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Ausgabe:

Januar/2023

Spalte:

119-121

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Bachmaier, Helmut, u. Bernd Seeberger [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Religiosität im Alter.

Verlag:

Göttingen: Wallstein Verlag 2022. 294 S. Geb. EUR 24,00. ISBN 9783835351370.

Rezensent:

Silke Peters

Beide Herausgeber sind keine Theologen, umso erfreulicher ist ihr Forschungsinteresse zum Thema »Religiosität im Alter«. Der Literaturwissenschaftler Helmut Bachmaier ist als wissenschaftlicher Direktor der Tertianum-Gruppe, Bernd Seeberger als Professor für Gerontologie auf Altersthemen spezialisiert. Da eingehende Untersuchungen zu den Verbindungen zwischen Gerontologie und Theologie aus Sicht der Herausgeber bislang fehlen, wollen sie mit dem vorliegenden – interreligiös und interdisziplinär ausgerichteten – Sammelband einen Beitrag zur Überwindung dieses Desiderats leisten (11). Entstanden ist ein Buch, das vielfältige Zugänge und wesentliche Erkenntnisse zum Thema »Religiosität im Alter« erschließt.

Den Ausgangspunkt bildet die Gegenwartsanalyse des Sozio-logen Peter Gross. Er veranschaulicht Transformationsprozesse der christlichen Heilsbotschaft in den säkularisierten westlichen Gesellschaften: Von der Theologie zur Teleologie, die damit einhergehende Immanentisierung und den Verlust der eschatologischen Ausrichtung, in deren Folge sich diesseitige Spiritualitäten ausbreiten (25 f.). Mit dem Verschwinden des Glaubens an eine jenseitige Ewigkeit lässt sich in unseren Gesellschaften des langen Lebens auch eine Umdeutung des Sterbens beobachten, die häufig in ein Einverständnis mit dem Tod im hohen Alter mündet (26–31).

Anschließend wird das Themenfeld des Sammelbandes in fünf Abschnitten entfaltet. Der erste Abschnitt behandelt Philosophische Perspektiven, die den Umgang mit der Unverfügbarkeit und Endlichkeit des Lebens ohne religiöse Glaubenssätze begründen. Die Entwicklung eines lebensdienlichen Verhältnisses zu den Herausforderungen im Alter wird von Thomas Rentsch (35–46) aus praktisch-philosophischer und von Esfandiar Tabari (63–79) aus agnostischer Sicht beleuchtet. Ihr Beitrag über Feuerbach enthält außer einer Erzählung über die Mutter der Vfn. (81 f.) keine expliziten gerontologischen Bezüge.

Der zweite Abschnitt entfaltet Altersbilder in Religionen aus christlicher, jüdischer und islamischer Sicht. Die Beiträge zeigen eindrücklich auf, wie sich die abrahamitischen Religionen nicht nur auf erste und letzte Fragen (7), sondern auf das gesamte Leben der Gläubigen beziehen. Das Leben als Schöpfergabe Gottes schließt auch das Alter mit seinen Begleitumständen ein. Heinz Rüegger bringt biblische Impulse des Alten und Neuen Testaments in einen fruchtbaren Dialog mit gerontologischen Erkenntnissen und leitet daraus Aspekte einer spirituellen Lebenskunst im Alter ab (103–116). Von der Tora ausgehend veranschaulicht Michel Bollag das jüdische Menschenbild in Verbindung mit rabbinischen und mystisch-kabbalistischen Traditionen (121–133). Rifa’at Lenzin zitiert Suren zum Menschenbild im Koran (134–141) und untersucht ihre Bedeutung für das Alter (139–141).

