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Ausgabe:

Januar/2023

Spalte:

93-96

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Steinmetz, Michael Nathan

Titel/Untertitel:

The Severed Self. The Doctrine of Sin in the Works of Søren Kierkegaard.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2021. V, 202 S. m. 1 Tab. = Kierkegaard Studies. Monograph Series, 38. Geb. EUR 99,95. ISBN 9783110753394.

Rezensent:

Heiko Schulz

Die vergleichsweise schmale Monografie geht vermutlich auf seine Dissertation zurück, doch macht Michael Nathan Steinmetz, der inzwischen am Brewton-Parker College (Georgia) Christian Studies lehrt und sich auch ansonsten in der evangelikalen Tradition US-amerikanischer Prägung verortet (vgl. 179), hierzu keine Angaben. S.’ Studie nimmt »the entirety of Søren Kierkegaard’s writings« in den Blick mit dem Ziel »to systematize his doctrine of sin« (3). Die doppelte Forschungsfrage, die diesen Systematisierungsversuch leitet, betrifft erstens die werkimmanente Konsistenz, zweitens die theologische Anschlussfähigkeit der Kierkegaard’schen Hamar-tiologie. Die damit gesetzten Leit- und Teilziele werden in neun Kapiteln umgesetzt, deren architektonisch ungegliederte Abfolge allerdings nicht erkennen lässt, dass sie zu fünf Hauptabschnitten (Kap. 1; Kap. 2; Kap. 3–6; Kap. 7–8; Kap. 9) zusammengefasst werden können.

Die Einführung (Kapitel 1: 1–24) bietet eine fragmentarische Bio-grafie Kierkegaards, erörtert die Rolle Hegels und des dänischen Hegelianismus als geistespolitisch und werkgenetisch formative Größen, skizziert knapp Kierkegaards sog. Stadienlehre, begründet die eigene, an den bzw. einigen pseudonymen Schriften orientierte Quellenauswahl und verteidigt eine binnenhermeneutische Methode, die einerseits auf der Überzeugung fußt, dass in punkto Sündengedanke zwischen pseudonymen und nichtpseudonymen Texten grundsätzliche Übereinstimmung besteht, und die diese Konsistenzthese andererseits im Interpretationsvollzug selber zu überprüfen bzw. zu plausibilisieren sich vornimmt (vgl. 22).

Der Theologie des Sündengedankens vorausgeschickt wird mit Kapitel 2 (25–38) ein Abschnitt über die »Stimmung« (mood, vgl. 37) der Angst als psychologisch-genetischer Sündenbedingung; denn »[a]s psychology is to theology, so is anxiety to sin« (26). Entscheidend ist dabei laut S., dass mit der Angst »the moment of [freedom’s] possibility« (36) auf den Plan tritt – im Unterschied zum späteren, hiervon bereits abhängigen Moment der Verzweiflung (despair) als »actual state of misrelation of the self« (ebd.; meine Hervorh.). Als Medium jener Möglichkeit, in der Freiheit für sich selbst erstmals ›gegenständlich‹ wird, hat Angst allerdings auch eine theologisch weitreichende positive Funktion: »anxiety points to the active nature of sanctification and Christian mission« (38).

Die nachfolgenden Kapitel 3–6 (39–109) gehören wie gesagt zusammen und bilden auch dem Umfang nach den Hauptteil der Untersuchung. Dabei werden vier Basismerkmale der Sünde nach Kierkegaardschem Verständnis herausgearbeitet: Sünde als Missverhältnis (misrelation) im Verhältnis zu Gott (Kap. 3); als Unwahrheit (untruth, Kap. 4); als Existenzmedium oder -zustand (existential state; Kap. 5); schließlich als Ausdruck jener Reduplikation (redoubling, Kap. 6), derzufolge »[p]erformed sin is both a sin [in itself] and causes others to sin« (21; meine Hervorh.). Alle vier Kapitel orientieren sich an bestimmten, meist pseudonymen Schriften bzw. Schriftgruppen in Kierkegaards Werk, in denen die gesetzten Akzente nach Meinung S.’ besonders deutlich hervor-treten: Die Krankheit zum Tode (Kap. 3); Philosophische Brocken (Kap. 4); Der Begriff Angst (Kap. 5); Taten der Liebe/Literarische Anzeige (Kap. 6). Im Zentrum steht hierbei, wie schon der Haupttitel des Buches vermuten lässt, die Verzweiflungsschrift von 1849 und damit der Missverhältnisaspekt im Phänomenbestand der Sünde: Das sündige Selbst, so die hermeneutische Kernthese, ist als sol-ches »severed«, d. h. ein »gebrochenes«, von Gott als seinem Ursprung und Ziel »abgelöstes« oder »getrenntes« Selbst – drastischer formuliert: ein relational, und zwar durch sich selbst kastriertes Selbst.

