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Ausgabe:

Januar/2023

Spalte:

138-140

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Paulau, Stanislau

Titel/Untertitel:

Das andere Christentum. Zur transkonfessionellen Verflechtungsgeschichte von äthiopischer Orthodoxie und europäischem Protestantismus.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2021. 376 S. m. 13 Abb. = Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, 262. Geb. EUR 90,00. ISBN 9783525336045.

Rezensent:

Yan Suarsana

Welchen Einfluss hatte die äthiopische Orthodoxie auf die Herausbildung eines protestantischen Konfessionsverständnisses in Euro-pa seit der Frühen Neuzeit? Dieser auf den ersten Blick weit hergeholten Frage geht das Buch in akribischer Lektüre historischer Quellen nach. Dabei fördert es erstaunliche Zusammenhänge zutage, die in der bisherigen kirchengeschichtlichen Forschung weitgehend übersehen wurden. Ausgangspunkt des Buches von Sta-nislau Paulau bildet die These, dass die Genese eines neuzeitlichen Konfessionsverständnisses nicht isoliert im Rahmen der europäischen Kirchengeschichte betrachtet werden dürfe. Vielmehr müssten auch die »transkonfessionelle[n] Verflechtungszusammenhänge von äthiopischer Orthodoxie und europäischem Protes-tantismus« (14) in den Blick genommen werden – zwei Größen, die »gemeinhin gesondert betrachtet werden« (14), die sich aber wechselseitig in ihrer Herausbildung als Konfession beeinflusst haben. Um diese These zu untermauern, gliedert der Vf. seine Argumentation in vier in chronologischer Abfolge angeordnete Hauptkapitel.

Zunächst wird das 16. Jh. thematisiert. Ausgehend von dem Treffen des äthiopischen Mönchs Abba Mika’el mit Luther und Melanchthon in Wittenberg im Jahre 1534 wird die protestantische Rezeption von Schriften äthiopischer Theologen untersucht, die sich zum Teil auch als Gesandte des abessinischen Kaisers in Europa aufhielten. Der Vf. zeigt dabei, dass diese Rezeption stark selbstreferentielle Züge trug: Um sich gegen die römische Kirche abzugrenzen, wurde (auch und vor allem von Luther selbst) die substantielle Übereinstimmung zwischen der eigenen sowie der äthiopisch-orthodoxen Theologie propagiert, um den Glaubensartikel von der Einheit der Kirche zu belegen. Diese (angesichts der tatsächlichen Unterschiede bemerkenswerte) Positionierung protestantischer Theologie lässt sich auch für das spätere 16. sowie das 17. Jh. belegen. Hier illustriert der Vf., wie äthiopische Texte literarisch in Gestalt von Bekenntnissen neu konzeptualisiert wurden, um sie »in eine Reihe mit europäischen Bekenntnissen der frühen Neuzeit« (102) zu stellen. Auf diese Weise sei eine »imaginäre Kirche« (103) im Sinne einer äthiopischen Konfession ›erfunden‹ worden, die in den Dienst der protestantischen Selbstvergewisserung gestellt worden sei.

Nachdem diese Imaginationen durch die vermehrten Kontakte zwischen Europäern und Äthiopiern ab dem 18. Jh. zunehmend konterkariert worden waren, wurde die äthiopische Orthodoxie im 19. Jh. demgegenüber als das mit dem Protestantismus inkompatible »Andere« konstruiert. Dies geschah in Form des Vorwurfs des Synkretismus sowie des vermeintlich »jüdischen« Charakters zahlreicher Bestandteile äthiopischer Frömmigkeit, die daher der »Reformation« (119) bedürfe. Die daraus folgende Präsenz vor allem deutscher Missionare vor Ort führte im Gegenzug zur Konstruk-tion des europäischen Protestantismus als dem Anderen in der äthiopischen Orthodoxie: Die Missionare galten als »Feinde Marias« (also als Ketzer), und damit »zugleich auch [als] Feinde ihres Sohnes, Jesus« (143 f.), also als Juden (Ayhudawi). »Somit lässt sich von einer nahezu spiegelbildlichen Erwiderung der missionarischen Alteritätskonstruktion der äthiopischen Orthodoxie als einer ›jüdischen‹ Religion sprechen« (144).

