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Ausgabe:

Januar/2023

Spalte:

109-110

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

David, Philipp, Erne, Thomas, Krüger, Malte Dominik, u. Thomas Wabel [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Körper und Kirche. Symbolische Verkörperung und protestantische Ekklesiologie.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2021. 616 S. = Hermeneutik und Ästhetik, 1. Kart. EUR 68,00. ISBN 9783374063314.

Rezensent:

Manuel Stetter

Ein Denken in Dichotomien hat an Plausibilität markant eingebüßt. Wer über die letzten Jahrzehnte akademisch sozialisiert wurde, dem leuchtet eine Kritik an binären Oppositionen geradezu unmittelbar ein. Eine Herauslösung des Denkens aus der Welt der praktischen Vollzüge, eine Absage an die Relevanz der Dinge zugunsten einer emphatischen Auszeichnung des Bewusstseins, eine Trennung von Körper und Geist lassen sich heute kaum mehr anschlussfähig vertreten. Insofern ist es weniger die Infragestellung dualistischer Reduktionismen an sich als ihre spezifische Durchführung und reflexive Entfaltung, die interessante Einsichten verspricht und gespannt macht auf Lektüren wie die des Sammelbands »Körper und Kirche. Symbolische Verkörperung und protes-tantische Ekklesiologie«.

Der von Philipp David, Thomas Erne, Malte Dominik Krüger und Thomas Wabel in der Reihe »Hermeneutik und Ästhetik« herausgegebene Band geht auf eine Tagung an der Philipps-Universität Marburg zurück, die 2019 durchgeführt wurde. Ergänzt um weitere Beiträge zielen die versammelten Artikel auf die Auslotung von »Verknüpfungsmöglichkeiten des Paradigmas der ›Verkörperung‹ mit der protestantischen Ekklesiologie« (11). Einsatzpunkt und Reflexionsfeld einer stringenteren Berücksichtigung der materiellen Aspekte des Sozialen sind damit klar umrissen. Ausgehend vom primär kognitionswissenschaftlichen Embodiment-Diskurs wird eine »Neuperspektivierung[-] des kirchentheoretischen Diskurses« (19) anvisiert.

Mit einigem Recht halten die Herausgeber fest, dass das etablierte theologische Nachdenken über die Kirche bei aller Wahrnehmung der materiell vermittelten kirchlichen Praxisformen im Einzelnen, in seinen konzeptionellen Hauptlinien und theo-retischen Leitmetaphern primär Konzepte der Sprache, der Deutung oder makrostrukturelle Ordnungskategorien mobilisiert. Angeregt durch den Verkörperungsdiskurs sollen hier alternative Optionen erkundet werden.

Das Konzept der Verkörperung, auf das sich die Beiträge auf je unterschiedliche Weise beziehen, besitzt u. a. drei theoretische Konturen, die auch in diesem Band wiederholt aufgerufen werden. Entgegen alltagssprachlichen Konnotationen adressiert der Verkörperungsbegriff kein Sekundärphänomen, wonach ein zunächst Körperloses allererst nachträglich ver-körpert würde. Die Idee der Verkörperung leitet vielmehr dazu an, mentale Zustände ab ovo als materiell vermittelt zu betrachten. Zudem spielt der Verkörperungsbegriff nicht exklusiv auf somatische Vermittlungen des Geistes an. Auch Artefakte, Technologien oder Räume sind als relevante Teilnehmer kognitiver Prozesse zu berücksichtigen. Schließlich soll durch die Emphase der Verkörperung kein umgekehrter Reduktionismus befördert werden. Wo das Mentale oder die Register der symbolischen Kommunikation ihrerseits zu bloßen Epiphänomenen biologischer oder technischer Prozesse degenerierten, würde die konstruktive Pointe des Verkörperungsdiskurses verspielt.

