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Ausgabe:

Januar/2023

Spalte:

129-131

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Wetterberg, Gunnar

Titel/Untertitel:

Prästerna.

Verlag:

Stockholm: Albert Bonniers Förlag 2022. 447 S. m. zahlr. s/w und farb. Abb. Geb. SEK 229,00. ISBN 9789100190781.

Rezensent:

Jobst Reller

Der schwedische Historiker Gunnar Wetterberg legt mit »Prästerna«, zu deutsch: »die Priester«, eine umfängliche Geschichte des Priesteramtes in Schweden über 900 Jahre vor – vom mittelalterlich altgläubigen und nach der Reformation evangelisch-lutherisch gewordenen Beruf des Pfarrers von 1100 bis zur Trennung von Staat und Kirche im Jahr 2000. Der mittelalterliche Begriff des »Priesters« hat sich auch für das evangelisch-lutherische Pfarramt in Schweden erhalten. Vermutlich lässt sich ein derartiger Längsschnitt zur Geschichte eines Berufs nur regionalgeschichtlich schreiben, weil man geographisch im Wesentlichen von kontinuierlichen Rahmenbedingungen über die Jahrhunderte ausgehen kann. Insofern verändern geographische Zuwächse für Schweden in Schonen, Bohuslän oder Nordschweden während der Großmachtzeit 1658 oder der Verlust deutscher Provinzen, Estland und Teilen Lettlands 1722 und Finnlands 1809 das Gesamtbild nicht. Die Frage ist natürlich berechtigt, ob es möglich ist, über eine derartig lange Zeit Grundlinien zu verfolgen, die Vergleiche ermöglichen. W. baut auf zwei Momenten auf, einmal dass zu verschiedenen Feldern nationale Überblicksvorstellungen vorliegen wie das 22-bändige »kulturhistorische Lexikon für das nordische Mittelalter« und drei Darstellungen der schwedischen Kirchengeschichte, eine von L. A. Anjou 1866, eine zweite unvollendete von Hjalmar Holmquist u. a. »Svenska kyrkans historia« 1933–1946 und das jüngste Sammelwerk »Sveriges kyrkohistoria« 1998–2005, bzw. »Signums svenska kulturhistoria« und Sten Lindroths Geschichte der Bildung in Schweden »Svensk lärdomshistoria«. Diese decken neben Spezialstudien den gesamten Zeitraum ab. Zum andern entstammt W. selbst mütterlicher- und väterlicherseits aus Pastorendynastien, die sich im Falle der W.s bis 1690 zurückverfolgen lässt (388 f.) und über die Mission in Indien auch einen deutschen Zweig bekam (Jobst Reller: Elsa Wickert – das Leben einer Missionarsfrau zwischen Indien, Schweden, Deutschland und Südafrika, Hermannsburg 2016, 9).

Interessant ist W.s Vermutung, dass es auch im Mittelalter schon Pfarrerdynastien gab, weil immer wieder Dispense für die Weitergabe von Pfarrämtern vom Vater auf den Sohn belegt sind (187). Manche Herausforderungen entstehen natürlich verstärkt erst nach der Reformation, der Konflikt zwischen Eignung und Leistung und familiärer Bekanntheit für die Vergabe einer Stelle (187). Axel Oxenstierna, Reichskanzler während des Dreißigjährigen Krieges, stellte Befähigung und Leistung und den Nutzen für das Reich voran.

