Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

März/2023

Spalte:

170–174

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Maier, Christl M.

Titel/Untertitel:

Jeremia 1–25.

Verlag:

Stuttgart: W. Kohlhammer Verlag 2022. 468 S. = Internationaler Exegetischer Kommentar zum Alten Testament. Geb. EUR 109,00. ISBN 9783170200746.

Rezensent:

Hermann-Josef Stipp

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Sharp, Carolyn J.: Jeremiah 26–52. Stuttgart: W. Kohlhammer Verlag 2022. 469 S. = International Exegetical Commentary on the Old Testament. Geb. EUR 119,00. ISBN 9783170200838.


Die Kommentarreihe IECOT/IEKAT ist nicht nur, wie heute erfreulicherweise normal, interkonfessionell, international und interreligiös (jüdisch/christlich) angelegt, sondern dient auch dem Ziel, unterschiedliche Wissenschaftskulturen zusammenzuführen, wie sie sich heute namentlich zu beiden Seiten des Atlantiks ausgebildet haben und bevorzugt in verschiedenen Gewichtungen diachroner oder endtextorientierter Belange hervortreten. Deswegen sollen sämtliche Bände auf Deutsch und Englisch erscheinen und methodisch die genannten Schwerpunkte verbinden. Das Jeremiabuch hat man als längstes Buch der Bibel nach einem in der Buchstruktur verankerten Schnitt auf zwei Autorinnen verteilt, die den beiden Kontinenten entstammen, eng kooperieren, durch eine Fülle von Publikationen zum Gegenstand ausgewiesen sind und sowohl durch eine gemeinsame berufliche Vergangenheit als auch freundschaftlich verbunden sind: Christl M. Maier (Marburg, früher Yale) und Carolyn J. Sharp (Yale). Nun sind die beiden – mit zusammen 228 EUR sehr teuren – Bände gleichzeitig in ihrer Originalsprache erschienen, jeweils mit Eigenheiten, die durchaus die divergenten Charakteristika der betroffenen Wissenschaftskulturen repräsentieren.

Die erklärte Besonderheit dieses Kommentars besteht in den hermeneutischen Optionen, gespeist aus Feminismus, Postkolonialismus und Traumatheorie, die deshalb neben den üblichen Themen wie Textgenese, historische Hintergründe u. a. in umfangreichen Einleitungen detailliert vorgestellt werden. Christl M. Maier setzt sich zum Ziel, die in der Vielstimmigkeit des Jer angelegte »Multiperspektivität« (32) zur Geltung zu bringen: »Als feministische Auslegerin des Jeremiabuches will und kann ich die weitgehend dominante Stimme Jeremias bzw. Gottes nicht einfach übernehmen, sondern versuche, die verschiedenen Stimmen im Text zu Gehör zu bringen und die dominante Stimme zu hinterfragen.« (34) Die Erklärung beginnt mit der Textabgrenzung von Gliederungseinheiten des Buches und der Identifikation der Kommunikationsstruktur (Rederollen). Die Übersetzung schließt unter diakritischen Zeichen Abweichungen der LXX ein und markiert Prioritätsurteile durch unterschiedliche Schriftgrößen, begleitet von ausführlichen Erläuterungen. Mit der großen Mehrheit der gegenwärtigen Forschung bewertet M. die Jer-LXX als Vertreterin einer älteren Entwicklungsstufe des Buches. Die Exegese verfährt in einem Dreischritt: Die »Synchrone Auslegung« fasst das Material zumeist als Folge rezitierter Reden auf, die mittels der Dramentheorie beschrieben werden, wie sie an antiken Dramen entwickelt sowie von H. Utzschneider und S. A. Nitsche für biblische Prophetenbücher aufbereitet wurde. Die »Diachrone Analyse« begründet, wie sich der Text nach den in der Einleitung skizzierten Schichten auffächere, bevor die »Synthese« die konzeptionelle Entwicklung der Einheit nachzeichnet, wie sie sich aus der rekonstruierten Textgenese ergebe, und ein Fazit entwirft.

