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Ausgabe:

Januar/2023

Spalte:

117-119

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Siegwalt, Gérard

Titel/Untertitel:

Rétrospective d'un théologien.

Verlag:

Paris: Les éditions du Cerf 2022. 234 S. = Cerf Patrimoines. Kart. EUR 18,00. ISBN 9782204151320.

Rezensent:

Fritz Lienhard

Das Buch »Retrospektive eines Theologen« von Gérard Siegwalt stellt ein Postskriptum und damit eine nachträgliche Beleuchtung seines Gesamtwerks dar. Gleichzeitig führt das Buch in das Gesamtwerk ein, um dessen Sinn zu erschließen.

Das Buch ist zunächst interessant wegen seiner Konzeption einer »theologischen Existenz«. Als Berufung fordert die Theologie das ganze Sein. Daher kann der Autor die theologische Arbeit mit den Worten »köcheln lassen« oder »Schwangerschaft« beschreiben, eine Empfänglichkeit, die eine Beteiligung des betroffenen Subjekts einschließt. Aus diesem Grund stellen Störungen, das Leben mit seinen Anforderungen und Unwägbarkeiten kein Hindernis für die theologische Arbeit dar, sondern führen sowohl zu ihrer Verlangsamung als auch zu ihrer Bereicherung. Zweitens vertritt S. im Anschluss an Paul Tillich eine besondere Auffassung von der Systematischen Theologie. Diese ist untergeordnet, da sich der Glaube keineswegs auf die Zustimmung zu einem Lehrsystem reduziert, sondern zunächst eine Erfahrung darstellt, die sich in einer bestimmten Art und Weise des Seins und Lebens entfaltet. Dieser Glaube wird dann in Sätzen formuliert, die die Form einer Doktrin annehmen können. Zugleich bedeutet »System« im Ausdruck »Systematische Theologie« »zusammenfügen«, in diesem Fall das Zusammenfügen verschiedener Elemente eines Gefüges, aber auch scheinbar äußerlicher Motive. Es geht darum, ihre sowohl interne als auch externe Kohärenz aufzuzeigen, d. h. in Bezug auf die Realität als Ganzes und insbesondere auf das aktuelle Geschehen. In diesem Sinne spricht der Autor von Korrelation. Der systematische Ansatz der Theologie wird jedoch durch ihre Ablehnung jeglicher Theodizee und jeglicher Theologie der Geschichte gebrochen. Die »Dogmatik« ihrerseits ist nicht die Wissenschaft von den Dogmen, den historischen und relativen Ausdrucksformen des christlichen Glaubens. Ihr Gegenstand ist vielmehr deren Grund.

Bei dieser Herangehensweise ist der kulturelle und politische Kontext für das theologische Denken zentral. Denn der Autor verbindet die Säkularisierung und den Kapitalismus, die mit den Religionen unvereinbar sind. Der Kapitalismus stellt eine Dampfwalze dar, die die Natur, die Gerechtigkeit und die Solidarität unter den Menschen zermalmt. Sein Ausdruck kann auch die Diktatur der individuellen Freiheit sein. Ebenso führt die moderne Autonomie dazu, dass die Vernunft zum Absoluten erhoben wird. Der gegenwärtige Bankrott der Zivilisation ist eine Folge davon. Im Kontext der ökologischen Krise stellt sich die Frage nach Gott neu, als Frage nach der Erlösung angesichts der Erfahrung der Verlorenheit. Zusammen mit Tillich schlägt S. einen theonomen Ansatz im Dialog mit den Wissenschaften vor. Diese sind nicht dazu verurteilt, sich in sich selbst zu verschließen. Religion, Weisheit und Kunst öffnen die Wissenschaften für eine transzendente Dimension, die sich ihnen entzieht und ihren Ansatz prägt, sowie für die ethische Dimension der Verantwortung.