Eine der ersten Auseinandersetzungen zwischen dem von der Kirche vertretenen Christentum und der traditionellen schwedischen Kultur im Mittelalter war die Stärkung des Individuums und seiner Verantwortung für sein Handeln gegenüber den Eigentumsrechten der Sippe am Land oder in der Rechtspraxis. Dass ein Pfarrhof kraft königlicher Stiftung frei von Dienstpflichten war, im Gegenzug Dienste der Bauern einfordern durfte, musste lange immer wieder eingeschärft werden – z. B. im Gesetz der Landschaft Uppland 1296 (43). Während des Nordischen Siebenjährigen Krieges kam kein Wein nach Schweden, so dass der Oberpfarrer von Stockholm Johann Ofeegh die Feier des Abendmahls mit Wasser in der Gemeinde wie bei den Krankenabendmahlen empfahl, während Erzbischof Laurentius Petri 1564 in einem Hirtenbrief vor der Feier mit »Bier, Met, Kirschsaft oder Apfelmost« warnte. Die Berufskleidung der Pfarrer im Alltag änderte sich gegenüber der vorreformatorischen im 16. Jh. kaum: Der Pfarrer ging in einem fußlangen Priestergewand mit einem vorn geknöpften Mantel. Im Gottesdienst wurde auf das Chorhemd mit dem weißen Hemd mit weiten Ärmeln verzichtet, während Albe, Stola und Messgewand erhalten blieben (170 f.). Die König Gustav Adolf († 1632) als ehemalige Feldprediger nahestehenden und darum geförderten Bischöfe Johannes Rudbeckius (1581–1646) und Johannes Bothvidi (1575–1635) ordneten Verzeichnisse über Geburten, Tote und Eheschließungen an. Kirchenbücher schufen so die Voraussetzungen für Aushebungen von Soldaten und Steuereintreibung. Beides war »verhasst, und der Hass verbreitete sich auch auf die Priester«. Oberpfarrer Ericus Othonius († 1636) protestierte: »Mit wie frohem Herzen kann der Zuhörer die Predigt seines Lehrers hören, wenn er weiß, dass er mit denen zusammen ist, die Forderungen stellen und seine Zahlungen und Steuer eintreiben, ja sie mit ausschreiben? […] Lass Vögte und Schreiber schreiben und Bücher führen über Leute und Vieh und Soldatenregister und sie besiegeln und ihre Knechte mit den Steuern und Zahlungen der Untertanen befasst sein, aber gehe du und verkündige das Reich Gottes, sei achtsam auf dein Buch und deinen Altar« (195 f.). Aber dieselben Bischöfe machten sich als Organisatoren auch auf anderen Feldern verdient, z. B. mit der Gründung des ersten Gymnasiums in Västerås 1623, mit dem ein für Diakone einjähriges Priesterseminar, ein »collegium pietatis«, verbunden war. Zukünftige Priester besuchten dies zwei Jahre (197). Was eine Staatskirche bedeutete, lässt sich daran ermessen, dass alle Angelegenheiten der Kirche über ein und dasselbe im Lauf der Zeit natürlich angepasste Kirchengesetz von 1686 geregelt wurden, das bis 1993 in Geltung war. Als den Pfarrern auch die Aufgabe zukam, sittliche Führungszeugnisse (»frejdebetyg«; bis 1918) nach kirchlichen Verhören zuhause auszustellen, die um 1750 Voraussetzung für das Auftreten als Zeuge vor Gericht, für das Aufgebot, den Beginn einer Ausbildung und Anstellung beim Staat waren, war der Pfarrer als obrigkeitlicher Kontrolleur überbetont. Der Kirchenhistoriker Hjalmar Holmquist sprach von der Religionsverfügung 1735 als »dem Höhepunkt religiöser Zwangsgesetzgebung« in Schweden (273). Mancher Aspekt der Kirchengesetzgebung überrascht in seiner Skurrilität. Pfarrern, die sich über ihre Oberpfarrer beschweren, weil sie sie in der Landwirtschaft auf dem Pfarrhof beschäftigten hinter dem Pflug oder auch beim Fischen, wird einerseits Recht gegeben: Sie sollten sich nicht »zu gut« sein, Geschäfte für den Oberpfarrer zu erledigen, nach seinem Dienstvolk zu schauen oder seine Netze und Angeln zu pflegen, wenn der Pfarrhof Fischereirechte hatte. Solche Beschäftigungen durften sie aber nicht von ihren Studien abhalten, andererseits hieß es, dass körperliche Bewegung für den Menschen gut sei, man sich diese aber genauso durch »nützliche« Beschäftigungen statt durch »Ritterspiele, Ballwerfen und andere Eitelkeit« verschaffen kann (228). Dass derlei Freizeitbeschäftigung Pfarralltag im 17. Jh. sein konnte, überrascht.

W. beschreibt den Fokus seiner Arbeit als »Fasziniertsein vom Zusammenspiel zwischen Priestern und ihren Gemeinden«, ein Moment, das seiner Meinung nach in der Kirchengeschichte zu wenig Beachtung findet, um »sich dem Alltag der Priester anzunähern. Sie sind Verkündiger des Glaubens, Wächter über die Lehre, Beamte der Kirche und der Krone und bis vor kurzem waren sie Bauern unter Bauern, verwickelt in die täglichen Beschäftigungen auf dem Dorfe« (12), wie die Pfarrer im schwedischen Ständereichstag, zu dem sie seit 1544 gehörten, wegen ihrer Pfarrhöfe Teil des nichtadeligen Bauernstandes waren. Als eigener Stand galten sie seit 1617. Erzbischof Johann Lenäus artikulierte schon zur Zeit von Königin Kristina die Sorge, dass es ein Gleichgewicht zwischen Adel und nichtadeligem Bauern- und Bürgerstand geben musste, wenn Sklaverei vermieden werden sollte (210.214). Die Pfarrerschaft engagierte sich politisch in der Interessenvertretung der nichtadligen Stände. Die Trennung von Kirche und Staat im Jahr 2000 hat die Frage der Beziehung von Pfarrerberuf und Gemeinde mit der Aufgabe des staatlichen Beamtenstatus eher noch drängender gemacht (415).

W. ist sich bewusst, dass diese formale Beschreibung des Pfarrerberufs Raum bietet für die historische Entwicklung sich wandelnder Interpretationen des christlichen Glaubens: »Dies ist auch ein Beitrag zur Erzählung vom Glauben an sich: wie er entstanden ist, sich entwickelt und im Leben auf dem Land und der Menschen ausgewirkt hat. […] Lange wurde das Leben der Menschen ganz vom Glauben durchsäuert. Es handelte sich nicht nur um eine Frage danach zu beten und in die Kirche zu gehen, die Kinder taufen und die Toten beerdigen zu lassen« (12 f.). Singt W. den Schwanengesang auf das historisch im christlichen Europa in agrarischen Gesellschaften gewachsene Pfarramt um Ortskirche und -gemeinde, weil dieses in der Gegenwart bis auf wenige Lebensstationen die im Glauben begründete »Verwicklung« in das alltägliche Leben der Menschen verloren hat? Oder weisen die vom Historiker erhobenen Rahmendaten auf die für die Zukunft essentiellen Aufgaben für protestantische Theologie und Kirche: die plausible Interpretation des christlichen Glaubens für die Gegenwart und die »Verwicklung« in das Alltagsleben von Menschen? Das Studium der Berufsgeschichte des Pfarramts lohnt jedenfalls.

Ein Glossar (426 f.) und ein Namen- und Sachregister (440–447) runden das umfangreiche Werk ab.