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Ausgabe:

März/2023

Spalte:

204–205

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Daugirdas, Kęstutis, u. Christian Volkmar Witt [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Gegeneinander glauben – miteinander forschen? Paradigmenwechsel frühneuzeitlicher Wissenschaftskulturen. Hgg. unter Mitarbeit v. D. Bronner.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2022. 296 S. m. 11 Abb. u. 4 Tab. = Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, 134. Geb. EUR 70,00. ISBN 9783525568590.

Rezensent:

Sophia Farnbauer

Der Band ist aus einer von Kęstutis Daugirdas und Christian Witt im Oktober 2019 an der Johannes a Lasco Bibliothek Emden (JALB) veranstalteten Tagung hervorgegangen. Sie bildete den Auftakt zum Kooperationsprojekt »Konfessionskultur des Reformiertentums im Nord- und Ostseeraum«, das gemeinsam von der JALB und dem Leibniz-Institut für Europäische Geschichte Mainz in Person der beiden Herausgeber verantwortet wird. Getragen wird der Band von drei Leitfragen, die konfessionsspezifische Wissenschaftspraktiken, interkonfessionelle Wissenschaftskommunikation und die Ablösungsprozesse von Theologie und naturwissenschaftlichem Erkenntnisgewinn in den Blick nehmen. Als Arbeitshypothese lag dem Band die Annahme zugrunde, dass es in der Frühen Neuzeit zu einem wissenschaftskulturellen Paradigmenwechsel kam, bei dem die Theologie zugunsten einer konfessionsübergreifenden naturwissenschaftlichen Wahrheitsfindung im Bereich der Physik und Astronomie zurücktrat. Kęstutis Daugirdas weist bezüglich des Terminus »Physik« darauf hin, dass bis zum Ende des 17. Jh.s unter Physik eine »systematische Beschäftigung mit der Naturphilosophie verstanden« (18) wurde, sodass das frühneuzeitliche Verständnis sich deutlich vom heutigen Gebrauch – dem mathematisch konnotierten seit Newton – unterscheidet. Diejenigen Physiker und Astronomen, die damals wie heute berühmt waren und sind, sind auch als maßgebliche Akteure in den Aufsätzen präsent: Nikolaus Kopernikus, Tycho Brahe, Johannes Kepler, Galileo Galilei, Isaac Newton und ihre wissenschaftlichen Netzwerke, die sich konfessionsübergreifend über ganz Europa erstreckten.

Hinsichtlich der Bedeutung der Konfession der frühneuzeitlichen Protagonisten und der astronomischen Wissenschaftscommunity kommen die verschiedenen Aufsätze zu unterschiedlichen Ergebnissen, was den Tagungsband gleichsam als Grundspannung durchzieht. Auf der einen Seite steht die These, es habe auf lutherischer Seite eine positivere Rezeption der Physik bzw. Astronomie gegeben, was (auch) durch Melanchthon bedingt gewesen sei (exemplarisch Klaus-Dieter Herbst im Bezug auf lutherische Kalendermacher). Dies habe sich auch in einer Toleranz bspw. astrologischer Vorhersagen niedergeschlagen, die in reformierten Territorien nicht in gleichem Maße gegeben gewesen sei, wie Klaas-Dieter Voß am Beispiel Ostfrieslands zeigt. Gleichwohl nimmt auch Kai-Ole Eberhardt für den reformierten Protestantismus der Niederlande eine gewisse Offenheit für den mit dem Cartesianismus verbundenen Heliozentrismus an. Dieser sei bei den theologischen Cartesianern – konkret dargestellt an Christoph Wittich – dort leichter als in lutherischen Gebieten rezipiert worden. Als Grund dafür sieht Eberhardt einen größeren Spielraum für die Rezeption unterschiedlicher Philosophien, da es im Gegensatz zum Luthertum keine Normierung durch die Bekenntnisschriften gegeben habe.

Andererseits steht dem die Annahme gegenüber, dass es sich bei der Astronomie um eine zunehmend konfessionsübergreifende Disziplin gehandelt habe, in der konfessionsspezifische Ausprägungen entweder nur eine marginale oder gar keine Rolle spielten (Kęstutis Daugirdas, Michael Beintker, Morten Fink-Jensen). Michael Beintker zieht daher als Fazit seines Beitrags: »Die frühneuzeitlichen Wissenschaften haben sich jedenfalls schneller von ihrer konfessionellen Einbindung befreit, als oft vermutet wird. Wissenschaften funktionieren nach ihrer eigenen Logik, und in der scientific community dominiert, wenn es mit rechten Dingen zugeht, die gemeinsame Suche nach Problemlösungen. Das war schon damals so.« (146) Gleichzeitig stellt Michael Weichenhan die These auf, dass im jahrhundertelangen Ablösungsprozess zwischen Naturwissenschaften und Theologie die »konfessionelle Spaltung Europas die Emanzipationsprozesse der Wissenschaften von der Theologie vermutlich sogar begünstigt« (282) hat. Grundlage dafür sei eine konfessionsübergreifende natürliche Theologie gewesen. Der entscheidende Unterschied zwischen Theologie und Naturwissenschaften sei schließlich die Fokussierung auf »lösbare Probleme« gewesen, im Gegensatz zu theologischen Kontroversen, die als rational nicht lösbar empfunden wurden. Die theologische Deutung von physikalischen Ereignissen am Beispiel von Gewittern zeigt Bernd Roling auf. Er stellt im Längsschnitt anschaulich dar, »wie Gott mit jedem Schritt weiter in der Transzendenz zu verschwinden scheint« (258). Gleichwohl blieb bei aller wissenschaftlichen Aufklärung die bedrängende Angsterfahrung des Gewitters im 18. Jh. nur begrenzt rational bewältigbar. Auch in den weiterhin enthaltenen Detailstudien werden die grundlegenden Umwälzungsprozesse sichtbar: Sowohl bei dem Sozinianer Stanisław Lubieniecki (Maike Sach) als auch bei Gottfried Wilhelm Leibniz und seiner Korrespondenz mit Jesuiten in China (Rita Widmaier) treten die konfessionsübergreifenden Interessen bei der Verbreitung naturwissenschaftlicher Forschung in den Vordergrund. In Pablo Toribios Studie zu Isaac Newton werden die Hintergründe von Newtons Naturphilosophie und seinem Antitrinitarismus erhellt.

Insgesamt zeigen sich zwei theologische Argumente, die eine innovative physikalisch-astronomische Forschung in der Frühen Neuzeit begünstigt haben: Einerseits spreche die Bibel in ihre eigene Zeit (Akkommodationslehre), andererseits sei das zentrale Anliegen der Bibel die Soteriologie, nicht die Kosmologie. Entlang dieser zwei Denkfiguren kam es zu einem Festhalten an der Bedeutung der Bibel bei gleichzeitiger Offenheit für neue astronomische Entdeckungen und Theoriebildungen (diese Denkfiguren werden u. a. von Eberhardt, Beintker und Weichenhan herausgearbeitet).

Der vorliegende Band bietet ein aufschlussreiches Panorama frühneuzeitlicher Physik und Astronomie mit ihren Ablösungsprozessen zur – auch konfessionsspezifischen – Theologie. Dabei scheinen konfessionelle Prägungen zwar an manchen Stellen wirksam, im Großen und Ganzen jedoch weniger ausschlaggebend gewesen zu sein.