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Ausgabe:

Januar/2023

Spalte:

96-100

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Bredenbach, Ingo, Leppin, Volker, u. Christoph Schwöbel [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Bach unter den Theologen. Themen, Thesen, Temperamente.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2022. IX, 293 S. Kart. EUR 39,00. ISBN 9783161599668.

Rezensent:

Konrad Klek

Der Band enthält die (teilweise umfänglich ausgearbeiteten) Beiträge zu dem Symposium, das in Tübingen 2018 parallel zum Bachfest der Neuen Bachgesellschaft (Motto: »Bach bearbeitet«) durchgeführt wurde. Außer dem Tübinger Stiftskirchenkantor Ingo Bredenbach, der auch als Mitherausgeber fungiert, sind alle Beiträger Theologen. Während die Tübinger Musikwissenschaftler ein eigenes, rein musikologisches Symposium veranstalteten, trauten sich die Theologen, ihre Fachgrenze zu überschreiten und das bereits viel diskutierte Thema der theologischen Dimensionen von Bachs Musik und deren Rezeption wieder einmal aufzugreifen. Je zwei Beiträge stellen sich vier Themenbereichen, korrespondierend mit der Bachfest-Konzeption auch zu späteren Stationen der Bachrezeption bis zur Frage nach der heutigen Bedeutung Bachs für die Theologie.

Bach selbst betreffend formuliert zunächst der (inzwischen in New Haven lehrende) Mystik-Experte Volker Leppin konzentriert gefasste »Überlegungen« zu »Bach und die mystische Tradition«. Überzeugend profiliert er Brautmystik, Passionsmystik und Inkarnationsmystik als drei bei Bach auszumachende Schienen, referiert jeweils deren Anschluss an bereits bei Luther vorliegende Ausführungen und deren Zuspitzung beim für das barocke Luthertum so wirkmächtigen J. Arndt. Leider berücksichtigt L. zu wenig den für Bachs Libretto-Dichter wie seine Hörer naheliegenden Textkorpus der Mystik-affinen Kirchenlieder. Obwohl L. den kategorischen Vorbehalt artikuliert, nur über die Kantaten-Texte und nicht über Bachs Transferleistung in der Vertonung sprechen zu können, geht er bei einschlägigen BWV-Beispielen doch auf die Musik ein und riskiert Mängel. BWV 49 Ich geh und suche mit Verlangen etwa kann man nicht besprechen, ohne die schon vor Bach konstituierte Gattung Dialogkantate mit der Mystik-spezifischen Konstellation Jesus=Bass, Sopran=Anima (Seele) im Blick zu haben. Bei BWV 159 Sehet, wir gehen hinauf gen Jerusalem sitzt L. der von W. Blankenburg vor 40 Jahren erfolgreich in die Welt gesetzten »Mär mit der Maria« auf, die Altstimme verkörpere bei Bach Maria, hier von L. noch modifiziert zu Maria Magdalena. »Zwei Frauenstimmen, Sopran und Alt« (11) sind bei Bachs Leipziger »Boy-Group« schlicht nicht definiert.

