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Ausgabe:

Dezember/1998

Spalte:

1219 f

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Busch, Norbert

Titel/Untertitel:

Katholische Frömmigkeit und Moderne. Die Sozial- und Mentalitätsgeschichte des Herz-Jesu-Kultes in Deutschland zwischen Kulturkampf und Erstem Weltkrieg.

Verlag:

Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 1997. 368 S. gr.8 = Religiöse Kulturen der Moderne, 6. Geb. DM 88,-. ISBN 3-579-02605-4.

Rezensent:

Rudolf Lill

Abgesehen von der einleitenden unsachlichen Polemik gegen die Kommission für Zeitgeschichte und überhaupt die herkömmliche, angeblich durch "die Fesseln des Dogmas" gebundene katholische Kirchengeschichtsforschung, in der z. B. das Werk Hubert Jedins völlig verzeichnet wird (12 f. mit Anm. 8 und 9), ist dem Autor zunächst die Überschätzung seines Themas vorzuhalten. Denn in dem für die von ihm behandelte Periode maßgeblichen "Handbuch der Katholischen Dogmatik" von M. Joseph Scheeben (3 in 4 Bänden, Freiburg 1873-1887), findet sich unter 298 Abschnitten keiner über das "Herz Jesu"; und im epochalen Werk von Karl Adam "Das Wesen des Katholizismus" (zuerst 1924, 11. Aufl. 1945) kommt der Herz-Jesu-Kult ein einziges Mal vor (225). Er gehört eben nicht zum Zentrum katholischer Frömmigkeit; und das erklärt auch die für Busch (27) unverständliche Tatsache, daß sich in letzter Zeit kein Historiker damit beschäftigt hat; abgesehen von der Landesgeschichtsforschung in Tirol (wo das Herz-Jesu-Patrozinium ein Element historischer Identität geworden war), in der es allerdings nicht nur die von B. zitierte Arbeit von Günther Pallaver gibt, sondern auch zwei Aufsätze von Ludwig W. Regele: "Südtirol in Wort und Bild" (1992, Heft 3; 1994, Heft 3).

Aber neben dem durch die Messe bestimmten Kern des katholischen Kults gibt es etliche, in verschiedenen Epochen unterschiedlich gewichtete Randzonen. Zu einer gehört der Herz-Jesu-Kult, dessen Erforschung darum Elemente "katholischer Mentalität" und "religiöser Praxis ... der Durchschnittskatholiken" zu erhellen vermag, wohl weniger die von B. mit Bezug auf Wolfgang Schieder herausgestellte "Herrschaftsgeschichte" (17 ff.).

Im knappen I. Kapitel werden resümiert der zweifache Ursprung des Kults in der deutschen Mystik sowie in einer mystisch wie volkspädagogisch ausgerichteten Nebenströmung der als solcher nicht erkannten großen theologischen Kultur Frankreichs im 17. Jh.; die Verbreitung in der Barockzeit, besonders durch die Jesuiten, welche schon jene für den Katholizismus insgesamt charakteristische Integration von Kirchlichkeit und Volksfrömmigkeit erweist, die es nach Ansicht von B. und seinen sozialgeschichtlichen Mentoren erst im Ultramontanismus gegeben habe, sodann die Abdrängung des Herz-Jesu-Kults durch den aufgeklärten Reformkatholizismus.

B.s eigene Forschungen enthalten v. a. die Kapitel II-IV (63-309). Es geht darin um die Erneuerung des Kults durch den antiaufklärerischen, dabei die Unterschichten neuartig integrierenden Ultramontanismus seit den 1840er Jahren, um seine erneute Förderung durch die Gesellschaft Jesu und seine Rezeption durch die Päpste von Pius IX. bis Pius X., um seine Propagandisten wie Bischof Ketteler, um Vereine, Bruderschaften und Volksmissionen. Diese richteten sich vor allem an "einfache" Menschen und Familien, speziell auch an Frauen, denen B. Beiträge zu einer Feminisierung der Frömmigkeit attestiert. Das Ergebnis ist eine detaillierte Studie zum "katholischen Milieu", welches die Ultramontanen mit ihren Frömmigkeits- und Organisationsformen verfestigt haben. Verfestigt wurden auch der Zusammenhalt von Seelsorgsklerus und Bevölkerung sowie die Bürokratisierung der Kirche. Die dafür von B. herausgestellte Verpflichtung der Priester zum Gehorsam gegenüber ihrem Bischof war freilich ebenfalls keine Erfindung des 19. Jh.s, sondern eines der reformistischen Postulate des Konzils von Trient; und ob Eugen Drewermann kompetenter Interpret einer solchen Norm ist, sei dahingestellt (213 mit Anm. 39).

Zur allgemeinen Konfessionsgeschichte des 19. Jh.s exemplifiziert B. eher, was in den Grundlinien schon bekannt ist. Sein "Interpretament" (vgl. schon 20, dann Kap. IV 5 und V, 303-309) ist im engen Anschluß an Schieder und Hans-Ulrich Wehler die katholische "Gegenposition zur Moderne". Damit begibt er sich auf ein weites Feld. Denn daß das Verhältnis Katholizismus-Moderne komplizierter ist, als die Sozialhistoriker meinen, zeigt schon die Tatsache, daß der Herz-Jesu-Kult nach wenigen Jahrzehnten erneut durch innerkatholische Strömungen an den Rand zurückversetzt worden ist, an den er gehört. Gegenwärtig vertritt ihn offensiv nur mehr die "Priesterbruderschaft St. Pius X." des 1976 suspendierten Erzbischofs Lefebvre! Hierüber stellt sich das auch von B. angesprochene Problem des Fundamentalismus in der Geschichte von Religion und Konfessionen. Aber zu fragen ist auch, ob nicht ultramontane Führer wie Ketteler oder Windhorst mit ihrem gleichzeitigen Einsatz für Sozialstaat und Subsidiarität partiell moderner handelten als ihre "moderneren" liberalen Gegner, und ob nicht unter christentumsgeschichtlicher Perspektive die Bewahrung der Volkskirche ein Verdienst des Ultramontanismus war!

Doch um solche Fragen adäquat zu erörtern, wären auch Studien einzubeziehen, die nicht in erster Linie sozialgeschichtlich argumentieren oder dieser Argumentation widersprechen; sie werden von B. nur selektiv zitiert, aber nicht diskutiert. Verwiesen sei vor allem auf das richtungweisende Werk von Roger Aubert "Le pontificat de Pie IX" (zuerst Paris 1952), auf neue Studien von Peter Dohms (1992) und H. Schwedt (1997), außerdem auf meinen Versuch einer Gesamtwürdigung des Ultramontanismus in: "Ökumenische Kirchengeschichte", Bd. III (1974, 4. Aufl. 1989).