Das von M. favorisierte textgenetische Modell des Buches teilt wichtige Grundzüge mit anderen derzeit vertretenen Vorschlägen, und schon das ist bei der notorischen Umstrittenheit solcher Thesen nachgerade ein Grund zum Feiern. Ihre exilische »geschichts-ätiologische Redaktion« stimmt weitgehend mit der deuteronomistisch genannten Redaktion in Jer 1–25 überein; ihre ebenfalls exilische »golaorientierte Redaktion« kommt der dtr Redaktion von Jer 26–45 nahe, habe allerdings auch in die vorderen Teile des Buches eingegriffen. Man fragt sich lediglich, welchen Gewinn die Umbenennungen erbringen sollen, zumal das Etikett »golaorientierte Redaktion« schon durch K.-F. Pohlmann andersartig gefüllt worden war. Eine Besonderheit M.s ist die »toraorientierte Redaktion«, die Jeremia im 5. Jh. zum Toralehrer stilisiert habe.

Typisch für die deutschsprachige exegetische Kultur ist die Leis-tungsfähigkeit, die M. der literarkritischen Methodik bei der Rekonstruktion der Genese poetischer Einheiten zutraut. Reflexionsbedarf sehe ich bei der Kriteriologie von Postulaten literarischer Zäsuren und von Datierungen. Wenn etwa verstreute Elemente deuterojeremianischer Terminologie oder Konzeptionen sekundäre Zutaten anzeigen sollen, fragt man sich, ob die Trennlinie zwischen dem Propheten und seinen Redaktoren zu scharf gezogen wird. Wenngleich Jeremia selbst kaum als Deuteronomist klassifizierbar ist, dokumentieren die Erzählstoffe doch Kontakte zu solchen Kreisen, und die Deuteronomisten müssen Gründe gehabt haben, ihn zu ihrem Sprecher zu erheben. Ferner soll beispielsweise 5,1 späten Ursprungs sein, weil »die überwiegende Mehrzahl der Belege für חלס ›verzeihen‹ exilischen und nach-exilischen Texten« entstammt (140). Das Verb war also deshalb wenige Jahrzehnte zuvor noch nicht nutzbar? In 5,4 soll םילד die gleichlautende Form in 39,10 voraussetzen (ebd.) – ein Vers aus dem masoretischen Überschuss 39,4–13. Die Dringlichkeit, die Kriteriologie von Datierungen zu überdenken, lässt sich kaum deutlicher unterstreichen.

Der Einfluss hermeneutischer Prämissen sei an Passagen mit sexualisierter Metaphorik veranschaulicht. Zu 2,23 f. bemerkt M.: »Meiner Meinung nach verbindet der Vergleich des weiblichen Juda mit einer jungen Kamelstute und einer brünstigen Wild-eselin […] Frau und Natur symbolisch und charakterisiert weibliches Begehren als instinktgetrieben und animalisch.« (35; vgl. auch 85) Zu 5,8 heißt es: »Der Ausdruck ›feiste, geile Hengste‹ […] verurteilt das sexuelle Fehlverhalten der Männer und animalisiert es, vergleichbar der Metapher der brünstigen Wildeselin in 2,24. Während solches Verhalten bei Hengsten der Natur entspricht, erscheint es bei Männern als widernatürlich. Diese polemische Charakterisierung, die männliche Sexualität verzerrend darstellt, verstärkt den Schuldaufweis […].« (137) Die genannten Verse verurteilen sexuelle Grenzverletzungen oder setzen angeprangerte Verfehlungen bildhaft mit solchen gleich. Aber wo verfallen sie derartigen Generalisierungen, wie ihnen hier bescheinigt wird? Kann es sein, dass sich die Pflicht zum genauen Hinsehen lockert, wenn aller Wahrscheinlichkeit nach ein Mann die Feder geführt hat? Zu 6,22–26 liest man: »Diese Metaphorik der Gewalt trägt zu einem ›blaming the victim‹ bei, das erklärungsbedürftig und abstoßend ist. […] Die Wirkung dieser Metaphorik ist aus heutiger Perspektive jedoch fatal, da sie weibliche Sexualität verzerrt darstellt und deren Kontrolle durch Männer propagiert. Auch im Blick auf das Gottesbild ist die Metapher vom zornigen Vater oder Ehemann, der die sexualisierte Gewalt des Feindes zulässt, ungeeignet, die Beziehung Gottes zu seinem Volk angemessen auszudrücken.« (161) Ob man den Passus nach harten Vorwürfen sozialen Unrechts wirklich einfach als victim-blaming abtun kann? Impliziert die Ansage eines kriegerischen Strafwerkzeugs über einen feminin personifizierten Opferkreis, dass »sie weibliche Sexualität verzerrt darstellt und deren Kontrolle durch Männer propagiert«? Ob ferner eine Religion, die den Kreuzestod Jesu als zentrales Heilsereignis zu begreifen sucht, gut beraten ist, wenn sie ihre Gottesbilder rundum weichspült? Und wissen wir das ganz bestimmt besser als die Kolonialismus-Opfer, die dies niederschrieben? Korrekt eingeordnet sind solche Aussagen indes tatsächlich nur im Kontext von Gegengewichten, wie sie sich auch in Jer finden, aber beim Reden über Gott zwangsläufig ebenso aspektuell bleiben, wie es auch das hier betroffene Prophetenwort tut. Diese Bemerkungen sollen jedoch nicht die Tatsache verdunkeln, dass dieser Kommentar eine Fülle an Sachinformation auf dem Stand des Wissens bietet, vertieft durch mehrere Exkurse zu Teilthemen. Das Engagement für ein hermeneutisches Herzensanliegen ist eben nicht gleichbedeutend mit Abstrichen an der exegetischen Professionalität.