Innerhalb der Systematischen Theologie selbst geht S. vom Begriff des Glaubens aus. Für ihn stellt Glaube nicht ein Haben, sondern ein Werden dar. In diesem Zusammenhang ist auch Gott nicht an sich und für sich zu betrachten, sondern als Gott für das glaubende Subjekt. Aus dieser Perspektive gestaltet Gott seine Beziehung zum Gläubigen entsprechend der »Antenne« (in der deutschsprachigen Tradition »Anknüpfungspunkt« genannt) des Gläubigen, d. h. der menschlichen Gestalt seiner spezifischen Rezeption Gottes. S. geht also von der Realität des Gläubigen aus, die es zunächst zu beschreiben gilt. In diesem Zusammenhang hat der Autor zwei Pole des Glaubens herausgearbeitet, den der Natur und den der Geschichte. Dem entsprechen der Bund, der sich auf Abraham bezieht, der historisch ist, und der Bund, der sich auf Noah bezieht, der die gesamte Natur einschließt. Beide zusammen bilden ein Gleichgewicht zwischen der besonderen und der universellen Dimension. Aus dieser Sicht ist die Schöpfung die Ausweitung der Erlösung auf alles Reale, die Erlösung umgekehrt die besondere Aktualisierung des Schöpfungswerks Gottes im Leben des auserwählten Volkes und in der individuellen Existenz. Diese beiden Motive sind in ihrer Dialektik zu verstehen. Für S. ist die Offenbarung nicht Gegenstand eines christlichen Monopols. Sie ist die Grundlage nicht nur des biblischen Glaubens, sondern auch der Religionen in ihrer Pluralität, eine Perspektive, die eine kritische Unterscheidung – übrigens eine gegenseitige – mit einbezieht. Im Dialog mit der Zen-Meditation und dem Islam schließt der Autor den Polytheismus nicht aus, der es ermöglicht, der pluralistischen Erfahrung der Göttlichkeit gerecht zu werden, da der lebendige Gott die Götter und ihre spezifische Wirksamkeit integriert.

Was ergibt dieser Ansatz in Bezug auf die klassischen Themen der Dogmatik? Aus christologischer Sicht ist Jesus das Immanente des Transzendenten. Damit reformuliert S. die Rede von Jesus als dem Sohn des Vaters. Der auferstandene Christus seinerseits hat eine kosmische und ökumenische Tragweite. In Christus fasst Gott alles zusammen (Eph 1,10) und überwindet damit den Götzendienst. Denn Götzen sind verabsolutierte Aspekte der Wirklichkeit. Auf diese Weise zerstören sie sowohl die Beziehung zu Gott als auch die Einheit des Realen. Diese Dimensionen in die Beziehung zu Gott in Christus zu integrieren, bedeutet, die götzendienerische Dimension zu überwinden und gleichzeitig den Wahrheitsgehalt der betreffenden Motive anzunehmen. Dies läuft auf eine Transformation hinaus. Die klassische trinitarische Behauptung scheint jedoch erfahrungsfern zu sein, von einer überholten griechisch-philosophischen Begrifflichkeit abzuhängen und zu Missverständnissen zu führen. Um sie zu verstehen, muss man von der christlichen Grunderfahrung ausgehen, die mehrere Formen annimmt, nämlich die des Vaters, des Christus und des Geistes. Auf diese Weise ist das Christentum sowohl unitarisch als auch trinitarisch.

Aus anthropologischer Sicht hat die westliche Theologie den Körper vergessen, indem sie eine Anthropologie ohne Kosmologie entwickelt hat. Auf diese Weise wird die Auslegung der Heiligen Schrift verengt auf eine von der Natur abgekoppelten Sicht des menschlichen Wesens. Dieses Vorgehen geht Hand in Hand mit der einseitigen Betonung des Bundes mit Abraham auf Kosten des Bundes mit Noah. Darüber hinaus ist die Anthropologie des Autors durch das Gesetz des »Stirb und werde« geprägt. D. h. der Mensch ist eher in seinem Werden als in seinem Sein zu begreifen. Das Leben ist eine Prüfung und ein Weg. Dieses Werden ist unvereinbar mit falschen Sicherheiten, wenngleich man auch im Werden vom Vertrauen in eine Gewissheit lebt.

Gewiss, die Rezeption von S.s Werk ist zurückhaltend und unscheinbar geblieben. Dieses Problem mag mit seinem Schreibstil zusammenhängen, der von einem tiefen Sinn für Komplexität und einer synthetischen Auffassung der Wirklichkeit geprägt ist. Ein solches Verständnis des Gegenstands der Theologie führt zu einem eher meditativen als diskursiven Stil, zu einem eher spiralförmigen als durchgehenden Verlauf. Dennoch muss man sehen, dass S. zumindest in Bezug auf zwei Themen, die heute im Zentrum der theologischen Aktualität stehen, ein Pionier ist: den Dialog zwischen den Religionen und die ökologische Krise. Auch ergänzt er besonders relevant eine Christologie des Wortes und eine Pneumatologie der inneren Erfahrung mit einer Theologie der Schöpfung.