Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Januar/2023

Spalte:

107-109

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Axt-Piscalar, Christine, u. Andreas Ohlemacher [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Die lutherischen Duale. Gesetz und Evangelium, Glaube und Werke, Alter und Neuer Bund, Verheißung und Erfüllung. Hgg. im Auftrag der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD).

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2021. 256 S. Kart. EUR 22,00. ISBN 9783374068807.

Rezensent:

Kinga Zeller

Früher oder später begegnen sie allen Studierenden der evangelischen Theologie und Religionslehre: die lutherischen Duale von Gesetz und Evangelium, Glaube und Werk, Altem und Neuem Bund sowie von Verheißung und Erfüllung. Ihr ursprüngliches Anliegen war es, als hermeneutischer Schlüssel für die biblischen Texte zu fungieren, sodass diese zum einen trotz ihrer Vielfalt als Einheit verstanden werden können sowie zum anderen in ihrer existenzerschließenden Bedeutung zur Geltung kommen und so das Leben der Gläubigen orientieren. Kritik blieb freilich nicht aus und besonders ernst zu nehmen sind nicht nur die Einsichten his-torisch-kritischer Bibelforschung, die die inkommensurable Pluralität der biblischen Texte herausstellen und christologische Auslegungen des Alten Testaments problematisieren, wenn nicht ganz abweisen. Besonders ernst zu nehmen sind vor allem auch Stimmen aus dem jüdisch-christlichen Dialog, die auf einen in den Dualen impliziten Antijudaismus aufmerksam machen, der sich einerseits in einer Vereinnahmung, andererseits in einer Abwertung des Alten Testaments ausdrückt, das als hebräische Bibel Heilige Schrift des Judentums ist. Angemahnt wird in diesem Kontext auch der explizite Antijudaismus in Luthers Theologie in Verbindung mit den Dualen, der bspw. dann sichtbar wird, wenn der Reformator Juden (gemeinsam mit »Mahometisten, Papisten und Ketzern«) als »Werkheilige« gegenüber Christen abqualifiziert (WA 40/I, 49,21 ff.).

Es ist daher sehr erfreulich und wichtig, dass der Sammelband einen Fokus auch auf das antijudaistische Potenzial der Duale legt und sich ausdrücklich zum Ziel gesetzt hat, »antijudaistischen Fehldeutungen zu wehren und vergangene Fehldeutungen aufzuarbeiten« (12). Besonders gut gelingt das Ulrich Heckel, der bezüglich der Rede vom Alten und Neuen Bund die Problematik expliziert, anhand der relevanten biblischen Texte durchdekliniert und immer wieder auch Hinweise für die Praxis gibt. Weniger ausführlich in der Problembeschreibung, aber sehr klar im Abschnitt V. Gegenwärtige Aktualität gelingt das auch Uwe Becker in seinem Beitrag zu dem Dual von Verheißung und Erfüllung.

Vor dem Hintergrund der o. g. Kritiken an den Dualen ist es konsequent, dass sich der Sammelband nicht nur auf die Duale bezieht, sondern auch dem Verhältnis von Altem und Neuem Tes- tament einen eigenen Beitrag widmet. Dass der Dual von Gesetz und Evangelium, anders als die anderen Duale, in zwei Beiträgen thematisiert wird, ist der Sache ebenso angemessen, weil er das eine Mal in seiner existenzerschließenden Bedeutung behandelt wird und das andere Mal in seiner bibelhermeneutischen Funktion.

Ein wenig bedauerlich ist, dass auf Luthers Antijudaismus nicht eingegangen wird. Das hätte sich in Wolf-Friedrich Schäufeles sonst sehr informativem Beitrag »Luthers Unterscheidung von Gesetz und Evangelium« gerade in Bezug auf Luthers Auslegung alttes-tamentlicher Texte angeboten. Zumindest eine Fußnote auf entsprechende Literatur wäre wünschenswert gewesen. Denn wenn Schäufele fragt, ob bei Luther »der Dual von Gesetz und Evangelium womöglich eine Inferiorität des Alten Testaments und indirekt zugleich des Judentums gegenüber dem Neuen Testament und dem Christentum [impliziert]« (54), dann müsste erwähnt werden, dass gerade für Luther eine bedingte, weil in seinen Texten nicht immer durchgehaltene, Verneinung des einen keine wie auch immer geartete Verneinung des anderen bedeutet. Dass Luthers Vorwurf an die Juden, Gerechtigkeit durch Werke zu erlangen, in Rochus Leon- hardts Beitrag zu dem Dual von Glauben und Werken nicht thematisiert wird, überrascht wiederum weniger, weil seine Fokussierung klären will, inwiefern den guten Werken auch innerhalb lutherischer Konfessionalität eine Bedeutung zukommt, weshalb sie aber keine Heilsrelevanz besitzen. Er beantwortet damit drei der ebenfalls bezüglich der Duale im Vorwort aufgeworfenen Fragen, nämlich die nach ihrem spezifischen Sinn, nach Luthers Gebrauch und nach ihrer Bedeutung für die Gegenwart.

Als Antworten auf diese Fragen lässt sich auch der thesenhaft gestaltete Beitrag Christine Axt-Piscalars verstehen, der in seiner pointierten Darstellung immer wieder zur gedanklichen Aus- einandersetzung, zu Zuspruch sowie Widerspruch herausfordert und dadurch ein besonders anregendes Leseerlebnis generiert. Be­züglich antijudaistischer Tendenzen unterstreicht Axt-Piscalar, dass es sich bei der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium um eine innerkonfessionelle Unterscheidung handelt, nicht um eine, die den eigenen Glauben gegenüber anderen profilieren will.

Was der Beitrag Axt-Piscalars für die Systematiker ist, ist vermutlich der Beitrag von Achim Behrens für die exegetisch interessierte Leserschaft. Er geht der Frage der Relevanz des Altes Testaments für die christliche Auslegung nach und bietet einen guten Überblick über gegenwärtige Modelle, ohne seinem Publikum eine endgültige Lösung des hermeneutischen Problems vorzugeben. Dabei diskutiert Behrens auch, inwiefern eine christliche Inanspruchnahme des Alten Testaments überhaupt legitim ist.

Der Band erschien parallel zur ebenfalls von Christine Axt-Piscalar und Andreas Ohlemacher herausgegebenen Handreichung »Um des Evangeliums willen«, die vom Theologischen Ausschuss der VELKD für Predigerinnen und Prediger verfasst wurde. Beide Texte verstehen sich als selbstständige Werke, mit dem Potenzial zur gegenseitigen Vertiefung. Ebenso haben beide Bände dieselbe Zielgruppe, nämlich Predigerinnen und Prediger, die von einer Lektüre des hier besprochenen Werkes sicherlich profitieren werden. Darüber hinaus sei der Sammelband von der Rezensentin aber ausdrücklich auch Lehrkräften empfohlen, um ihr Wissen über diese hermeneutisch so grundlegenden lutherischen Duale aufzufrischen, zu vertiefen und für die Vermittlung in ihrem Berufsalltag fruchtbar zu machen. Die Empfehlung gilt umso mehr, da die einzelnen Beiträge sich insgesamt sehr angenehm lesen lassen und auch für eine Leserschaft, die sich nicht aktiv am wissenschaftlichen Diskurs um die Duale und/oder die Theologie Martin Luthers beteiligt, gut nachvollziehbar sind.