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Ausgabe:

März/2023

Spalte:

184–186

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Marguerat, Daniel

Titel/Untertitel:

Die Apostelgeschichte übersetzt und erklärt.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2022. 868 S. m. 5 Ktn. u. 18 Tab. = Meyers Kritisch-exegetischer Kommentar über das Neue Testament 3. Lw. EUR 140,00. ISBN 978352556457.

Rezensent:

Klaus Haacker

In der renommierten, 1835 begründeten Reihe ist es m. W. der erste Band, der aus einer anderen Sprache übersetzt wurde. Näheres muss hier vorausgeschickt werden: Es handelt sich um eine leicht gekürzte, aber auch gelegentlich (bis in die Gliederung hinein) vom Autor veränderte Neuauflage der beiden Bände Les Actes des Apôtres, Genf 2007 und 2015. Diese waren der erste wissenschaftliche Kommentar über die Apostelgeschichte in französischer Sprache nach dem Kommentar von Eugène Jacquier von 1926. Daniel Marguerat, geb. 1943, ist ein reformierter Schweizer Pfarrer und Neutestamentler, der u. a. in Göttingen studiert hat und an der Universität Lau-sanne von 1984 bis 2008 Professor für Neues Testament war. Er hat auf Französisch, Englisch und Deutsch publiziert; erwähnenswert ist hierzulande besonders sein Buch Lukas, der erste christliche His-toriker. Eine Studie zur Apostelgeschichte, Zürich 2011.

Apropos Sprachen: Im Zuge der Globalisierung aller Wissenschaften haben auch in der Bibelwissenschaft Publikationen in englischer Sprache fast erdrückend an Einfluss gewonnen, weil Englisch nun einmal im Schulwesen weltweit bevorzugt ist. M. hat großen Wert darauf gelegt, exegetische Publikationen in deutscher, englischer, französischer und italienischer Sprache auszuwerten, zu erwähnen und inhaltlich zu besprechen (was auch dem interkonfessionellen Gespräch zugutekommt).

Nun zum Charakter seiner Kommentierung: In Einleitungsfragen bleibt M. bei der vorherrschenden Datierung gegen Ende des 1. Jh.s (also nicht angekränkelt vom Liebäugeln mit dem 2. Jh.). Auch in der Autorfrage setzt er keine neuen Akzente. Im Unterschied zu seinem indirekten Vorgänger Ernst Haenchen (und zu den Aufsätzen von Martin Dibelius) lehnt er es ab, vom typisch lukanischen Stil einer Erzählung auf völlige Fiktionalität zu schließen. Auch gelegentliche Bezugnahmen auf Philipp Vielhauer oder Ernst Käsemann lassen einen forschungsgeschichtlichen Generationenabstand erkennen. Den Versuchen, Bruchstücke verwendeter Quellen genau zu rekonstruieren, kann er wenig abgewinnen. Was die umstrittene Annahme verwendeter Lokaltraditionen betrifft, sieht M. die Beweislast bei den Skeptikern (588). Auf die Frage nach dem Quellenwert der Wiedergabe von Predigten verweist er pauschal auf Thukydides (38) und schreibt z. B. bei der Besprechung der Pauluspredigt Apg 13,13–52: »Ich sehe hier, wie bei den Reden in Apg 2–5, das Talent des Verfassers, auf der Basis ihm überlieferter Erinnerungen die wahrscheinliche Gestalt der an die Juden gerichteten Verkündigung des Paulus zu rekonstruieren.« Berührungen mit Motiven antiker Romanliteratur werden aufgezeigt, ohne die Apostelgeschichte im Ganzen in der Nähe dieser profanen Literaturgattung anzusiedeln.

M.s Stärke ist die geradezu liebevolle narratologische Analyse: Einfühlung in die Absichten des Erzählers durch das Achten auf die Wortwahl, auf Wiederholungen und auf Anspielungen. Die Erhellung der Erzählweise dient der Herausarbeitung theologischer Hauptanliegen des Lukas und seiner Absichten in der Beeinflussung des Lese-Publikums. Beachtlich ist auch, wie M. die Regeln antiker Rhetorik in den Reden der Apostelgeschichte befolgt sieht und deren Bezug auf die geschilderte Situation herausarbeitet. Die Wahl »gepflegter« Ausdrucksweisen im Dialog mit Höhergestellten (z. B. durch den seltenen Optativ) wird dabei mit Recht als Indiz für das Bildungsniveau des Autors (und seines Publikums?) gewertet. Mein persönlicher Lektüre-Gewinn: Von der Abfassung meines eigenen Acta-Kommentars (2019) war mir das Was dieser Schrift hinreichend vertraut. Durch die Lektüre von M.s Kommentar ist mir das Wie der Arbeit des Lukas auf neue Weise eindrucksvoll vor Augen gestellt worden.