Im Band zur zweiten Hälfte des Jeremiabuchs räumt Carolyn J. Sharp der Einleitung bei gleichem Buchumfang nochmals deutlich mehr Raum ein (68 gegenüber 41 Seiten) und erhebt die emblematische Kluft zwischen den Exegese-Traditionen diesseits und jenseits des Atlantiks explizit zum Thema. Um ihre radikale Spielart der für angelsächsische Milieus typischen Skepsis gegenüber diachronen Hypothesen zu rechtfertigen, beruft sie sich auf die Tatsache, dass Hypothesen nun einmal eben dies sind: Hypothesen, die niemals mit letztgültiger Sicherheit bewiesen werden können. Sogar zu der durch Faktenbasis und hochgradig standardisierte Methodik anscheinend relativ gut aufgestellten Textkritik hält sie fest: »How one interprets those divergences […] depends a great deal on one’s governing premises.« (22) Wenn Hypothesen bloß die beliebigen Voraussetzungen ihrer Urheber vollstrecken, sollte man sich die Zeitverschwendung sparen, und S. wird nicht müde zu beteuern, dass Vorlagenrekonstruktionen lediglich »speculation« zustande bringen. Zugleich illustriert sie das Niveau der gängigen Kritik an diachronen Studien, indem sie exemplarisch eine redaktionsgeschichtliche Globaltheorie zu Jer von Rainer Albertz bespricht (30–32), die in einem Überblickswerk veröffentlicht ist, wo Albertz seine Theorie inklusive Forschungsüberblick knapp zusammenfassen muss (in englischer Übersetzung: Albertz, Israel in Exile, Atlanta 2003, 302–345) und mit nur wenigen Gründen rechtfertigen kann, aus denen S. mit leichter Hand drei ausgewählte Fälle als nicht beweiskräftig verwirft (31 f.). Kennt man sich mit der Indizienlage ein wenig aus, kann einem Albertz bloß leidtun, wenn man sieht, welche methodische Naivität und Schlichtheit der Argumentation ihm faktisch attestiert wird. Zudem kann man offenbar, sofern gewillt, jeden schwierigen Befund als hohe Kunst feiern. Was immer hilft: Ironie zu diagnostizieren, denn wer will sich schon sagen lassen, hintergründigen Feinsinn nicht zu durchschauen?