Die vierte und letzte Station widmet sich schließlich einem einzigen Tag zu Beginn des 20. Jh.s, und zwar dem 27. Februar 1905. An diesem Tag inszenierte sich Kaiser Wilhelm II. im Rahmen der Einweihung des Berliner Doms als »Schirmherr des gesamten Weltprotestantismus« (178), während zeitgleich eine (maßgeblich von Harnack beratene) deutsche Sondergesandtschaft mit dem äthio-pischen Kaiser Menelik II. zusammentraf. Dieser befand sich zu diesem Zeitpunkt auf dem Weg zu einem Fest zu Ehren Marias, wo er die liturgische Vergegenwärtigung seiner salomonischen Genealogie zu betreiben suchte – »in ähnlicher Weise wie die Einweihung des Doms in Berlin – nicht nur ein religiöses, sondern zugleich auch zutiefst politisches Geschehen« (193).

Mit der Publikation seiner Dissertationsschrift legt Stanislau Palau, der zurzeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Institut für Europäische Geschichte in Mainz tätig ist, ein äußerst überzeugendes und minutiös dokumentiertes Beispiel für eine explizit aus einer global- und verflechtungsgeschichtlichen Perspektive argumentierende Studie vor. Das Werk ist dabei erklärtermaßen gegen die »lange Tradition konfessioneller Geschichtsschreibung [gerichtet], deren Bezugssystem gewöhnlich eine partikulare (in aller Regel ›eigene‹) Konfession bildet« (16), und die sich »bei näherem Betrachten als Geschichte einer Reihe voneinander isolierter beziehungsweise isoliert dargestellter Kirchen« (17) entpuppe. Demgegenüber zeigt der Vf., wie der Blick über den diesbezüglichen Tellerrand Zusammenhänge zwischen den Gruppen offenbart, die teilweise von geradezu konstitutivem Charakter für die konfessio-nellen Identitäten sind, die jedoch von einer allzu engführenden Perspektive schwerlich eingefangen werden können. In diesem Zusammenhang sind vor allem zwei Aspekte positiv hervorzuheben: Der Blick Palaus über Europa hinaus – aber eben nicht im Sinne einer weiteren isolierenden Betrachtung »außereuropäischer« Kontexte, sondern in der Verflechtung und Wechselwirkung mit Europa. Und das Ausgreifen der Studie bis zurück in die Frühe Neuzeit; während aus der globalen Religionsgeschichte bereits einige Arbeiten aus verflechtungsgeschichtlicher Perspektive für die neuere Zeit (mit Schwerpunkt auf der Kolonialzeit) vorliegen, so zeigt Palaus Arbeit anschaulich, dass globale Verflechtungen auch schon weit vorher – auch und gerade an Orten, an denen bisher selten danach gesucht worden ist – wirkmächtig waren.

Im Gegensatz zur gelungenen Darstellung der komplexen Verflechtungen zwischen europäischem Protestantismus und äthiopischer Orthodoxie werden die übergreifenden Zusammenhänge, in die diese Verflechtungen eingebettet sind, stellenweise nur sporadisch beleuchtet. Besonders die beiden Kapitel zur neueren Zeit blenden m. E. den breiteren zeitgeschichtlichen und ideologischen Kontext – den europäischen Kolonialismus – weitgehend aus, obgleich der Umschwung des protestantischen Äthiopienbildes mit der Hochzeit des (britischen) Imperialismus zusammenfällt und die deutschen Missionare gar im Auftrag derChurch Mission Society nach Äthiopien reisten. In diesem Zusammenhang hätte man auch nach der Verflechtung der »kirchenhistorische[n] Meistererzählung des 18. und 19. Jahrhunderts« (71) fragen können, die den Einfluss äthiopischer Gelehrter auf den Protes-tantismus weitgehend marginalisiert habe. Diese Kritik soll aber aufgrund des erklärten Erkenntnisinteresses des Buchs nicht überbewertet, sondern eher im Sinne weiterführender Gedanken verstanden werden, die sich unmittelbar an das reichhaltig präsentierte Material und dessen reflektierte Analyse anschließen.

Das Werk, das trotz seines Detailgrades und seiner zahlreichen Belege nie den Grad der Allgemeinverständlichkeit verlässt, sei daher Interessierten aller Fachrichtungen uneingeschränkt empfohlen.