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Ausgabe:

Januar/2023

Spalte:

127-128

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Steinpatz, Anna

Titel/Untertitel:

Hinabgestiegen in das Reich des Todes. Seelsorgliche Begleitung von Patientinnen mit Essstörungen.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2020. 402 S. m. 4 Abb. = Praktische Theologie heute, 175. Kart. EUR 39,00. ISBN 9783170381605.

Rezensent:

Thomas Dreher

Anna Steinpatz ist derzeit Krankenhausseelsorgerin in Salzburg. Die Doktorarbeit, die dem Buch zugrunde liegt, hat die Autorin 2008 bei Prof. Rainer Bucher begonnen und nach einer Pause 2017–2019 bei Christian Bauer fertiggestellt (so die Webseite der Autorin). Beide Doktorväter sind verbunden mit Ottmar Fuchs, der Praktische Theologie mit seiner »Praktischen Dogmatik« weitergeführt hat, einer gesellschaftskritischen, befreienden Praxis des Christentums, nachkonziliar und an den Opfern in Geschichte und Gegenwart orientiert.

So kann man das Werk von S. in Fortführung dieser Grundanliegen lesen. Anders ausgedrückt ist die Arbeit als empirische Forschung mit theologischer, spiritueller und praxisorientierter Reflexion ein Beitrag zu »Spiritual Care«. S. schafft dafür eine praktisch-theologische Begründung. Sie bespricht pastoralpsychologische Themen, aber reflektiert sie theologisch und spirituell.

Im Bereich Essstörungen gilt, was S. der Kirche bescheinigt, auch für die Theologie: »Sucht selbst ist am Rande des kirchlichen Handelns verortet« und »Essstörungen kommen in der Literatur nicht vor« (140.142). Nur in der amerikanischen Literatur gibt es Untersuchungen zu Spiritualität und Religion, darauf geht die Autorin aber nicht ein. Individualisiert und psychologisiert bleibt Essstörung als Ort spiritueller, seelsorgerlicher und theologischer Einsicht verschlossen (18). »Seelsorge so verstanden ist in erster Linie Orthopraxie« (155). Darum beginnt die Autorin dann auch mit den Erfahrungen der Praxis und erschließt damit neue zeitgenössische Horizonte.

Das Werk gliedert sich in vier große Teile: Teil I – Medizinische und psychologische Grundlagen, Teil II – Pastoraltheologische Einordnung, Teil III – Auswertungsergebnisse der empirischen Untersuchung und Teil IV – Theologische Reflexion der Auswertungsergebnisse.

In Teil I führt die Autorin ausführlich in Diagnostik und Symp-tomatik ein, körperliche und psychische Auswirkungen der Essstörungen mit Schwerpunkt Anorexie. S. referiert nun alle wichtigen Therapieverfahren für Essstörungen, begonnen mit der amerikanischen Pionierin Hilde Bruch sowie Tiefenpsychologie, Verhaltenstherapie, Systemische Familientherapie, Humanistische und Feministische Therapie. Dabei befragt sie am Ende die Behandlungsoptionen nach theologischen und pastoralen Perspektiven. Sie formuliert Rückfragen an die Kirche in Bezug auf Akzeptanz statt christliche Selbstoptimierung, Integration von Leib und Sexualität in die theologische und kirchliche Sichtweise, positive weibliche Vorbilder, positives Selbstbild gegenüber Überfürsorge und paternalistischen Altlasten.

Teil II stellt auch im Bereich der Suchtkrankenpastoral ein Defizit fest, nämlich eine Leerstelle (140). S. sieht nachkonziliar, wie »die pastorale Praxis selbst eine dogmatische Relevanz als Ort der Entdeckung des Evangeliums« bekommt (119). Dementsprechend wird die Sucht in Diakonie und klinischer Seelsorge betrachtet und differenziert, aber entscheidend als »Spiegelschrift des Glaubens« neu in spiritueller Hinsicht interpretiert. Sucht hat die Qualitäten negativer Transzendenz, da sie Erlösung vorgaukelt durch Kompensation der Ohnmacht und des Selbstwertverlustes – aber um den Preis des Lebens. So wird das Widerstandspotential der Religion zugunsten des Lebens und einer Hoffnung der unbedingten Liebe und Freiheit eröffnet. Sucht ist eine Anfrage an die Theologie: In der ausgehaltenen Ohnmacht kann die heilende Macht Christi erlebbar werden. Scham wird erträglich und Identität und Würde in diesem Raum der radikalen Freiheit erfahrbar. Insofern stellen einmal die Haltungen der Seelsorgenden und die Spiritualität wichtige Parameter dar. Mystik als Erfahrung im Zwischenraum zwischen gesellschaftlichen (Michel de Certeau) und persönlichen Umbrüchen am Beispiel der Mechthild von Magdeburg (Hildegund Keul) wird zum zentralen Bezugspunkt der empirisch erhobenen und weiter gedeuteten Spiritualität.