»J. S. Bach unter den Theologen« im wörtlichen Sinn entfaltet der Erlanger Emeritus Walter Sparn, einer der wenigen Experten für die Theologie des ganzen 18. Jahrhunderts, indem er Bachs theologische Partner in Arnstadt und Leipzig – warum nicht in Mühlhausen, wo es signifikante Konflikte gab? – mit großer Detailgenauigkeit vorstellt, aber auch Bachs konfliktträchtige Leipziger Position in der Ständegesellschaft de facto »unter Theologen«, ihnen untergeordnet, umreißt, um ihn selber schließlich als »Bibelausleger unter Bibelauslegern« in Zusammenarbeit mit seinen diversen Librettisten zu profilieren. S. kann die signifikanten Verschiebungen im theologischen Zeitgeist ab etwa 1730, gerade in Leipzig als Schmelztiegel pluraler Strömungen, präzise benennen, konstatiert aber die evidente Unberührtheit Bachs von solchen Dingen in seinem beruflichen Umfeld. Zu ergänzen wäre, dass Bach mit dem in den ersten Leipziger Amtsjahren ab 1723 angelegten Kantatenfundus ja auch unbeirrt seine gesamte Amtszeit bestritt. Interessant gewesen wäre hier eine Untersuchung der bei der Johannespassion belegten späteren Textänderungen bis hin zum Aufführungsverbot durch die Zensur 1739. Ob aus dem Beichtvaterstatus eines Pfarrers für Bach selbst oder aus Taufpatenschaften für eines seiner vielen Kinder wirklich eine persönliche Nähe zu schließen ist, mag man nach dem hier präsentierten Befund eher bezweifeln. Bachs (bzw. seiner Librettisten) profilierte »applikative Bibelauslegung« reiht S. sachgerecht in den Strom der orthodoxen Erbauungsliteratur ein und umreißt sie als Intensivierung des »affektiven Glaubenslebens«. Während S. die orthodoxe Tradition und Umwelt ebenso wie aufklärerische Neuansätze genau im Blick hat, bleibt der Pietismus eher unterbelichtet. Eine kurze Bemerkung zu pietistischen Melodien im von Bach bearbeiteten »Schemelli«-Gesangbuch (40) übergeht die weiter reichende Frage, wie Bachs in seinem Wirken singuläre Arbeit an diesem tendenziell pietistischen Gesangbuch überhaupt einzuschätzen ist. Zu »Schemelli« gibt es aber bisher keine Monographie, und S. stützt sich in seinem Beitrag eben durchgängig auf Forschungsarbeiten anderer, dies allerdings mit großem Überblick. Für Bachs Agieren als Musiker ist seine Referenzquelle die Biographie von Chr. Wolff zum Bach-Jahr 2000. Inzwischen, 20 Jahre später, stellt sich da manches nicht mehr so eindeutig dar, etwa die Aufführung der Matthäuspassion 1727 (statt 1729) oder die Präsentation von Kyrie und Gloria der h-Moll-Messe im Leipziger Erbhuldigungsgottesdienst für den sächsischen Thronfolger mitten in der Zeit der Landestrauer (27).

Wer an der Komplexität der von S. geschilderten Verhältnisse etwas irre geworden ist, kann sich an der Einheitsphantasie des Tübinger Emeritus Eilert Herms wieder auferbauen: »Die Einheit von Kultus und Kultur in der Musik J. S. Bachs« mit der Fortschreibung »und in der Bach-Rezeption der Familie Mendelssohn Bartholdy«. Die emphatische Beschreibung des Konnexes von Kunst, Musik, Kultus und Kultur im Wirkungsbereich des barocken mitteldeutschen Luthertums wird grundiert mit des Autors Theorie des Spiels, welche dem Kultus, fixiert auf den sonntäglichen Hauptgottesdienst (mit Bachs Kantate), die Zentralstellung zuweist (63 ff.). Allerdings war dieser immer schon flankiert vom sonntäglichen Vespergottesdienst (ebenfalls mit »Musik«) und zahlreichen Wochengottesdiensten. Zudem spielte für das »Chris-tentum als Bildungsgeschichte« (64) gerade im Luthertum die katechetische Unterweisung im Schulalltag eine zentrale Rolle. Auch das Kulturphänomen der persönlichen Frömmigkeitspraxis mit Zentralstellung der »ars moriendi« lässt sich bei H. nicht integrieren. Ex negativo belegt H. sein Einheitskonzept mit den dann je unterschiedlich vorpreschenden Antipoden dazu Lessing und Goethe, welche sich biographisch mit Bach allerdings nicht kreuzen.

