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Ausgabe:

März/2023

Spalte:

159–160

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Bork, Johannes

Titel/Untertitel:

Zum Konstrukt von dār al-islām und dār al-ḥarb. Die zeitgenössische Rezeption eines Konzepts des klassischen islamischen Rechts.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2020. XII, 740 S. = Islamkundliche Untersuchungen, 342. Geb. EUR 69,95. ISBN 9783110668773.

Rezensent:

Christine Schirrmacher

Johannes Bork hat sich in seiner Promotionsschrift einer fundamentalen Aufgabe zugewandt, nämlich der Nachzeichnung der Entstehungsgeschichte der beiden Begriffe dār al-Islām (das »Haus« oder »Gebiet des Islam«) und dār al-ḥarb (das »Haus« oder »Gebiet des Krieges«) und einer detaillierten Aufschlüsselung ihrer heutigen Verwendung. Bei dieser Thematik geht es nicht nur um eine historische Studie: Von gesellschaftlicher Relevanz ist vielmehr die damit verbundene Frage, inwieweit Muslime sich im Zeitalter der Globalisierung und Migration in westliche Gesellschaften integrieren können, sollen oder müssen. Kann aus diesem Konzept der Zweiteilung der Welt in zwei dichotome Sphären eine theologische Begründung für eine friedliche Koexistenz abgeleitet werden oder bedingt es ausschließlich Segregation und Feindschaft? Nicht selten wird mit Verweis auf diese beiden Begriffe der islamisch geprägten Welt unterstellt, nicht-islamische Länder grundsätzlich als Feindesgebiet zu betrachten, gegen das unvermeidlich der bewaffnete ğihād zu führen sei. Der Kriegszustand und der Wunsch nach Eroberung der westlichen Welt sei also gewissermaßen dem Islam inhärent, so eine häufig geäußerte Vermutung.

Dass »dem Islam« solch ein Konzept nicht inhärent sein kann, wird jedem rasch deutlich, der den Versuch unternimmt, »den Islam« in diesem Kontext definieren zu wollen, handelt es sich doch um eine äußerst vielfältige Weltreligion in Bezug auf islamisch-theologische Positionierungen in einer rund 1.400-jährigen (Theo-logie-)Geschichte, der zudem die Besonderheit innewohnt, keine oberste Lehrautorität zu kennen – auch keine oberste Lehrautorität innerhalb des sunnitischen oder schiitischen Bereichs. So ist es nur folgerichtig, die wichtigsten Auffassungen heutiger Religionsgelehrter zur Thematik zusammenzutragen und auszuwerten, was sich allerdings als monumentales Unternehmen erweist. Die Zahl der arabischen Quellen, die B. dafür herangezogen hat, ist immens: Er richtet seinen Blick vorwiegend auf den arabisch-sunnitischen, für die islamische Theologie nach wie vor tonangebenden Raum, um einen Überblick über Entstehung, Geschichte und heutiges Verständnis des »Islamgebiets« und des »Kriegsgebiets« präsentieren zu können.

Wie also positionieren sich zeitgenössische Islamgelehrte zum Konzept des »Islamgebiets« und »Kriegsgebiets«?

B. hat seine Studie in drei Teile mit insgesamt 14 Kapiteln untergliedert: Der erste Teil (Kap. 1 bis 6) beschäftigt sich mit der Konzeption des Begriffs zur Entstehungszeit des islamischen Rechts im 8./9. Jh.: Einer Zeit, in der sich die Begrifflichkeit »Islamgebiet« und »Kriegsgebiet« in der islamischen Rechtsliteratur ungeachtet der Tatsache etabliert hatte, dass es sich nicht um koranische Termini handelt. Sodann wendet sich B. der Ausarbeitung und inhaltlichen Definition beider Begriffe durch namhafte Gelehrte zu Zeiten der Systematisierung des islamischen Rechts im 11./12. Jh. zu, um zuletzt die Applikation der Termini auf herausragende historische Ereignisse des Hoch- und Spätmittelalters nachzu-zeichnen (Kreuzzüge, Mongoleninvasion, Reconquista).

Der zweite Teil (Kap. 7 bis 12) wendet sich nun der eigentlichen Fragestellung zu, also der inhaltlichen Ausleuchtung der Termini »Islamgebiet« und »Kriegsgebiet« bei einflussreichen zeitgenössischen Islamgelehrten. Nach grundsätzlichen Überlegungen zum islamischen Recht in der Moderne werden aus einer beeindruckenden Fülle von Quellenmaterial prominente Verlautbarungen zunächst aus dem 19. Jh., einer Zeit großer politisch-geistiger Umbrüche durch Kolonialismus und Reformislam in den islamisch geprägten Regionen, zusammengetragen. Ergänzt werden sie durch jüngere Interpretationen des ğihād-Konzepts im 20. Jh. Besonders seit dem 11.9.2001 ist in diesem Kontext eine Intensivierung der innerislamischen Gelehrtendebatte zu beobachten, die B. in konservative, modernistische, wahhabitische und jihadistische Vertreter unterteilt. Teil drei wertet die Ergebnisse aus und fasst sie nochmals zusammen.

Es wird deutlich, dass das Konzept des »Islamgebiets« und »Kriegsgebiets« bis heute im Diskurs einflussreicher islamisch-arabischer Gelehrter eine beachtliche Rolle spielt, zumeist, um Distinktion und Abgrenzung zu begründen, in manchen Fällen jedoch auch modifiziert zur Überbrückung der Distinktion und der Begründung von Dialog und Verständigung eingesetzt wird.

B.s Studie verdeutlicht eindrucksvoll, dass sich das Konzept der Aufteilung der Welt in ein Kriegs- und ein Islamgebiet in der islamischen Theologie einerseits früh etablieren konnte, andererseits aber über die Jahrhunderte hinweg keineswegs stringent bejaht wurde und auch heute nicht wird. Andererseits behielt das nicht-koranische Konstrukt der Teilung der Welt in zwei gegensätzliche Sphären durchaus seine Bedeutung und wurde zumeist in Krisensituationen wie zur Zeit des Untergangs des Abbasidenkalifats durch die Mongoleneinfälle, die Kolonialzeit oder das Aufkommen des Jihadismus jeweils neu als Referenzrahmen aufgewertet, um Einigkeit nach innen herstellen und Widerstand nach außen mobilisieren zu können.