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Ausgabe:

Januar/2023

Spalte:

123-125

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Kühner-Graßmann, Claudia

Titel/Untertitel:

Martin Doernes Theologie der Praxis.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2022. 432 S. = Arbeiten zur Praktischen Theologie, 85. Geb. EUR 88,00. ISBN 9783374070756.

Rezensent:

Michael Meyer-Blanck

Bei dem anzuzeigenden Buch handelt es sich um eine Arbeit, die bei Christian Albrecht in München angefertigt und im Wintersemester 2019/20 von der dortigen Evangelisch-Theologischen Fakultät als Dissertation angenommen wurde. Sie widmet sich dem Göttinger Praktischen Theologen Martin Doerne (1900–1970), der dort 1954–1968 als Vorgänger von Manfred Josuttis den praktisch-theologischen Lehrstuhl innehatte. Bis in die Gegenwart bekannt geblieben sind sein Reformkonzept zu Konfirmation und Gemeindekatechumenat (»Neubau der Konfirmation«, 1936) seine Schule machenden Predigthilfen (u. a. »Er kommt auch noch heute«, 1937) sowie seine späte Auseinandersetzung mit der Literatur (»Tols-toj und Dostojewskij. Zwei christliche Utopien«, 1969). Claudia Kühner-Graßmann rekonstruiert eingehend und erschöpfend Doernes Monographien, Kleinschriften, Reden und Aufsätze, wobei sie sich bewusst dafür entscheidet, die nachgelassenen Manuskripte außer Betracht zu lassen (ausgespart wird außerdem Doer-nes Dissertation über Herders Geschichtsphilosophie von 1927).

Doerne gehörte zur Generation »zwischen den Zeiten«, die von der Wort-Gottes-Theologie und der Lutherrenaissance geprägt war, sich in der NS-Zeit zu bewähren und nach 1945 noch einmal ganz neu zu beginnen hatte. K.-G. zeichnet in ihrer Analyse von Doernes Schriften die Kontinuitäten und die Neuakzentuierungen detailliert nach. Ihre das Werk Doernes integrierende Formel lautet »Theologie der Praxis«. Das mag zunächst unspezifisch klingen, soll aber darauf aufmerksam machen, dass Doernes Beitrag für die kirchliche Praxis vor allem Theologie war, die die Praxis unterstützen und prägen sollte. Die Verkündigung des Wortes Gottes machte für Doerne den bestimmenden Charakter aller kirchlichen Praxis aus. Die Praxis sollte laut Doerne nicht empirisch oder phänomenologisch analysiert, sondern mit biblisch-theologi-schen und dogmatischen Impulsen bereichert und gesteuert werden. Die lutherischen systematisch-theologischen Denkmodelle wie Sünde und Gnade, Gesetz und Evangelium, Verkündigung und Kirche sowie eine Theologie der Ordnungen galten Doerne als unmittelbar praxisrelevant, so dass sein Konzept von Praktischer Theologie eng mit der Systematischen Theologie verknüpft war (1947–1954 lehrte Doerne in Rostock und in Halle auch Systematische Theologie).

K.-G. gelingt es, Doerne als Vermittler zwischen den theologischen Disziplinen und Schulen, zwischen den Zeiten und Generationen sowie zwischen Universität und Gemeinde zu profilieren: Seine Beiträge sind »auf der Grenze von Praktischer und Systematischer Theologie sowie von akademischer und Gemeindetheologie anzusetzen« (167; vgl. ähnlich 126.337). Doernes »Theologieprogramm« umfasst »Traditionsbindung, Gegenwartsorientierung, Praktische und Systematische Theologie als Einheit« (353).

Doernes Programm wird von K.-G. anhand von fünf Themenbereichen rekonstruiert, die im Wesentlichen der lebensgeschichtlichen Abfolge in Doernes Schaffen nachgehen: »Kirche und Volkskirche« (82–129), »Mensch und Sünde« (129–168), »Erziehung und Unterweisung« (169–233), »Predigt und Predigthilfen« (234–284) und »Theologie und Literatur« (284–343). Dabei gehören die ersten drei Themen eher in die frühe Zeit, die Beschäftigung mit der Literatur dagegen in die späte Göttinger Periode, während das Predigtthema alle Schaffensperioden umfasst.