Im dritten Abschnitt Religion, Gerontologie und Gemeindeleben liegt der Fokus auf der religiösen Begleitung alter Menschen. Religiöse oder konfessionelle Identitäten, die heute oft diffus, heterogen und fluide sind (156), stellen dabei besondere Anforderungen. Die Verfasser der Beiträge spüren Religion auch in säkularen Lebens-äußerungen auf: In der Ratgeberliteratur (146), dem Lifestyling (146), der Körperkultur (167.185). Aus poimenischer Sicht bringt Ralph Kunz wegweisende theologische Orientierungen in das verschwommene Verhältnis von Religiosität und Spiritualität (148–151.158–160). Zur Aufgabe der Seelsorge gehört es demnach auch, »auf den Religionsmix oder das Religionsnix des Gegenübers« sensibel einzugehen (157). Überzeugend legt er außerdem dar, dass es keine alterstypische Religiosität gibt (156). Vielmehr ist davon auszugehen, dass sich Sinnfragen, die sich durch das ganze Leben hindurchziehen, im Alter intensivieren und zuspitzen können (153.155 f.). Für die Praxis der Begleitung ist die individuelle Lebensgeschichte entscheidend, in die diese Fragen eingebettet sind (155 f.).

Es ist aufschlussreich, wenn in der Studie von Bernd Seeberger und Martin Pallauf (161–176) Befragte anmerken, Kirchengemeinden richteten ihre Arbeit in erster Linie auf Kinder und junge Familien aus und interessierten sich nicht für Ältere (163). Das Gleiche gilt für den Eindruck, viele Gemeinden seien mit den Erwartungen und Bedürfnissen älterer Menschen überfordert (168). Die empirische Untersuchung zur religiösen Praxis älterer Menschen wurde eigens für dieses Buch durchgeführt (161). Ihre Befunde belegen u. a. auch eine Entfremdung älterer Menschen von der Kirche als Institution (165–168).

Der vierte Abschnitt behandelt das Thema Religion und Demenz mit Beiträgen von Ralph Kunz und Christian Müller-Hergl. Übereinstimmend stellen beide Verfasser fest, dass Routinen, Rituale, Lieder, sinnliche Eindrücke u. a. Gefühle von sicherer Bindung bei dementen Menschen erzeugen können, wie die Geborgenheit in den Armen einer Mutter (212–221.229). Hinsichtlich dementer Menschen, die nicht im herkömmlichen Sinn gottesdiensttauglich sind (207.209), erinnert Ralph Kunz an die inklusive Vision des Jesus von Nazareth (207.210 f.) und profiliert christlichen Gottesdienst als »Lebenspraxis, die gegen den Ausschluss der Schwachen protestiert« (212). Zum geistigen Stoff der Religion schafft das Stoffliche eine Verbindung: Sinnliche Reize, Symbole, Rituale und Sakramente bauen Brücken zu Erinnerungen und Glaubensgeschichten (214 f.). Christian Müller-Hergl fragt aus Sicht der Pflegewissenschaft nach der Funktion von Spiritualität und Religion für Menschen mit Demenz (225). Er verweist auf Untersuchungen zum religiösen Coping bei Krankheit, die einen positiven Effekt von Religiosität bzw. Spiritualität belegen – auch bei pflegenden Angehörigen (225–227).

Der fünfte Abschnitt Glaube und Wissenschaften thematisiert schließlich das Spannungsverhältnis von Religion und empirischen Naturwissenschaften.

Dieser interdisziplinäre Sammelband vermittelt in seiner Gesamtheit die Komplexität von Religiosität im Alter. Die Beiträge erschließen Lebenswirklichkeiten und Glaubenshaltungen von alten Menschen im Bewusstsein der religiösen Pluriformität und Diffusität unserer Gegenwart. Das ist ausgesprochen erfreulich und keineswegs selbstverständlich. In diesem Buch wird ein weiter theologischer, gerontologischer und praxisorientierter Horizont auf einem hohen Reflexionsniveau beschritten. Er bietet zahlreiche Anknüpfungspunkte für die eigene berufliche Praxis und Selbstreflexion.

So ist diesem Sammelband eine breite Rezeption zu wünschen – nicht nur in den theologischen und gerontologischen Fachwissenschaften oder unter Seelsorgerinnen und Seelsorgern, sondern auch in Synoden und Kirchenleitungen. Denn er legt eindrücklich dar, wie anspruchsvoll die religiöse Begleitung alter Menschen ist. Bleibt zu hoffen, dass es zukünftig weitere interdisziplinäre Forschungen solcher Art zu diesem Thema gibt und der fruchtbare Austausch fortgesetzt wird.