Nun könnte man meinen, Wissenschaftler, die keine Hypothesen mögen, sollten den Beruf wechseln, da Wissenschaft nun einmal nichts anderes produziert als Hypothesen. Doch mit S. dürfen wir auf feministische, womanistische, queere und postkoloniale Theorien bauen, weil sie keine Spekulationen liefern, sondern »insights« (45 u. ö.). Die Wissenschaftlichkeit von Exegese entscheide sich primär an der Bereitschaft, die Mechanismen von gender und power in Gegenstand und Interpretationsprozessen zu benennen sowie die eigenen ideologischen und hermeneutischen Positionen offenzulegen (46). Wenn sog. Fakten ohnehin bloß durch ideologische Brillen erzeugte Konstrukte darstellen, zählt einzig die Wahl der richtigen Brille. Ansprüche auf Objektivität und Neutralität – konkret: das Vertreten exegetischer Lehrmeinungen – sind bestenfalls Selbstbetrug, eher aber »intellectual imperialism« (46) bzw. »tyranny of scientism« (58). Gesinnung sticht Fakten; das demonstrative Bekenntnis zur Gerechten Sache verschafft methodischen Freiraum, indem es Kritik vorweg dem Ruch des Verrats unterwirft. Deswegen hat der richtige Standpunkt eine Sonderlizenz: Er ist so kämpferisch zu propagieren, wie S. es vorführt. Sie nennt zwar ihren Kommentar »both scholarly and activist« (65), freilich bei klarer Hierarchie dieser Dimensionen. Ein Schelm, wer denkt, hier habe bloß ein neues Lehramt ein altes abgelöst. Selbst wenn man S.s Anliegen die Sympathie nicht verweigern möchte, fragt man sich, wie weit ihr historisch geschultes Gespür für die Abschüssigkeit des beschrittenen Weges gediehen ist. Fraglos muss sich jede Wissenschaft ihrer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung stellen, doch hier bleiben Zweifel, ob von checks and balances noch ernsthaft die Rede sein kann.

Für die fortlaufende Erläuterung des Jeremiabuches scheint S. zunächst das auch von M. benutzte Raster zu variieren, indem sie unter »Interpretation« die »Diachronic Analysis« der »Synchronic Analysis« voranstellt und mit einem »Integrative Reading« schließt. Die konventionell klingenden Etiketten erweisen sich indes als irreführend. Weil S. zufolge Vorlagenrekonstruktionen kritisch überholt sind, finden sich unter dem Titel »Diachronic Analysis« Details, die man als Hintergrundinformationen klassifizieren könnte, etwa zu Figuren, historischen Kulissen, archäologischen Befunden u. a. m. Die als »Synchronic Analysis« überschriebenen Abschnitte kommen der klassischen Kommentierung entlang dem biblischen Text am nächsten, doch bleibt oft undurchsichtig, wieso bestimmte Stoffe unter dieser oder der vorigen Rubrik zur Sprache kommen. Warum wird bei 35,4 der Titel »Schwellenwächter« in der »Diachronic Analysis« erklärt, »Gottesmann« hingegen unter Synchronie? Da keine diachrone Analyse stattfindet, wäre die Aufteilung besser entfallen. Die Überschrift »Integrative Reading« hat ebenfalls wenig mit den zugeordneten Inhalten zu tun: Auf ein kurzes Resümee des Vorangehenden folgen Schlaglichter der Rezeptionsgeschichte und Anregungen zur lebenspraktischen Applikation, freilich ganz konzentriert auf Menschen mit unkonventionellen sexuellen Orientierungen, was den Charakter des Bandes als identitätspolitischer Spartenkommentar unterstreicht.

Da S.s ideologische Prämissen exegetische Fachurteile (»sten- torian pronouncements and summative categorizations«, 50) strenggenommen verbieten, beschränkt sie ihre Auslegung weitgehend auf die Erläuterung von Einzelzügen, die dann wegen des Ausfalls textgenetischer Erklärungswege in ihrer rätselhaften Disparatheit stehenbleiben. Nicht selten reiht sie im Dienste eines programmatischen Pluralismus Fremdmeinungen unkommentiert anein-ander, oder der Potentialis übernimmt das Steuer: »The implied audience may be meant to […]«; »the implication may be that […]« (291); »we may hear this text instead as […]«; »the ideological pur-pose might be better understood as […]« (292); »it may also be a clue that […]« (294) usw. Entschiedene Parteinahme ist jedoch – im Kern ganz traditionell – dann gefordert, wenn die sana doctrina auf dem Spiele steht. S. prangert etwa die Praxis an, bei der Beschreibung von Jeremias Publikum in 43,9 den Ausdruck םידׅוּהְי םישׁ. ָ נֲא mit »judäische Männer« o. ä. statt mit »Judäer, Judeans« o. Ä. wiederzugeben und so zur »erasure of women« beizutragen. Hier sind »stentorian pronouncements and summative categorizations« kein Makel: »The androcentric rendering constitutes an insidious form of cultural violence not required by the Hebrew.« (285) Kein Wort davon, dass sich im Kontext die Bezeichnung םידׅוּהְי »Judäer« häuft und deshalb die Exegese gehalten sein könnte, den Unterschied zu beachten sowie überhaupt die Kluft zwischen der Welt des Textes und der Welt hinter dem Text zu respektieren, sofern Wissenschaft gerade nicht die Wirklichkeit nach unseren Wünschen zurechtbiegen soll.