Von Lessing führt die Brücke zu dessen Freund Moses Mendelssohn, und von da zu dessen Sohn Abraham, Vater von Felix Mendelssohn Bartholdy. Die Bachpflege in den Kreisen mehrerer Berliner jüdischer Vorfahren wird von H. als entscheidende Brücke aufgebaut für seine Theorie, dass via Bachs Kirchenmusik dieses Einheitskonzept auf die Familie Mendelssohn übergegangen sei. Auch für Sohn Felix gelte: »Ihren wesentlichen Zweck erfüllt Musik als Musik für den Kultus« (86). Dabei sei der Konzertsaal »nicht Konkurrenz, sondern Ergänzung der Kirche« (88). Nun hat sich Familie Mendelssohn in Berlin allerdings als Kulturträger hervorgetan gerade mit »Sonntagsmusiken« im häuslichen Salon um 11 Uhr, schon von der Terminierung her doch wohl eine Konkurrenz zum Gottesdienst, bei welchen »Kirchenmusik« nur en passant eine Rolle spielte. Zudem diskutiert H. nicht die dezidierten Äußerungen von Felix über die Unvereinbarkeit von musikalischer Kunst und dem Gottesdienst seiner Zeit. Später ist er denn auch in seinem kurzzeitigen »Kirchenmusiker«-Amt am Berliner Dom gescheitert. Schade, dass H. nicht des Komponisten explizit greifbare Luther-Faszination behandelt, kulminierend im Luther-Motto, das er auf die Titelseite der Lobgesang-Sinfonie setzen lässt: »Ich wöllt alle künste, sonderlich die Musica, gern sehen im dienst, des der sie geben und geschaffen hat.« Dies wäre für die »lutherische« Musik-Konzeption des postaufklärerischen Komponisten ernst zu nehmen und zu deuten, aber nicht die steile (und in Werk- und Textdetails ungenaue) Auslegung von Bachs Actus tragicus BWV 106 als vermeintlichem Schlüsselwerk für Bach wie für die Familie Mendelssohn. Hier sitzt H. seinem zweiten musikologischen Gewährsmann neben Chr. Wolff (s. o.), J. E. Gardiner auf. Das Bach-Buch dieses stark religiös motivierten Bach-Dirigenten (dt. 2016) sollte man eher als Belletristik rezipieren denn als verlässliche Fachliteratur. Ebenso problematisch ist, dass H. sich für die Mendelssohns in einigen zentralen Punkten auf P. Härtlings Liebste Fenchel (2011) über die Felix-Schwester Fanny stützt. Das ist nun wirklich Belletristik pur.

Die Bach-Rezeption zwischen Bachs Tod 1750 und der aufsehenerregenden Wiederaufführung der Matthäuspassion 1829 durch die Berliner Singakademie (als Verein) nimmt der jetzt in Bonn wirkende Martin Keßler als lokal wie institutionell zu differenzierendes Phänomen in den Blick: »Bachs posthume Erinnerung zwischen Kirche, Hof, Universität und Vereinen«. Die Fülle der historischen Informationen und der benannten personellen Verknüpfungen bei den Protagonisten sind ein Gewinn. Einen eigenen Forschungsbeitrag bietet K. mit Ausführungen zum auch als Musikschriftsteller agierenden Stettiner Pfarrer Johann Karl Friedrich Triest, dessen biographisch ergiebiger Brief an den Zeitschriften-Redakteur F. Rochlitz aus dem Jahre 1804 als Beilage hier (erst)veröffentlicht ist. Das neue Phänomen der von institutioneller Anbindung unabhängigen Musikpublizistik (z. B. Allgemeine Musikalische Zeitung ab 1800) kommt hier gut zur Geltung, wenngleich K. die ausgewerteten Schriftsteller jeweils ihren Institutionen zuordnet und zu stark darauf bezogen bewertet: Herder und Triest als Pfarrer, Reichhardt als preußischer Hofkapellmeister, Forkel als Göttinger Universitätsmusikdirektor. Inhaltlich ins Spiel kommt hier auch die Rezeptionskonkurrenz vom zunächst erfolgreicheren Händel mit Bach, was die Bach-Verehrer zu erhöhtem publizistischen Aufwand nötigte.