Mit den einschlägigen Analysen der Brocken kommt ein Moment ins Spiel, das ebensosehr als (psychologisch, epistemisch, ontologisch, ethisch und theologisch explizierbare) Vorbedingung wie als Folge bzw. Wirkung der Sünde erscheint: die »Unwahrheit« (untruth) des Sünders, im Sinne von dessen zuinnerst gewollter Unfähigkeit, sich selbst im Spiegel des göttlichen Verhältnisses zu ihm bzw. zur Wahrheit seines (des Menschen) Verhältnis zu Gott ansichtig zu werden. Unwahrheit ist hier demzufolge »not So-cratic ignorance, but rather … an active state of denying the reality of God« (78). Einerseits kategorial, andererseits epistemisch ergibt sich aus diesen Vorgaben zweierlei: »Sin is a theological category«; und »knowledge of sin can come only from God« (77).

Gegen jede vollzugstheoretische Verkürzung (qua peccatum actuale) schärft Kapitel 5 (81–95) am Leitfaden einschlägiger Passagen der Angstabhandlung ein, dass Sünde »is not a mere ›thing‹ one does, but rather […] a qualitative state into which one leaps« (82) – ein »Existenzzustand«, der seinerseits im Sinne einer »ensuing corruption« (ebd.) fatale Wirkungen bis in die außermenschliche Natur hinein zeitigt. Der berüchtigte »Sprung« (leap) wird dabei als radikaler »shift in existential position« (87) gedeutet, denn »[o]nce the leap occurs the individual is fundamentally different that she was before the leap« (ebd.). Insgesamt führt nach S. die Angstabhandlung dabei einen Spagat zwischen Pelagianismus und Determinismus vor, »a via media, trying to show the volitional aspect of sin while claiming sin’s inevitability« (93).

Einigermaßen überraschend wirkt der Sprachgebrauch S.’ in Kapitel 6 (96–109): Der Begriff Reduplikation (redoubling), in den Taten der Liebe als »positive force in the life of a Christian« (99; meine Hervorh.) ausgelegt, erhält hier ein negatives Korrelat, denn auch die Sünde »redupliziert« (vgl. 97). Reduplikation wird dabei in formaler und normativ neutraler Vorzeichnung als »inward appropriation that moves outward into lived existence« (98) bestimmt, sodann aber hamartiologisch wertend als ansteckende Fortsetzung und -wirkung individuell sündigen Handelns im Kontext von Gemeinschaft und Gesellschaft beschrieben – eine Wirkung, die aus Kierkegaards Sicht ihren Gipfelpunkt in der fatalen Transformation von Christentum in »Christenheit« bzw. von Einzelnem in »Menge« findet.