Der mit über hundert Seiten größte Teil III besteht aus qualitativen Interviews mit vier Krankenhausseelsorgerinnen und einer Pfarrerin, die alle Anorexie-Patientinnen begleitet haben. Die Interviews wurden nach zwei Methoden der qualitativen Sozialforschung bearbeitet: Zunächst die Sichtung des Materials mit der dokumentarischen Methode, die statistisches und theoretisches Sampling erlaubt und neben dem kommunikativen auch mit konjunktivem, implizitem Wissen arbeitet. Die Grounded Theory ermöglichte dann in einem zweiten Schritt mit komparativer Analyse ein in den Daten fußendes Theoriekonzept zu ermitteln. Dabei tauchen die zentralen Themen der Erkrankung und der dadurch erforderlichen Themen und Haltungen auf: Nähe und Distanz, Zärtlichkeit als radikale Wertschätzung und bedingungsloses Dasein, Grenzen, Verwundbarkeit und Verletzungen als Ort der spirituellen Erfahrung, die auch eine Anfrage an die seelsorgerliche Haltung ist. Ein spiritueller Weg zeichnet sich ab in Sinnfrage und Orientierung, hilfreichen Interventionen und Entlastungen, alternativen Bildern von Gott und Leben sowie einem Übungsweg.

Das Buch schließt mit einem reflektierenden IV. Teil, der die zentralen Themen der Seelsorgerinnen aufnimmt und jeweils mit fundierter theologischer Reflexion begleitet. Ein prophetischer Auftrag äußert sich in der Option für die Patientinnen, die strukturelle Kritik an Kirche, Krankenhaus und Gesellschaft gehört dazu. Die religiösen Implikationen der Essstörung können als »Spiritualität der Kontrolle« gedeutet werden. Es ist ein zentrales Desiderat der Arbeit, dass Essstörungen an die »Grenze des Möglichen« führen. Leid und Grenze, die Erfahrung des Scheiterns und des möglichen Todes der Patientinnen rücken in den Blick der Seelsorgenden. S. führt das theologisch zur Klage und Vorsicht gegenüber religiöser Selbstoptimierung. Gerade die Einfachheit der Präsenz und die Radikalität der zärtlichen Zuwendung als Mitgehen in jeder Entscheidung, auch dem Tod, fordert gleichzeitig tiefe theologische Reflexion. Das leistet die Autorin ausgehend von Karl Rahner, Ottmar Fuchs, Hildegund Keul und Anderen. Obwohl es ein grundlegendes Werk über Essstörungen ist, enthält es eine sich durchziehende Reflexion zu den theologischen Fundierungen von Spiritualität, Seelsorge und insbesondere Krankenhausseelsorge entlang den Themen Ohnmacht, Zärtlichkeit, Vulnerabilität, Mystik und Umgang mit paradoxen Erfahrungen und Lebenshaltungen. Die Sprachlosigkeit angesichts des Leids und die Fragmentarität des Lebens (Henning Luther) gilt es zusammenzuhalten. Der Widerspruch von der Zärtlichkeit Gottes und der dunklen Nacht der Seele kann in der mystischen Erfahrung als Paradox aufgehoben werden.

Am Ende denkt S. ekklesiologisch: »Kirche ist durch die ge-sellschaftlichen Entwicklungen gefordert, unter all den neuen Erkenntnissen und Hilfsangeboten ihre gegenwärtigen und zukünftigen Potentiale zu finden, um gemeinsam mit den Menschen Gott zu entdecken« (376). Seelsorgerliche Praxis ist relevant für die Kirche und erschließt neue Horizonte. Zu diesem Bemühen leistet die Autorin einen für alle an einer zeitgemäßen Seelsorge – ihrer Praxis und theologischen Begründung – Interessierten fundierten Beitrag, der über die Begleitung von Essstörungen weit hinausweist.