Zwei Beiträge widmen sich Albert Schweitzers Bach-Deutung als prominentem und wirkmächtigem Fall von theologischer Bach-Rezeption im 20. Jh. »Die Frage nach dem historischen Bach und den Begriffen ›Dichterische und malerische Musik‹« behandelt Schweitzer-Experte Werner Zager in theoretischem Zugriff, wobei er auch zur Deutung Bachs als Mystiker kommt und diese in Schweitzers Denken einordnet. Ingo Bredenbach referiert »Bach in der Sicht A. Schweitzers« an dessen Bachspiel als Organist, eingebettet in eine sehr gründliche, mit zahlreichen Notenbeispielen erhellende Präsentation von Vorgeschichte und Zeitkontext der Orgelwerk-Editionen. Seine in Kleindruck präsentierte Übersicht über die Bach-Notenüberlieferung seit dessen Tod (199 f.) präsentiert »Basics«, die für alles Sprechen über Bach-Rezeption unerlässlich sind. Schweitzers Deutung des Orgelbüchleins als »Wörterbuch der Tonsprache« Bachs stellt B. an signifikanten Beispielen vor und würdigt dies als »intuitiv« treffende Erschließungsarbeit dessen, was heute als musikalische Rhetorik wissenschaftlich fundiert Allgemeingut ist. Leider nimmt B. die französische »Bach-Tradition«, in die Schweitzer bei seinem Pariser Lehrer Widor eintauchte, nicht ebenso detailliert in den Blick wie die deutsche Bachspiel-Praxis. Zusätzlich zu den zahlreich vorliegenden theologischen wie musikologischen Einzelstudien zu A. Schweitzer sind diese Texte sehr lesenswert.

Die beiden letzten Beiträge widmen sich stärker systematisch der Fragestellung, was heute die Theologie für die Bachforschung und Bachs Musik für die Theologie austragen kann. Duke-Professor Jeremy Begbie setzt sich (in seinem aus dem Englischen übersetzten Text) zunächst kritisch mit jüngeren theologischen Vorwürfen an Bach auseinander, darunter dem seit 1989 artikulierten Antijudaismusvorwurf gegenüber Johannes-Evangelium wie Johannes-Passion Bachs, ehe er entfaltet, wie in der Spur von Bachs Musik dualistische und antinomische Sprach- und Denkformen in der Theologie überwunden werden können. Christoph Schwöbel (†) zieht mit »Theologisch Arbeiten mit Bach« eine Art Resümee und formuliert treffende Einsichten zum theologischen Gehalt von Bachs Musik, die »Dimensionen entdeckt, die im Wort allein nicht ohne Weiteres transponiert werden können« (263), zum Verhältnis von Luthers Musikanschauung und Bachs Musikpraxis und schließlich zur theologischen Valenz Letzterer, deren »Nachvollzug« (285) der theologischen Arbeit vielfach Anregungen bieten könne.

Bei den Passagen, wo Schwöbel konkret auf Bachs Kantatenschaffen eingeht, wird wie schon bei den vorigen Theologenbeiträgen das Manko deutlich, dass keine Person aus der Bach-Forschung ins Lektorat des Buches einbezogen wurde. Zu vieles ist einfach unpräzise. Überhaupt wurde sehr mangelhaft lektoriert. Fehler gibt es auf diversen Ebenen. Das offensichtlich nicht überprüfte Trennprogramm durfte sich alles erlauben (z.B. »Clavie-rübung« S. 280), von grässlichen Namenstrennungen ganz zu schweigen. Schließlich wäre noch das Fehlen eines Beiträgerverzeichnisses zu monieren, während ein Register zu BWV-Nummern (ohne Kantatentitel!), Namen und Begriffen erstellt wurde.