Der Band gliedert sich in vier Teilkapitel. Unter der Überschrift »(Ver)Körper(-ung) und Religion« werden zunächst Beiträge versammelt, die die »Grundlagen und Grenzen des Verkörperungskonzepts« (27) erörtern (mit Beiträgen von Anton Friedrich Koch, Jörg Dierken, Matthias Jung, Magnus Schlette und Maike Schult). Das zweite Kapitel »(Ver)Körper(ung) und Gemeinschaft« rückt die soziale Dimension der Kirche in den Vordergrund und bringt sie mit verkörperungstheoretischen Überlegungen ins Gespräch (mit Beiträgen von Ruben Zimmermann, Johannes Weth, Isolde Karle, André Flimm und André Munzinger). Der dritte Abschnitt »(Ver)Körper(ung) und Raum« greift raumbezogene Zugänge zur Religion auf (mit Beiträgen von Alexandra Grund-Wittenberg, Thomas Wabel, Malte von Spankeren, Thomas Erne und Philipp David), während das letzte Kapitel »(Ver)Körper(ung) und Praxis« auf die Vollzugsförmigkeit der Kirche anspielt, die freilich auch in den vorausgehenden Kapiteln immer wieder thematisch wird (mit Beiträgen von Katharina Eberlein-Braun und Marcus Held sowie Maximilian Bühler/Kristina Fiedler/Simon Jungnickel/Torben Stamer/Jonathan Weidler). Eine Einleitung führt konzis in die Thematik ein und stellt die Anliegen der Beiträge vor. Ein Personen- und Sachregister verschafft Zugriff auf übergreifende Themen und Bezüge.

Der Umfang einer Rezension verbietet es, die insgesamt 18 Artikel im Einzelnen zu besprechen. Deutlich ist, dass die Beiträge nicht nur aufgrund unterschiedlicher disziplinärer Zugänge sehr vielfältige Blickwinkel auf das Thema anbieten. Vom philosophischen Beweis, alle Subjektivität sei notwendig leiblich, über die exegetische Rekonstruktion alttestamentlicher Raumkonzeptio-nen bis zur verkörperungsinteressierten Relecture systematisch-theologischer Klassiker und Analysen kirchlicher Gegenwarts-praxis führt der Band die Leser und Leserinnen auf einen weit ausgreifenden Bogen, der durchaus geistige Flexibilität verlangt, damit aber auch einen breiten Denkraum eröffnet. Der Verkörperungsgedanke bietet offensichtlich ein Feld, auf dem ein breites Spektrum an Themen, diverse Zugänge mit ihren je eigenen theo-retischen Backgrounds und verschiedene Fachkulturen zusammenkommen können. Dies dürfte nicht zuletzt daran liegen, dass über die kognitionswissenschaftlichen Forschungen hinaus die Frage der Materialität auch in den Sozial- und Kulturwissenschaften seit Längerem eine große Aufmerksamkeit erfahren hat und neue Zugänge zur Religion stimulierte.

Wie die Beiträge zeigen, zeichnen sich hier für eine Theologie der Kirche in der Tat instruktive Perspektiven ab, die es innerhalb der Ekklesiologie und Kirchentheorie weiter auszuarbeiten gilt und dazu anleiten, die materiellen Komponenten religiöser Praxis noch konsequenter in die Erforschung der Kirche eingehen zu lassen. Sie versprechen, sowohl geläufige Stereotype einer protestantischen Innerlichkeit oder gar Körperfeindlichkeit kritisch zu hinterfragen und komplexer zu zeichnen als auch tatsächliche Engführungen der Kirche auf beliefs, Kommunikation, Deutung oder Symbol konstruktiv zu weiten. Dass es dabei nicht um nur additive Ergänzungen gehen kann, verdeutlichen die Beiträge des Bandes durchgängig. Vielmehr gilt es, das kirchliche Leben von Grund auf im Horizont einer unabdingbar verkörperten Religionskultur zu begreifen, in der sich der Ausgriff auf Transzendenz nicht nur materiell ausdrückt, sondern durch den Körper und seine Sinne sowie die Räume und ihre Dinge mitkonstituiert.