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Ausgabe:

März/2023

Spalte:

188–189

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Spies, Franca

Titel/Untertitel:

The New Perspective on Judaism. Christliche Israeltheologie im Anschluss an die New Perspective on Paul und Nostra Aetate.

Verlag:

Regensburg: Verlag Friedrich Pustet 2021. 296 S. = ratio fidei, 76. Kart. EUR 34,95. ISBN 9783791733005.

Rezensent:

Karl-Heinrich Ostmeyer

In ihrer von der Universität Freiburg (i. Br.) angenommenen Dissertation, »The New Perspective on Judaism« vergleicht Franca Spies Inhalte, Entstehungswege und Implikationen der New Perspective on Paul mit der im Kontext des Zweiten Vaticanums entstandenen römisch-katholischen Erklärung Nostra Aetate. Begleitet wurde die Arbeit nach dem Tod des Erstbetreuers F. Walter, dem die Ar- beit gewidmet ist, von K. Ruhstorfer. Das Zweitgutachten übernahm K. W. Niebuhr.

Nach einer kurzen Problemanzeige (13−15), in der S. das Phänomen der an die christliche Theologie geknüpften Antijudaismen benennt, widmet sich die Autorin in drei Hauptteilen zunächst der als einer exegetischen Revolution verstandenen New Perspective on Paul (19−107).

S. bietet eine die wichtigsten Aspekte erfassende Darstellung von Inhalt und Geschichte der New Perspective on Paul. Einführend geht sie auf wesentliche Vertreter und Wegmarken der »alten Perspektive« ein und betont, dass die traditionelle Sicht auf Paulus und seine Theologie zugleich eine »Old Perspective on Judaism« impliziert. Als Repräsentanten der »klassischen Sichtweise« erwähnt S. u. a. R. Bultmann und E. Käsemann. Als Wegmarken hin zur New Perspective benennt und würdigt S. insbesondere die Untersuchungen K. Stendahls. S. legt den Fokus ihrer Ausführungen zur New Perspective on Paul auf E. P. Sanders, J. D. G. Dunn und N. T. Wright als deren Hauptvertreter. Die sich durch die Monographie ziehenden Leitthemen wie Bundesnomismus, der Stellenwert der Rechtfertigungslehre in der Theologie des Paulus, sowie Fragen um Gnade und eine Substitution Israels werden kontextualisiert und problematisiert. S. beschließt den Abschnitt mit Stimmen, die der New Perspective on Paul and Judaism kritisch begegnen und akzentuiert die Rolle Israels als einer theologischen Größe.

Der als exegetischer Revolution verstandenen New Perspective on Paul stellt S. die im Kontext des Zweiten Vatikanischen Konzils entstandene Erklärung Nostra Aetate an die Seite (109−179), der sie bezogen auf die römisch-katholische Kirche ein vergleichbar revolutionäres Potential zuschreibt. S. gelingt es, die dem Zweiten Vatikanischen Konzil eigene und ähnlich zugleich für sonstige Konzilstexte gültige Hermeneutik auch einem nicht römisch- katholischen Lesepublikum plausibel zu machen. Nachvollziehbar erklärt S. es für unzureichend, nur auf die Abschlusserklärungen zu schauen, nicht aber auf deren Werdegang und auf das, was am Ende dezidiert nicht (mehr) gesagt wird. Pars pro toto sei hier der Umgang mit der Frage der Judenmission erwähnt.

Im Zusammenhang mit der Neugestaltung des Verhältnisses zum Judentum und zu Israel rückt das Verhältnis der römisch-katholischen Kirche zu den nichtchristlichen Religionen in den Blick und damit die Frage nach dem Heil extra ecclesiam. Die Autorin erwähnt hier insbesondere die Ausführungen des Apologeten Jus-tin zum λόγος σπερματικός (175) und die von K. Rahner zu den »anonymen Christen« (143).

S. begründet, warum nicht allein die Vorgeschichte und das Werden des Zweiten Vaticanums sowie von Nostra Aetate für das Verständnis beider zu berücksichtigen sind, sondern auch die Rezeption der Konzilserklärung. In diesem Zusammenhang behandelt S., neben Verlautbarungen, Anwendungshinweisen und der Reflexion der Konzilserklärungen durchaus kritisch die Rolle der Piusbruderschaft und die Bedeutung der durch Benedikt XVI. neu stark gemachten Karfreitagsfürbitte für die Jüdinnen und Juden. Analog zum ersten Teil fragt S. als Abschluss ihres zweiten Hauptkapitels – diesmal durch die Brille von Nostra Aetate – nach den theologischen Implikationen für das Israelverständnis.

Die Dokumentationen und Ausführungen des zweiten Teils der Monografie bieten auch und gerade für Nicht-Katholiken spannende und lehrreiche Einblicke gleichsam in den Maschinenraum der römischen-katholischen Diskussion und Lehrbildung.

Der dritte Hauptteil (181−239) behandelt exemplarisch und unabhängig von deren konfessionellem Hintergrund hermeneutische Perspektiven der Paulusauslegung im Kontext Israels. Zur Sprache kommen u. a. die historisch-kritische Forschung, Methodenpluralität und die »Vieldeutigkeit der Bibel« (204). S. gelingt es, aus dem vielstimmigen Konzert hermeneutischer Stimmen eine repräsentative Auswahl zu treffen. Exemplarisch seien der exegetische Ansatz und die Ausführungen J. Ratzingers, die systematischen Überlegungen N. Slenczkas sowie die im protestantischen Bereich weniger bekannten Positionen der päpstlichen Bibelkommission erwähnt. Als Fazit schließt der dritte Hauptteil mit der Frage nach der Einheit der Schrift und deren Entwicklung. S. geht mit den behandelten Stimmen kritisch um und ist bestrebt, jeder in ihrer Eigenart gerecht zu werden.

Mit ihrer im dritten Hauptteil präsentierten breiten Kenntnis an hermeneutischen Positionen und Zusammenhängen bereitet S. die Bühne für ihre als »Abschließende Thesen zur Israeltheologie« präsentierten zusammenfassenden Überlegungen (241−259). Schwerpunkte bilden hier die Frage nach der Heilsgeschichte, nach ihrer Kontinuität und die Frage nach der Einheit der Schrift. Laut S. stelle für das christliche Selbstverständnis »der Glaube Israels das Grunddatum auch seiner Geschichtsdeutung dar« (251). S. spricht im Kontext des Nebeneinanders von Judentum und Christentum von der »Wahrheitsfrage« (251) und erklärt, an der Judenmission festzuhalten, hieße, »an dem soteriologischen Ast zu sägen, auf dem das Christentum sitzt« (256). Pointiert formuliert sie, die Heilsfrage sei »gar nicht erst ohne Israel zu stellen« (258).

Der Autorin ist zu danken für eine gründliche Aufarbeitung und reflektierte Darstellung von Material, das an sich nicht neu ist, unter der gewählten Fragestellung jedoch vielfach in einem neuen Licht erscheint. Aus protestantischer Perspektive wäre wünschenswert gewesen, wenn nicht nur protestantische exegetische Ansätze und Hermeneutiken, sondern auch wichtige Erklärungen evangelischer Kirchen zu deren Verhältnis zum Judentum nach dem Zweiten Weltkrieg berücksichtigt worden wären.

Gerade weil S. auf der Basis des zuvor Erarbeiteten und Referierten begründet und reflektiert einiges zu bedenken gegeben hat, sind ihre »abschließenden Thesen« weniger als Abschluss denn als Ausgangspunkt und als ein Sprungbrett in eine breite exege-tische, systematische und hermeneutische Debatte zu werten.