Kapitel 7 (110–137) und 8 (138–168) können wiederum zu einem Block zusammengefasst werden. Beiden Kapiteln kommt hierbei eine methodisch einigermaßen kuriose Bestätigungsfunktion zu: Der zuvor erprobte, an den vier genannten Leitbegriffen (Sünde als Missverhältnis, Unwahrheit, Existenzzustand, Reduplikation) orientierte Interpretationsansatz soll sich durch eine produktionsästhetische Zusatzanalyse bestätigen bzw. als fruchtbar und tragfähig erweisen. Die Analyse zielt auf den Nachweis, dass der Standpunkt aller nichtreligiösen – d. h. aller ästhetischen (z. B. Constantin Constantius) und ethischen (z. B. Assessor Wilhelm) – Pseudonyme unter Verwendung eben jener vier Leitgesichtspunkte auf einsichtige und hermeneutisch erhellende Weise charakterisiert und verurteilt werden kann: nämlich als Standpunkt des Sünders. Naheliegenderweise rekurriert Kapitel 7 auf die einschlägigen Quellen der ästhetischen (Entweder/Oder I; Die Wiederholung; [Teile aus] Stadien auf des Lebens Weg), Kap. 8 hingegen auf die der ethischen Schriftstellerei (Entweder/Oder II; Furcht und Zittern; Vorworte; [Teile aus] Stadien auf des Lebens Weg). Alle hierbei berücksichtigten Pseudonyme, so jedenfalls lautet das Fazit S’., »display the four attributes of Kierkegaard’s understanding of sin« (168) und müssen daher, in Übereinstimmung mit Kierke- gaard, in ein kritisches Licht gerückt werden. Die einzige Ausnahme bildet der namenlose Pfarrer, dessen Predigt Assessor Wilhelm am Ende von Entweder/Oder II seinem Freund A zur angelegentlichen Lektüre empfiehlt: Er allein erscheint, aus naheliegenden Gründen, bei Kierkegaard »in a positive light« (168).

Die abschließenden Ausführungen (Kap. 9: 169–180) votieren dafür, dass Kierkegaards Sündentheorie insgesamt als »thoroughly orthodox« (179), eben deshalb aber auch als systematisch-theologisch verbindlich gelten könne. Der entsprechende Nachweis wird erbracht, indem die bislang eher rhapsodisch verbundenen vier Leitaspekte auf hamartiologisch fundierende Beschreibungshinsichten zurückbezogen und zugleich als theologisch verbindlich bestätigt werden. Demnach handelt es sich bei der existenzformativen (= 3) sowie der reduplikativen Kraft der Sünde (= 4) um bloße »by-products« bzw. Wirkungen, nicht aber um die »essence of sin« (173). Den beiden übrigen Elementen (Sünde als Missverhältnis [= 1]/ Sünde als Unwahrheit [= 2]) ist zwar ihr volitiver Charakter gemeinsam (»one chooses to misrelate and one chooses to be in untruth« [ebd.; meine Hervorh.]); im engeren Sinne wesensbestimmend ist nach Meinung S.’ allerdings nur der erste Faktor: »The nature of sin is misrelation to God« (ebd.; im Orig. kursiv). Demgegenüber werden Quelle und Genese der Sünde im Möglichkeitssinn der Angst (vgl. 174), ihre Hauptwirkung in der menschlichen Erfahrung des Auf-sich-selbst-Zurückgeworfenseins aufgrund der Loslösung vom göttlichen Ursprung verortet (vgl. 175). Die Universalität der Sünde qua »Vererbung« schließlich wird von Kierke-gaard, laut S. theologisch durchaus sachgemäß, auf nicht-imputa-tionalistische Weise interpretiert: »All will sin, but no one is forced to sin […] because of Adam’s actions« (177; meine Hervorh.).

Wie bereits jüngere und jüngste binnendogmatische Diskurse zeigen (z. B. I. U. Dalferth versus K. Huizing), ist das Sündenthema zumindest auf theologischer Seite keineswegs erledigt – und dasselbe lässt sich mutatis mutandis auch für die Kierkegaardforschung sagen. Insofern darf das Thema der vorliegenden Monografie in der Tat als nach wie vor akademisch relevant gelten. Im Rahmen seiner knappen und durchweg konzentrierten Analysen gelingen S. überdies eine Reihe origineller und vor allem exegetisch bedenkenswerter Deutungsvorschläge und Detailbeobachtungen: z. B., dass Johannes der Verführer selber ein – und zwar durch die Sünde, als einer solchen – Verführter ist (vgl. 118); oder dass das Vermögen der Wahl als notwendige Bedingung jeder sinnvollen und/ oder möglichen Unterscheidung von Gut und Böse fungiert (vgl. 141); etc. (vgl. ferner 51.86.89.91.93.102.150).

