Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Januar/2023

Spalte:

121-123

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Hermelink, Jan

Titel/Untertitel:

Spielräume der Kirchenleitung. Studien zu Praxis und Theorie kybernetischer Inszenierung.

Verlag:

Stuttgart: W. Kohlhammer Verlag 2022. 253 S. Kart. EUR 39,00. ISBN 9783170409804.

Rezensent:

Frank Weyen

Jan Hermelink setzt mit dieser Monografie seine kirchentheoretischen Überlegungen fort, die er bereits in einem Werk (2011) als vierfache Gestalt der Kirche bestimmt hatte. Diese besteht für ihn kirchentheoretisch aus Institution, Organisation, Bewegung und Inszenierung. Der Inszenierung nun widmet er sich in der vorliegenden Monografie unter theologisch-kybernetischem Aspekt, um kirchliches Leiten »mit theatralen Bildern und Praktiken zu beschreiben« (11). Das Buch selbst gliedert H. kunstvoll in sieben szenische Aufzüge.

Im »Vorspiel« befasst er sich mit Konfliktinszenierungen im Spielraum der Freiheit mit theatralen Motiven und Themen bei Ernst Lange (11–18). Im zweiten Kapitel beschreibt H. die Kirche und ihre Leitung in theatraler Perspektive (19–62). Hier setzt er die Praktische Theologie klassisch kirchentheoretisch in einen direkten Zusammenhang zur Theaterwissenschaft und weist sein Werk damit als interdisziplinär aus. Das dritte Kapitel rekurriert auf die COVID-19-Pandemie und die Verwerfungen, die diese auch für die evangelische Kirche mit sich gebracht hat. Die öffentliche Debatte über Kirchenschließungen sieht er dabei als Paradigma kybernetischer Inszenierungen (63–94). In einem vierten Kapitel greift H. auf die Probenarbeit der Regie- und Intendantentätigkeit Bertolt Brechts zu und plausibilisiert damit zugleich als Brechtkenner seine kybernetischen Anregungen (95–130). Die therapeutische Methode der Familienaufstellung soll eine weitere Plausibilisierung für die Möglichkeiten darstellen, um kybernetische Verstrickungen zu lösen (131–188). Daraus zieht er in einem sechsten Kapitel die Quintessenz, dass sich mithilfe inszenatorischen Handelns der Kirchenleitungen Möglichkeitsräume eröffnen, die er als Ergebnis eines interdisziplinären Seminars präsentiert (189–224). In einem (siebenten) Schlusskapitel beschreibt er die Chance, Kirche zu inszenieren, indem er exemplarische Szenen sowie ein (kybernetisches) Programmheft mit Thesen zur hermelinkschen Inszenierung von Kirchenleitung anbietet (225–253).

Die Monografie möchte H. in die innovative Gestalt der Praktischen Theologie eingeordnet wissen, die er aus den Texten Ernst Langes extrahiert habe. Liturgische Feiern transzendieren für H. daher mithilfe symbolischer Aufladungen den Alltag (13). Seine Motive legt er achtfach offen. Dabei sticht eine Interdisziplinarität der kirchlichen Leitungspraxis (16) ebenso hervor, wie die Untersuchung von Medien und Formen typische Prozesse szenischer Leitungskommunikation prägen (16). Dabei versteht H. kirchliches Leitungshandeln insgesamt als »Probenarbeit« einer Praxis gemeinsamer Inszenierung kirchlicher Aufführungen (16).