Besonders interessant ist die späte Auseinandersetzung Doernes mit der Literatur (außer Tolstoj und Dostojewskij behandelte Doerne auch Thomas Mann, Rainer Maria Rilke, Rudolf Alexan-der Schröder und Reinhold Schneider), weil diese in gewisser Weise Doernes dogmatische Anthropologie ergänzte und die Rezeption empirischer Einsichten ersetzte. So spricht die Autorin in Bezug auf Doernes »dichterische Seelenkunde« (325–337) von »Dostojewskijs dichterische[r] Herzenserforschung«, bei der es gelte, im Menschen den Menschen zu finden (327–336). Doerne suchte in der gedichteten Anthropologie Anregungen für die theologische Anthropologie, weil er dort eine »verdichtete Darstellung des ›wirklichen‹ Menschen und dabei gerade seines inneren Wesens vermutet« (327, dort kursiv). Die in der Doerne-Interpretation vertretene These, Doerne habe sich damit von der Praktischen Theologie ab- gewandt, weist K.-G. vorsichtig zurück. Ihre eigene Deutung, es handle sich dabei um eine folgerichtige Variation von Doernes praktisch-systematischer theologischer Konzeption (337), ist überzeugend. In der Beschäftigung mit der Literatur ging es Doerne, wie in der Theologie überhaupt, um den angefochtenen Glauben angesichts der Erfahrung des deus absconditus und des modernen Atheismus. Die davon geprägten Menschen – Dichter wie gegenwärtige Gemeindeglieder – stünden »in einer gemeinsamen Front gegen die religiöse Indifferenz« (295). Dabei kommt Doerne zufolge Thomas Mann mit seiner »Existentialisierung« des Teufels im »Dr.-Faustus«-Roman dem wirklichen Luther »so nahe wie sonst nirgends« (313).

Einige Bemerkungen sind noch zu Doernes politischer Orientierung notwendig. Zunächst teilte er mit vielen seiner Generation die radikale Skepsis gegenüber jeglichem Individualismus, Subjektivismus und Liberalismus. In seiner Freundschaft mit Paul Althaus war Doerne grundsätzlich einer Theologie der Ordnungen zugeneigt (man denke an das Konzept der »pädagogischen Ordnungskirche« im Konfirmationsbuch von 1936), so dass K.-G. bei ihm folgerichtig eine »anfangs vorhandene Affinität zum nationalsozialistischen Staat« feststellen muss (362; später hat Doerne seinen Irrtum erkannt und bedauert, ebd.). Sein Grundfehler lag – wie bei vielen Lutheranern – in der Übertragung des theologischen Gesetzesbegriffes auf die weltlichen Ordnungen, so dass diese theologisch aufgeladen wurden. Die Qualität der biblischen Kategorie des Gesetzes als Gottes Gebot und Weisung wurde übertragen auf weltliche Vorschriften und Ordnungen. War dieser Schritt der Hypostasierung einer Ordnung erst einmal vollzogen, dann musste auch die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium ins Leere laufen, weil so den weltlichen Gegebenheiten zwar kein Heils- charakter zukam, diese aber dennoch mit einer Gloriole des Göttlichen umgeben wurden.

Martin Doerne mag zwar nicht in die allererste Reihe der Fachvertreter gehören, aber er ist mit seinem systematischen, anthropologisch und literarisch gesättigten Begriff von Praktischer Theologie zweifellos auch in Zukunft anregend. Doernes Werk macht deutlich, dass es auch jenseits der Erhebung von Daten Möglichkeiten gibt, den »wirklichen Menschen« als Subjekt kirchlicher Praxis in den Blick zu bekommen. Die praktisch-theologische Anthropologie benötigt neben der Empirie auf jeden Fall einen sys-tematischen Blick. Nicht zuletzt die jeweilige Gegenwartsliteratur ermöglicht Einsichten in die aktuelle Signatur der conditio humana. Damit erinnert das Werk Doernes schließlich daran, dass die Praktische Theologie nicht nur ein ambitioniertes Konzept von Praxis, sondern auch ein ebensolches von Theologie benötigt.

K.-G. hat eine gut lesbare Arbeit über einen in mehrfacher Hinsicht vermittelnden Fachvertreter geschrieben. Das Buch schließt eine Forschungslücke und ist aufgrund der guten Strukturierung, der hilfreichen Zwischenzusammenfassungen und des Namenregisters leicht zugänglich. Es wird darum in vielfacher Weise Beachtung finden.