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Ausgabe:

März/2023

Spalte:

182–184

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Kammler, Hans-Christian

Titel/Untertitel:

Jesus Christus – Grund und Mitte des Glaubens. Exegetische Studien und theologische Aufsätze. = Lutherische Theologie im Gespräch, 2.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2021. 464 S. Geb. EUR 98,00. ISBN 9783374067961.

Rezensent:

Walter Klaiber

Hans-Christian Kammler, apl. Professor für Neues Testament an der Evangelisch-theologischen Fakultät in Tübingen und Lehrer an einem Gymnasium, legt in diesem Band 15 Aufsätze und Studien über verschiedene neutestamentliche Themen vor. Die meisten von ihnen sind schon publiziert, aber die drei umfangreichsten und für sein Anliegen gewichtigsten erscheinen zum ersten Mal: »Der Kreuzestod Jesu Christi als Zentrum des christlichen Glaubens« (19–82), »›Solus Christus‹ – Das Proprium christlichen Glaubens« (289–314) und »›Nicht aus eigener Vernunft noch Kraft‹ – Wie kommt der Mensch zum Glauben?« (315–346). K. ordnet die Aufsätze in vier Rubriken ein: »I. Kreuz und Auferstehung«; hier tritt zu der erstgenannten Studie ein Artikel über »Wirklichkeit und Bedeutung der Auferstehung Jesu Christi« (83–100); »II. Die Evangelien« mit Aufsätzen zu Mt 4,1–11 (101–124), Mt 28,16–20 (125–132), der Markuspassion (133–162) und der Theologie des Johannesevangeliums (163–186); »III. Paulus und Luther« mit zwei weiteren Aufsätzen zur paulinischen Kreuzestheologie (189–236), zu Röm 9,5b (237–254), einer Auseinandersetzung mit der »New Perspective on Paul« (255–280) und Thesen zur Rechtfertigungslehre Luthers (281–286); »IV. Glaube – Kirche – Hoffnung«, mit den beiden anderen unveröffentlichten Arbeiten, sowie »Die Wahrheit des Evangeliums und die Einheit der Kirche« (347–376) und »Der Trost des Evangeliums angesichts des Todes« (377–400).

So vielfältig die Einzelthematik erscheint, es sind doch einige Grundthemen, die sich durch fast alle Aufsätze hindurchziehen: Die grundlegende Bedeutung der theologia crucis, die Geltung des solus Christus und frühe Bezeugung der Göttlichkeit Jesu in den neutestamentlichen Schriften und der absolute Vorrang der göttlichen Gnade vor aller menschlichen Antwort darauf. Diese Themen werden anhand der neutestamentlichen Texte klar und eindringlich entwickelt; damit verbunden ist auch das Eintreten für die klassische Deutung der paulinischen Rechtfertigungslehre in fairer Auseinandersetzung mit der sog. New Perspective. Was K. hier entwickelt, sind die Grundlinien einer am Zeugnis der Reformation orientierten Theologie, die mich selbst seit Beginn meines Studiums für das theologische Denken begeistert hat und bis heute dessen Grundlage darstellt. Nicht umsonst ist H. J. Iwand neben seinem Lehrer O. Hofius der meistzitierte Autor in den umfangreichen Anmerkungen. Dennoch wirken diese Thesen heute merkwürdig unzeitgemäß, und dem Mut K.s, sie so klar und eindeutig vorzutragen, gebührt große Anerkennung.

Gleichwohl habe ich den Band mit einer Reihe von Fragen an die Durchführung dieses Programms aus der Hand gelegt. Zu einlinig, um nicht zu sagen einseitig, scheinen mir im Blick auf den Befund in den Texten manche der Ausführungen zu sein. Ich nenne einige Beispiele: K. betont immer wieder, wie schon im Neuen Testament Jesus als »wahrer Gott« dargestellt wird. Das ist angesichts heutiger Tendenzen, Jesus vor allem als vorbildlichen Menschen zu sehen, verständlich. Aber es führt dazu, dass man sich an manchen Stellen fragt, ob das »wahrer Mensch« bei ihm nicht zu kurz kommt. Kann man z. B. die Bedeutung der Versuchung Jesu so eng auf »den einzigartigen, weil streng soteriologisch qualifizierten Gehorsam des Gottessohnes« beschränken? Ist die »Gottverlassenheit« Jesu am Kreuz wirklich völlig »analogielos« (156) und nicht doch auch Ausdruck der Übernahme des menschlichen Todesgeschicks? Oder ist in Gal 4,5 das »unter das Gesetz getan« wirklich nur auf das »Kreuzesgeschehen«, die Übernahme des Fluchs des Gesetzes, zu beziehen (so 193 A.17) und im Zusammenhang nicht eindeutig Zeichen des Judeseins (und damit Mensch-Seins) Jesu?

