sozusagen das metaphorische Zentrum des Buches, um die herum sich die 15 Kapitel lose gruppieren. Der Argumentationsgang des Buches ist dabei eher zir-kulär als linear: die verschiedenen Kapitel beschreiben aus verschiedenen Perspektiven jeweils Aspekte eines »nachmittäglichen« Christentums.

Inhaltlich ist zunächst eine doppelte Frontstellung prägend für das Buch: zum einen und in der Hauptsache arbeitet sich H. an der neo-thomistischen Metaphysik, an kirchlichen Exklusivismen und Fundamentalismen aller Art ab, zum anderen grenzt er sich gegen eine vage oder banalisierte Form der Spiritualität ab. So will er den Glauben als ein Bewegtwerden von Gott, als Feier eines Geheimnisses, als existentielles Urvertrauen und als persönliche Transformation (metanoia) verstehen. Gott ist als umgreifendes Geheimnis nicht bloß als Gegenstand des Glaubens, sondern als Integral der Welt zu verstehen (»non-aliud«, »alles in allem«) und so ist er sinnstiftender Grund des Seins. H., der einen Fokus auf die »Hermeneutik und Phänomenologie des Glaubens« (30) statt auf »klassische Metaphysik« verspricht, kommt also nicht umhin, trotz aller Apophatik und eines dezidierten Existentialismus selbst wieder eine Metaphysik zu kreieren. So versteht H. mit T. de Chardin Christus als den Omega-Punkt der Schöpfung und findet Gott – ganz parallel zu Tillich – in den Tiefendimensionen der Kultur wieder.

Kern des Christentums ist für H. die Beziehung Jesu zum Vater, die radikale Nächstenliebe und die Lehre vom kosmischen Chris-tus, der als Ziel der Geschichte alle menschengemachten Grenzen niederreißt. Dies schließt für ihn die Integration des Karsamstags, der Zweifel und des Unglaubens mit ein. Somit ist das Evangelium für H. eine Botschaft radikaler Inklusion, die sowohl den Exklusivismus religiöser Gruppen als auch die »unreife« Exklusion des Negativen aus der eigenen (Glaubens-)Geschichte hinter sich lässt.

Diese Botschaft der Inklusion soll als ein Motor der Selbstüberschreitung des Christentums dienen, welches sich einer Kultur zuwenden soll, in der die Spiritualität längst die Ufer organisierter Religiosität übertreten hat. Religion und Kirche wird hier die Aufgabe zuteil, im Sinne einer öffentlichen Theologie (»Kairologie«) die Entgrenzungsbewegungen der globalisierten Kultur zu moderieren und der Gefahr eines »Kampfes der Kulturen« die Hoffnung einer »civitas oecumenica« entgegenzustellen (161). Dieser stark inklusivistisch-idealistische Ansatz geht aber nicht ohne eigene Gefahren einher. Zum einen scheint immer wieder die Tendenz zu einer Umarmungsstrategie des Nicht- oder Andersgläubigen (»anonymes Christentum«) hervor, der möglicherweise gar keine Integration in eine civitas oecumenica wünscht. Zum anderen werden subtil neue Exklusionen geschaffen, etwa zwischen den Gläubigen mit einem tiefen und reifen (nachmittäglichen?) und denen mit einem unreifen Gottesbild. Das kann etwa im Falle der Beschäftigung mit den »afrikanischen Pfingstsekten« und ihrer »oft sehr oberflächlichen, emotionalen Religiosität« (93) durchaus karikatureske Züge haben.

Die wesentliche Kategorie eines nachmittäglichen Christentums stellt für H. die Spiritualität dar, die er als eine leidenschaftliche Suchbewegung versteht, die jeder institutionellen oder doktrinären Bestimmung vorausgeht. Von der Spiritualität erhofft sich H. eine Transformation kirchlicher Strukturen. So plädiert er im Blick auf einen Zusammenbruch parochialer Versorgungsstrukturen, wie er in der Tschechischen Republik längst Realität ist, für den Aufbau geistlicher Zentren, an denen eine Art offenes Christentum mit einer geistlichen Begleitung religiös Ungebundener gelebt wird. Die Kirche wird so neu verstanden als eine therapeutisch-mystagogische Weggemeinschaft, die im Zeichen von Inkarnation, Kreuz und Auferstehung überkommene Strukturen und Theologien hinterfragt und so Raum macht für eine Transformation des Glaubens in der Gegenwart.

Eine Ebene, auf der das Buch auch zu lesen ist, ist der Blick auf innerkatholische Auseinandersetzungen um den Reformkurs durch Papst Franziskus. So wird Papst Franziskus und sein Fokus auf Synodalität und soziale Gerechtigkeit als die Zukunftshoffnung auf dem Weg vom Katholizismus zur wahren Katholizität aufgebaut, die sich als Selbsttranszendenz des Christentums zeigen soll. Es stellt sich die Frage, ob diese hohen Erwartungen nicht zwangsläufig enttäuscht werden müssen.

H.s Stärke liegt im Einsatz evokativer Metaphern und der kreativen Relektüre biblischer Texte. Er zielt auf ein nachmittägliches Christentum, das sich durch die existentialistisch-weisheitliche Relektüre der Bibel, durch die mystagogische Begleitung, durch die institutionell-dogmatische Überschreitung überkommener Denk- und Glaubensformen und durch den diakonischen Einsatz für die Schwächsten der Gesellschaft auszeichnet. Teilweise hat das Buch den Charakter einer Abarbeitung mit den als eng empfundenen Formen des Christentums, wie man das parallel in der sog. postevangelikalen Bewegung beobachten kann. Doch können die wesentlichen Probleme des Christentums wirklich allein auf eine allzu große Rigidität, dogmatische Enge und institutionelle Überheblichkeit zurückgeführt werden?

Eine Chance in der sehr komplexen Metapher vom Nachmittag des Christentums besteht darin, dass man mit ihr den Fokus stärker auf das Phänomen der Akedia, den Verlust von Spannung, Begehren und Interesse legen kann. Die Frage wäre dann eher: wie sieht ein post-akedisches Christentum aus, das weder der identitären Versuchung noch einer spirituellen Fluidisierung anheimfällt? Diese Frage aufgeworfen zu haben ist das Verdienst dieses Buches, auch dort, wo seine Antworten nicht immer einzuleuchten oder zu verblüffen vermögen.