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Ausgabe:

Januar/2023

Spalte:

102-103

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Oesterhelt, Anja

Titel/Untertitel:

Geschichte der Heimat. Zur Genese ihrer Semantik in Literatur, Religion, Recht und Wissenschaft.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2022. X, 650 S. m. 39 Abb. = Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, 157. Geb. EUR 109,95. ISBN 9783110707731.

Rezensent:

Philipp David

Die hier zu besprechende Habilitationsschrift im Fachgebiet »Neuere Deutsche Literatur« von der Germanistin Anja Oesterhelt aus dem Jahr 2019, begutachtet von Joachim Jacob, Uwe Wirth (beide JLU Gießen) und Claudia Stockinger (HU Berlin) sowie mit dem Preis der Justus-Liebig-Universität Gießen des Jahres 2021 ausgezeichnet, ist nichts Geringeres als ein Meilenstein in der Erforschung der Deutungsgeschichte des Begriffs »Heimat«. Vor dem Hintergrund gegenwärtiger kontroverser politischer Debatten um das Verständnis von »Heimat« klärt die Studie – angefangen beim »religiösen Diskursursprung« – über Herkunft, Entwicklung und (soziale) Konstruktion von Begriff, Semantik und Konzept der »Heimat« bis Anfang des 20. Jh.s über das historische Gewordensein und die hermeneutischen Zugriffe in den Diskursfeldern der Religion, des Rechts, der Pädagogik, der Volkskunde und der Philologie besonnen auf. Fünfunddreißig farbige Abbildungen illustrieren die fast sechshundertseitige detailreiche Rekonstruktionsleistung, Literatur- (573–638) und Personenverzeichnis (639–649) sind dieser angefügt.

In der »Einführung« werden die »Geschichte der Heimat als Geschichte des 19. Jahrhunderts« gedeutet (11–64) und »Grundfiguren« (65–146) als »Begriffe in Bewegung« (65) exemplarisch beleuchtet: »Heimat und Vaterland«, »Heimat, Volk und Biene«, »Heimatboden und Frauenleib«, »Heimat und Fremde: Exil, Migration, Diaspora«, »Heimat und Dichtung«. Im Kapitel über die »Himmlische Heimat« (149–310) – denn das »Erdendasein ist im christlichen Verständnis niemals wahre Heimat« (149) – werden christlich-religiöse Deutungsvarianten vorgestellt, in denen sich im 19. Jh. »bis dahin Unerhörtes« ereignet: »Die irdische Heimat wird als Vorschein der himmlischen denkbar« (149). Im Kapitel »Heimatrecht« (311–426) wird der Rechtsbegriff untersucht, denn vergessen ist diese Vorgeschichte der modernen Heimatsemantik im gegenwärtigen Heimatdiskurs: »Heimat war über Jahrhunderte hinweg ein juristischer Begriff, dem eine konkrete Rechtspraxis entsprach« (311). Schließlich wird im Kapitel »Heimatkunde« (427–558), chronologisch ausgehend von der Pädagogik, die Verwendung des Heimatbegriffs exemplarisch in Volkskunde, Germanistik und ihrer Didaktik sowie der Literaturgeschichtsschreibung als Zusammenhang von Historismus und Heimatdiskursen gelesen und das Kapitel beschließend in die ambivalente »Fortschrittskonstellation Heimat – Nation« eingezeichnet.

In ihren »Schlussbemerkungen: Heimat und keine Ende« (559–572) gibt O. vor dem Hintergrund ihrer Forschungsergebnisse einen Ausblick auf die »Hypertrophierung des Heimatbegriffs um 1900«, die im Ersten Weltkrieg in der »Parole Heimat« kulminiert und auf verschiedene »Heimat-Konjunkturen« hinweist, die allerdings fortwährend von Gegenbewegungen begleitet werden (560), z. B. in den Deutungsvarianten von »Heimatlosigkeit«, die vor dem Hintergrund von Diktatur, Holocaust und Exil noch einmal in der deutsch-jüdischen Diaspora oder in der anti-bürgerlichen Kritik ganz neue Konnotationen gewinnt, wobei O. die bleibende Korrelation von Heimat und Heimatlosigkeit feststellt (561–563). Der akzentuierte Ausblick über die Weiterentwicklung des Heimatbegriffs in Literatur und Gesellschaft in den vergangenen einhundert Jahren zeigt nicht nur, welche Tragweite das bürgerliche Heimatverständnis des mittleren bis späten 19. Jh.s als Surrogat für Religion bis heute hat (571), wenn O. z. B. auf die »post-biedermeierliche Landlust-Kultur« verweist, sondern auch, dass nur der »genauere historische Blick« helfen kann, »historische Kurzsichtigkeit zu beheben« (571). So hat der Nationalsozialismus »keinen originären Heimatbegriff« hervorgebracht, »sondern knüpft an völkische Auslegungen an, die allesamt schon am Ende des 19. Jahrhunderts ausgebildet waren« und in der Diktatur »vereinseitigt« wurden (571).

O. zeigt in ihrer Studie auf Basis umfassender Textkenntnisse sowie mit analytischem und pointierungssicherem Sachverstand, wie die verschiedenen Diskursstränge, Transformationsprozesse (»Neujustierungen«) und Verwendungsweisen des Begriffs »Heimat« in jüdisch-christlicher Religion, Theologie und Altphilologie, Rechts- und Staatswissenschaft, Volkskunde, Pädagogik und Literaturgeschichtsschreibung miteinander verwoben sind, sich wechselseitig beeinflussen und mittels einer »Säkularisierung« des Begriffs der himmlischen Heimat aus der christlichen Frömmigkeitsgeschichte herausführen. Die sozial- und literaturgeschichtliche Studie ist ein interdisziplinär anschlussfähiger Forschungsbeitrag und vermag durch ihre quellensichere Auswertung auch in die Theologie, Volkskunde, Pädagogik und Rechtswissenschaften neue und nachhaltige Einsichten zu vermitteln. Nicht zuletzt ist sie ein Beitrag zur Versachlichung einer mitunter emotional aufgeladenen Debatte. Eindrücklich und souverän zeigt diese außergewöhnliche Studie, welchen gesellschaftspolitischen Beitrag geisteswissenschaftliche Forschung zu leisten vermag. Nicht zuletzt überzeugt die Studie durch stringente Argumentation, kohärenten Aufbau und zudem durch sprachliche Eleganz. Es ist eine Freude, diese Untersuchung zu lesen und O.s »Versuch, ein Netz zu entwirren, in das man sich währenddessen immer weiter verstrickt« (2), mitzugehen und am Schluss mit ihr zu der Einsicht zu gelangen: »Es ist gut, sich diese Geschichte bewusst zu machen und sich zu entscheiden, ob und wie man sie fortsetzen möchte« (572). Das eindrucksvolle Buch hat das Potential zu einem Standardwerk.