Dass die Apostelgeschichte der zweite Teil des lukanischen Werkes ist, wird immer wieder an sprachlichen Parallelen im Lukasevangelium aufgewiesen – oder an Erfahrungen der Apostel, die an das Schicksal Jesu nach dem Lukasevangelium erinnern. Was die Diskussion über die literarische Gattung der Apg betrifft, schlägt M. den Begriff »Gründungsbericht« vor (406). Das legt die Frage nahe, welches Publikum gegen Ende des 1. Jh.s ein Interesse am Ursprung des Christentums und an einer Klärung seiner »Identität« hatte (vgl. 38 und 46).

In theologischer Hinsicht ist vor allem zu begrüßen, dass M. im Gegensatz zu seinen Vorgängern in der Kommentarreihe (Ernst Haenchen und Jacob Jervell) nicht vom verstockten und verworfenen Israel oder vom Ausscheiden der ungläubigen Juden aus Israel spricht (vgl. u. a. 795). Vielmehr schildert er bis zum Schluss eine Spaltung innerhalb Israels durch die Reaktionen auf die Predigt des Evangeliums. Das Christentum verdrängt Israel nicht aus der gottgewollten Heilsgeschichte, sondern stellt von Ort zu Ort nur immer wieder vor Entscheidungen! Apg 28,17−29 schildert keinen letzten (angeblich vergeblichen) Versuch. Allerdings rückt die Legitimierung der weltweiten Ausbreitung des Evangeliums (vgl. Apg 1,8) durch ihre Verankerung in der Biographie des Paulus stärker in den Vordergrund. Das relativiert aber nicht dessen wiederholtes Bekenntnis zur »Hoffnung Israels«!

Auf den jahrzehntelang umstrittenen Vergleich zwischen dem lukanischen Paulusbild und dem Paulus der Briefe kommt M. wiederholt zu sprechen, nicht nur im Exkurs zur Frage einer »natürlichen« Theologie (Erkenntnis Gottes aus der Wahrnehmung der Schöpfung) im Vergleich zwischen Apg 17 und Röm 1 (630–632). Dabei überwindet er die häufige Fixierung auf Römer- und Galaterbrief als maßgebliche Quellen über Paulus (eine Folge der Paulus-Rezeption Luthers und von Fragestellungen der dialektischen Theologie) durch die Heranziehung anderer Paulusbriefe. Jacob Jervell hatte dieser Entschärfung des angeblichen Kontrasts schon lange vorgearbeitet.

Zu der Frage, ob die Wende im Leben des Paulus als eine Bekehrung oder eine Berufung zu bezeichnen ist, votiert er in der Auslegung von Apg 9 überzeugend für »Bekehrung«, aber ohne den verbreiteten Beiklang einer »Entscheidung«.

Verdienstvoll ist die Besprechung inhaltlich relevanter textkritischer Probleme (z. T. in Anmerkungen), besonders was den Codex Bezae und seine »Verwandten« betrifft.

Als Beispiel für nobody is perfect erwähne ich, dass M. den Namen »Saul« (sowie »Simeon« für Petrus) für aramäisch hält. Unzutreffend ist auch die Bezeichnung der Samaritaner als ein »schismatisches Judentum« (326 u. 328, ähnlich 344), wo sie doch eine mit den Juden konkurrierende Konfession innerhalb Israels (im Gebiet des ehemaligen Nordreiches) waren (und sind): mit dem Pentateuch als einziger kanonischer Schrift und damit auf Mose zentriert, mit dem Garizim als Konkurrenz zum Zion in Jerusalem. Das Begräbnis Jakobs bei Sichem ist darum keine »Verlagerung weg vom heiligen Land« (so 285), und die Mission des Philippus in Samarien ist darum nicht »der erste Schritt zur Mission außerhalb Israels« (336).

Was die Übersetzung ins Deutsche betrifft, so geht die Farbe oder Tonart des Originals leider oft verloren. Für die zweite Auflage müssten mindestens die Fälle von »falschen Freunden« korrigiert werden: Ein »magistrat« ist eben kein »Magistrat«, sondern ein Beamter. Und Petrus war während seiner Vision nach Apg 10 keineswegs in einer »Ekstase«, und »Ekstase« ist im Deutschen kein Synonym zu »Vision« etc.

Abschließend kann ich nur sagen: Long live the book!