Im Bemühen »to make more visible the violence of the Jeremiah traditions« (56) sei in 38,19 das Verb ללע-tD zur Beschreibung der von Zidkija seitens der Überläufer befürchteten Misshandlung im Licht von V. 22 durch »rape« zu übersetzen (57). Dem widerspricht zwar die Konkordanz, doch in diesem Denkrahmen kann die richtige Wiedergabe nur eine falsche sein. Ferner ist es in S.s Ansatz bloß konsequent, sich auf die Seite der in Jer 44 zitierten judäischen Götzendiener:innen zu schlagen, die nach Ägypten in die »diaspora from patriarchal and colonizing ways of interpreting ancient Judean religion and politics« entronnen sind (303). Als wären nicht gerade Monolatrie und Monotheismus das wichtigste antikoloniale Projekt Israels gewesen.

Die Autorinnen legen völlig zu Recht den Finger auf ein grundlegendes Problem im Umgang mit autoritativen religiösen Schriften: Die Unterscheidung der beiden Fragen, was erstens die Texte besagen und was wir zweitens damit anfangen, bleibt verbindlich und trennt reflektierte Religiosität von Fundamentalismus. Diese Fragen stellen sich umso nachdrücklicher beim AT mit dem ungeheuren zeitlichen und kulturellen Abstand zu seinen Entstehungshintergründen. Die Befassung mit der Bibel bleibt eben auch ein Exempel von Interkulturalität. Ihre Lektüre erschiene indes kaum lohnend, verliefe die Infragestellung nur von uns zur Bibel, nicht aber umgekehrt, weil man es als aufgeklärter Mensch ohnehin besser zu wissen glaubt und deshalb die Aufgabe allenfalls lautet, in diesem uralten Wälzer die Modernitätsdefizite anzustreichen. Es ist ja nicht ohne Ironie, wenn hochprivilegierte Professorinnen den antiken Autoren des Jer aus Kreisen von Kolonialismus-Opfern streng die Schäden ankreiden, die ihre patriarchalen Ideologien im Lauf der Jahrtausende angerichtet hätten: die anstößigen Züge ihrer männlichen Gottesbilder; das victim-blaming ihrer Ätiologien der Katastrophe; die weitgehende Reduktion von Frauen auf Opferrollen; die Metaphorisierung von Fehlverhalten als illegitime Sexualität; die nahezu vollständige Abwesenheit von Frauen in den Erzählstoffen des Jer. Ist dieser selbstgewisse Maternalismus aus unbetroffener Warte wirklich eine Sternstunde postkolonialer Reflexion? Schließlich bezeugt schon die bloße Überlieferung des Buches, dass es als hilfreich bei der Bewältigung extremer Traumata empfunden wurde. Die Frage nach den Gründen macht das Werk interessant. Es gehört freilich zu den Vorzügen von M.s Kommentarband, dass sie weitaus mehr Sensibilität für die konstruktiven Leistungen des Jer aufbringt, etwa wenn sie dessen Gottesbilder als Früchte einer »spezifische[n] historische[n] Erfahrung« würdigt (129). Wenn es Grenzen der Infragestellung gibt, so betreffen sie fremde Erfahrungen.

Politische Korrektheit ist keine Stärke der prophetischen Literatur. Irritierte in Zeiten zopfiger Prüderie Hoseas Ehe mit einer Dirne, sind es heute beispielsweise die unwoke Sprache, die widerständigen Gottesbilder oder die unbequemen Geschichtsdeutungen. Der Prophetismus bleibt eine Provokation. Sollte ich Jeremia und seine Schüler richtig verstehen, war genau das ihr Plan.