In den kirchentheoretischen Horizont ordnet H. seine Studie ein, indem er die Kirchentheorie als eine »Theorie kirchlicher Konflikte« (17) versteht, immer bezogen auf den »jeweiligen Sozialraum und den gesellschaftlichen Frieden« (17). Insbesondere die gottesdienstliche Predigt sieht H. als ein performatives Ereignis, die in der Predigtarbeit biblische Texte inszeniere. Hier knüpft H. bei den Untersuchungen von Henning Luther, Davis Plüss sowie von Martin Nicol und Alexander Deeg zur Homiletik und Liturgik an. Denn bei diesen Autoren spürt er gleichfalls Anhaltspunkte auf, die »Predigtarbeit als szenische Praxis der Inszenierung« (27) zu verstehen. Hinsichtlich einer ästhetischen Praxis sieht H. den (Wechsel-)Schritt vom »Primat der Texte zur Vielfalt theatraler Medien« (34) aufgebrochen, um so neuartige Kriterien einer gelingenden Praxis formulieren zu können. Somit begreift er den Gottesdienst als Inszenierung im Rahmen einer spielerisch-probeweisen Aufführung. Daraus folge die Neugestaltung und Variierung agendarischer sowie biblischer Vorlagen. Gottesdienst und Religionsunterricht besitzen daher für H. eine transformative Potenz, da sie die Teilnehmenden in die jeweiligen gottesdienstlichen Szenen verwickeln können.

Kirchliches Leitungshandeln wiederum versteht er als Regietätigkeit (36). Die Entwicklung von ausdrücklichen Kirchentheorien sieht H. insbesondere immer dann aufgerufen, wenn sich eine Identitätskrise von Kirche einstelle. Dazu liefert er knapp einige historische Beispiele aus den zurückliegenden 200 Jahren. Diese verweisen zurück auf die gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen von Krisenerfahrungen, denen sich die Kirche im Rahmen einer gesellschaftlichen Pluralisierung gegenübergestellt sehe. »Die gegenwärtige Gestalt der Kirche wie ihre Zukunft werden entscheidend geprägt von den strukturellen Dynamiken der Gesellschaft im Ganzen, die etwa bestimmte Organisationsformen mehr oder weniger plausibel erscheinen lässt und in der digitale Kommunikation immer bedeutsamer wird« (37). Dies wirke zugleich komplexitätsreduzierend für Leitungsverantwortliche.

Der interdisziplinäre Blick in die Theaterwissenschaft verhilft H. die verwendeten Begrifflichkeiten genauer zu definieren. Inszenierung verkörpere dabei den bewussten und strategisch geplanten Prozess (44). Denn Kirche selbst sei ein Ensemble von Aufführungen, die die religiöse Überlieferung konzentriert und modellhaft darstelle. »Wird die Kirche als ein Ensemble vielfältiger religiöser Szenen gesehen, […] dann spricht wenig für die organisatorische Dominanz der Ortsgemeinde […]. Viel näher liegt es in jener Perspektive, eine Vielfalt unterschiedlicher ›kirchlicher Orte‹ ]…] oder eben Bühnen anzustreben, auf denen unterschiedliche christliche Themen in Szene gesetzt werden […].« (52) Daher plädiert H. für die Errichtung neuer kirchlicher Orte als Spielstätten, wenn sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ändern sollten.

Hier habe sich die Debatte um entfallende Gottesdienste während des pandemiebedingten Lockdowns zu Weihnachten 2020 als Stresstest inszenatorischer Regie der Kirche erwiesen. Kirchenleitung habe seinerzeit auffällig unauffällig geleitet in Form einer Auslegung von staatlich-juristischen Vorgaben für das kirchliche Leben vor Ort mithilfe von Rundschreiben. So werde kirchenleitenderseits Ermutigung, Bestärkung, Trost und auch Segen zugesprochen (86).

Fortschritte sieht H. in der ästhetischen Relevanz kirchenleitender Präsentationen mithilfe des Digitalen, bleibt jedoch Kriterien und Beleg für diese Feststellung schuldig. Dennoch, im kybernetischen Handeln gehe es weniger um die richtige Entscheidung als vielmehr um das stimmige Verfahren als religiöse Szenenfolge, die die getroffenen Entscheidungen im Lockdown plausibel nachvollziehbar gemacht hätten (93). Das abschließende kurzweilige Programmheft, das H. für Spielräume, aber auch für Spielregeln kybernetischen Handelns aufruft, stellt Kirchenleitung als ein Geschehen vor Ort dar, das sich im Ensemble sowie in Szenen voll-ziehe.