K. betont immer wieder, dass die »Dahingabe Jesu« ganz als »Handeln Gottes« zu verstehen ist (z. B. 143). Damit entsteht freilich an nicht wenigen Stellen der Eindruck, dass dieses Geschehen letztlich eine göttliche Inszenierung ist und die tiefe Dialektik zwischen schuldhaftem Handeln menschlicher Akteure und der göttlichen Absicht verloren geht. Diese Anfragen betreffen insbesondere die Interpretation des Johannesevangeliums. Dass Johannes sehr eindringlich darstellt, wie im Weg Jesu die göttliche Herrlichkeit sichtbar wird, dürfte unbestritten sein. Wie weit aber kommt in seiner Darstellung auch die andere Seite von 1,14, die Fleisch-Werdung des Logos, zum Tragen? Liest man K.s Interpretation, so erhält man den Eindruck, dass Käsemann mit seiner Charakteristik des johanneischen Christus als »über die Erde wandelnden Gott« nicht so unrecht hatte. Ich halte die Interpretation der johanneischen Kreuzestheologie durch K. grundsätzlich für zutreffend, bedauere aber, dass er sich – soweit ich sehe – mit ihren Bestreitern nicht auseinandersetzt.

Eine letzte Anfrage gilt der Darstellung der göttlichen Prädes-tination zum Heil (315–346). Es kann keine Frage sein, welch hohe Bedeutung der absolute Vorrang des göttlichen Gnadenhandelns vor aller menschlichen Antwort und Entscheidung im Neuen Tes-tament hat. Das arbeitet K. klar heraus. Aber sprechen die neutes-tamentlichen Texte wirklich von einer »völlige(n) Passivität des Menschen im Blick auf seine Gottesbeziehung«? Jesus wird mehrmals gefragt: »Was muss ich tun, um das ewige Leben zur erben« (Mk 10,17parr; Lk 10,25), so wie Paulus nach Apg 16,30 f. »Was muss ich tun, um gerettet zu werden?«. Aber keiner der beiden antwortet dogmatisch korrekt: »Nichts kannst du tun. Gott hat alles getan!« Dass Jesus mit dem Hinweis auf das Tun des Gesetzes und Paulus mit der Aufforderung: »Glaube an den Herrn Jesus Christus« antwortet, ist ein spezielles Problem, aber beide fordern doch zu einer Form menschlicher Aktivität auf! Das verlorene Schaf und die verlorene Drachme werden gefunden, aber der verlorene Sohn macht sich zu seinem Vater auf, so entscheidend es dann ist, dass ihm der Vater schon entgegenkommt. Ob das wirklich nichts mit Umkehr zu tun hat (321)? Ohne eine gewisse Dialektik wird man hier nicht auskommen. Denn dass es sich in Phil 2,12 f. »keineswegs um eine paradoxe Aussage handelt« (324 A.11), ist angesichts des Wortlauts schwer zu verstehen. Und dass Paulus in einem ebenfalls »paradoxen« Imperativ Passiv im Namen Gottes inständig bittet (!): »Lasst euch versöhnen mit Gott« müsste in seiner Bedeutung auch gewürdigt werden.

Dass im Johannesevangelium die Priorität der göttlichen Berufung eine entscheidende Rolle spielt, ist unbezweifelbar. Und doch gilt die rettende Hingabe des Sohnes Gottes nicht denen, die der Vater berufen hat, sondern »allen, die an ihn glauben« (3,16). Darum ruft Jesus gerade bei Johannes immer wieder neu dazu auf, an ihn zu glauben (3,36; 5,24; 6,40; 14,11 f.). Das Paradox zeigt sich auch hier: Menschen werden zum Glauben gerufen und für ihren Unglauben verantwortlich gemacht (3,36; 16,9), aber dass sie glauben können, ist Gnade! Das mag logisch unbefriedigend sein, aber entspricht einer Grundspannung, die die ganze biblische Botschaft durchzieht, in der Gottes zuvorkommende Gnade und die Verantwortung des Menschen in einem dialektischen Verhältnis zueinander stehen. Dass Gottes »Liebe unwiderstehlich ist« (341), entspricht leider weder dem Zeugnis der Bibel noch unserer menschlichen Erfahrung.

All diese Fragen sollen aber nun nicht überdecken, dass ich die Ausführungen K.s zur neutestamentlichen Soteriologie grundsätzlich für richtig und für wichtig halte und überzeugt bin, dass seine Grundthesen sich auch bewähren, wenn das Zeugnis der neutestamentlichen Texte stärker in seiner Differenziertheit und Mehrdimensionalität gesehen wird, als das bei K. der Fall ist. So hoffe ich, dass die Herausforderung, vor die er stellt, zu einem kräftigen Impuls wird, sich mit seinen Thesen auseinanderzusetzen.