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Ausgabe:

März/2023

Spalte:

196–198

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Greef, Wulfert de

Titel/Untertitel:

Of One Tree. Calvin on Jews and Christians in the Context of the Late Middle Ages. Transl. by L. D. Bierma.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2021. 197 S. = Refo500 Academic Studies, 83. Geb. EUR 80,00. ISBN 9783525558652.

Rezensent:

Hans-Martin Kirn

Die vorliegende Übersetzung erschließt die bereits 2012 auf Niederländisch erschienene Studie Wulfert de Greefs einem breiteren Leserkreis. Dies ist angesichts der Themenstellung zu begrüßen. Der Mehrwert der Studie gegenüber früheren Arbeiten liegt vor allem in der Erweiterung der Textbasis, die nun auch Calvins Vorlesungen, Kommentare und Predigten nach 1550 umfasst. Die Textanalysen sind in aller Regel sorgfältig mit den nötigen Nuancierungen vorgenommen, doch die Zusammenschau der positiven wie negativen Aussagelinien erweist sich als ausgesprochen schwierig. Was an methodologischen Vorüberlegungen in der Einleitung geboten wird (13), ist eher dürftig. Deutliches Profil gewinnt dagegen im Laufe der Arbeit die theologische Grundthese, wie wichtig das Konzept der substantiellen Einheit von Altem und Neuem Tes-tament für das Verhältnis von Juden und Christen bei Calvin war.

Übersichtsdarstellungen zum Verhältnis von Judentum und Christentum im Späten Mittelalter sowie zur Entwicklung der Christlichen Hebraistik leiten den Band ein. Anschließend wird über Calvins offenbar spärlich gebliebene Kontakte mit Juden informiert, wobei der gelehrte Konvertit I. Tremellius die bekannte Ausnahme darstellt. Die gegenläufige Aussage Calvins, er habe »oft mit vielen Juden« gesprochen, will der Autor auf die Lektüre jüdischer Exegeten beziehen, doch dies wirft neue Fragen auf. Calvins interessante Entgegnung auf mittelalterliche jüdische Einwände gegen das Matthäusevangelium, postum 1575 von Th. Beza veröffentlicht (Ad quaestiones), wirkt auf den bibelexegetisch konzentrierten Autor eher verstörend, greift Calvin hierbei doch recht unbekümmert auf Elemente der Schmährede gängiger Ketzerpolemik zurück. Berechtigte Hinweise auf Calvins überwiegend durch andere Kommentatoren (M. Bucer, J. Oecolampad) ermöglichte Kenntnisnahme jüdischer Exegeten, unter ihnen der geschätzte D. Kimchi, folgen. Eine nähere Kontextualisierung des Verhältnisses von Altem und Neuem Testament wäre im reformatorischen Vergleich spannend gewesen, etwa im Blick auf die Verhältnisbestimmungen von Gesetz und Evangelium und deren mögliche Bedeutung für die Wahrnehmung des Judentums. Dem theologisch definierten Verhältnis von Juden und Christen ist ein weiteres Kapitel gewidmet. Entscheidend ist hier die neu-testamentlich angelegte Sicht der »Einheit des Glaubens« zwischen (christusgläubigen) Juden und Christen aus den Heidenvölkern. Der Abrahamsbund gilt demnach bereits als verborgener Christusbund. Das nachbiblische, sich dem Anspruch der Messianität Jesu entziehende Judentum wurde in dieser Perspektive zum Selbstentfremdungsphänomen und mit dem Vorwurf der Apostasie belegt. Eine Brücke zu jüdisch-messianischen Hoffnungen ließ sich hier nicht schlagen. So verwundert es nicht, dass Calvin mehrfach die Sprache der sog. Substitutionsthese anschlug, der zufolge Christen die Stelle der (ungläubigen) Juden eingenommen hätten. Zugleich hielt Calvin im Anschluss an Röm 9–11 an der Bundestreue Gottes gegenüber seinem Volk als Ganzem fest. Calvin sei dieser Widerspruch, so der Autor, durchaus bewusst gewesen, weshalb auch die Substitutionsvorstellung im Zuge der gegenläufigen Aussagen des Paulus zu relativieren sei. So sollte auch nicht ausgeschlossen werden, dass Calvin trotz der Unterscheidung zwischen »äußerer Berufung« der ganzen jüdischen Nation und der »geheimen Erwählung« einiger weniger wahrhaft Gläubiger (Restmotiv) für die Zukunft eine breitere Akzeptanz des Evangeliums auf jüdischer Seite erwartete. Diese wurde als spirituelle Heimkehr ins »Land der Väter« interpretiert. Für jüdisch-messianische und christlich-millenaristische Endzeiterwartungen wie die einer Rückkehr der Juden nach Palästina war hier kein Platz. Die Entschiedenheit, mit der Calvin alles Prophetische des Alten Testaments auf die Chris-tusoffenbarung zielen ließ, schloss endzeitlich-apokalyptische Textexegese aus. Damit entfielen auch offensive Dämonisierungen von Juden und Judentum.

Ein weiteres Kapitel thematisiert Calvins Kritik an christlichen und jüdischen Exegeten sowie die Zinsfrage. Seine kontextbezogene Reduzierung herkömmlicher alttestamentlicher »Belegstellen« für die christliche Trinitäts- und Zweinaturenlehre spielt dabei eine wichtige Rolle. Von besonderem Interesse sind die in Kapitel 8 behandelten Beispiele eigenständiger Umprägung traditionell antijüdischer Bibelexegese durch Calvin. So deutete er das alttestamentliche Edom bzw. die Edomiter gegen christliche Traditionslinien nicht auf die Synagoge oder die Juden, sondern kontextgemäß auf die historischen Feinde der Juden, die sich vom Bibeltext getröstet wissen konnten. Entsprechend setzte Calvin neue Akzente im Verständnis der Feindmetaphorik der Psalmen. Für ihn ging es um Gebete Christi, die in den biographischen Kontext Davids gehörten. Dies veränderte zum Beispiel die antijüdische Lesart von Ps 59 entscheidend. Daneben finden sich bei Calvin freilich immer wieder auch Invektiven gegen jüdische Exegeten und zahlreiche Fortschreibungen stereotyper Polemik gegen jüdische Blindheit und Halsstarrigkeit. Mit Zusammenfassung und Ausblick auf weniger an Calvin orientierte niederländische reformierte Theologen des 17. und 18. Jh.s endet der Textteil. Biblio-graphie, Bibelstellenverzeichnis und Namensindex beschließen den Band, der zu weiteren Debatten einlädt.