Insgesamt muss S.’ Studie gleichwohl als misslungen gelten, und zwar aufgrund einer Reihe von sachlich wie methodisch gravierenden Mängeln.

1) S. zitiert reichlich aus der (NB: anglophonen) Forschungsliteratur – de facto delegiert er die hermeneutische Verantwortung häufig an Gewährsmänner –, aber es fehlt ein einleitender Forschungsüberblick, der seinen Zugriff auf das Sündenthema innerhalb einer (ohne Übertreibung: seit Jahrzehnten) international geführten Kierkegaard-Debatte hätte eigenständig profilieren müssen. Stattdessen erhält der Leser einleitend einen gerafften Überblick zur Philosophie Hegels, dessen themenspezifische Relevanz und Funktion (ebenso wie die der einleitenden Kierke-gaardbiografie) völlig offenbleibt. 2) Die hamartiologischen Kernhinsichten, die S. in Kapitel 9 einführt (Eigenart, Ursprung und Genese, Universalität, Wirkungen der Sünde), sind unvollständig: Es fehlen zumindest die Parameter des Sündenbegriffs (vgl. I. U. Dalferth: Sünde ist all das, was Gott vergibt) und Formen der Sünde. 3) Schwerer noch wiegt ein methodologischer Einwand: Die genannten kategorialen Hinsichten hätten von vornherein zum Gliederungs- und Darstellungsprinzip sowie zur hermeneutischen und quellenselektiven Grundlage des Kierkegaard-Referates gemacht werden müssen, anstatt die Darstellung an ausgewählten Texten/Textgruppen bzw. Pseudonymen zu orientieren, die vier maßgebliche – genauer: als maßgeblich unterstellte – sündentheoretische Akzente setzen. Letztere wirken (4) rhapsodisch:

Im vorliegenden Fall kann sich der Leser jedenfalls des Eindrucks nicht erwehren, dass den einschlägigen bzw. als einschlägig ausgegebenen Texten von S. nicht erlaubt wird, für sich selbst zu sprechen, sondern dass sich diese stattdessen einem durch S. auf allenfalls partiell nachvollziehbare Weise festgelegten Auslegungsschema fügen müssen. Das gilt vor allem für die sachlich wie hermeneutisch einigermaßen kuriose Standortbestimmung der Kierkegaardschen Pseudonyme mit Hilfe der vier genannten Sünden-aspekte, die insgesamt wenig erhellend, ja im Gegenteil eher krampfhaft wirkt und im Übrigen auch Kierkegaards mitteilungstheoretische Finesse konterkariert. Schließlich kommt es 5) auch innerhalb des gewählten Interpretationsrasters immer wieder zu Lücken oder fragwürdigen Detail-auslegungen: So unterbleibt etwa die 4-Aspekte-Bewertung im Falle der nach eigenem Bekunden humoristischen (Climacus) sowie der dezidiert christlichen Pseudonyme (Anticlimacus) – ohne erkennbaren Grund. Ferner wird der Begriff Sünde einerseits, und durchaus zu Recht, als genuintheologische Kategorie eingestuft (vgl. 26), deren Eigenart andererseits aber anthropologisch expliziert wird, nämlich als Missverhältnis im Gottes- und/oder Selbstverhältnis. Überdies fehlt die Zuordnung des Momentes der Sünde alsUnwahrheit zu den abschließend eingeführten hamartiologischen Kernhinsichten – sie müsste m. E. im Sinne Kierkegaards sowohl zu den Voraussetzungen wie den Folgen bzw. Wirkungen der Sünde (als Zustand) gerechnet werden. Es trifft im Übrigen auchnicht zu, dass »sin has perverted Silentio’s comprehension of faith and duty« (152).

Fazit: S.’ Studie bietet eine thematisch und forschungskontextuell zwar nach wie vor sinnvolle und teils auch hermeneutisch und theologisch durchaus eigenständige, nach Anlage und Durchführung insgesamt aber eher enttäuschende Darstellung und Diskussion der Kierkegaardschen Hamartiologie.