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Ausgabe:

Januar/2023

Spalte:

88-91

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Kirschner Martin [Hg.]

Titel/Untertitel:

Subversiver Messianismus. Interdisziplinäre Agamben-Lektüren.

Verlag:

Baden-Baden: Academia Verlag (Nomos Verlagsgruppe) 2020. 370 S. = Academia Philosophical Studies, 70. Kart. EUR 74,00. ISBN 9783896658616.

Rezensent:

Rebekka A. Klein

In der Reihe derer, die in jüngerer Zeit eine produktive und spannende theologische und philosophische Auseinandersetzung mit dem Werk des italienischen Rechtstheoretikers und Philosophen Giorgio Agamben unternommen haben, ist dieser Sammelband besonders hervorzuheben. Der von Martin Kirschner von der Universität Eichstätt-Ingolstadt initiierte Band zur interdisziplinären Diskussion der politischen Philosophie Giorgio Agambens umfasst 370 Seiten. In dem Werk mit Beiträgen von elf Autorinnen und Autoren wird nicht nur theologisch, sondern auch in großer interdisziplinärer Offenheit das Gespräch mit dem Werk Agambens gesucht. Anders als es oft der Fall ist, sind die Beiträge des Bandes auch dort, wo sie Kritik an Agambens Ansatz üben, oder diesen überschreiten, niemals von Unverständnis oder vorschneller Verurteilung geprägt, sondern nehmen im starken Sinne die Form einer kritischen Würdigung und produktiven Fortschreibung an. Dabei fokussieren alle Beiträge in sehr konzertierter Weise das erhabene Zentrum von Agambens Werk: die messianische Kraft in ihrer subversiven Performanz und Potenzialität. Ein Subthema des Bandes, welches erst beim Querlesen der Beiträge deutlich hervortritt, ist Agambens Beschäftigung mit dem Körper und der biopolitischen Performanz einer (De-)Nudierung. Der letzte Band der Homo sacer-Reihe, welcher den »Gebrauch« der Körper als Signatur unserer Zeit thematisiert (L’uso dei corpi, 2014), wird daher in den Beiträgen durchgehend als Flucht-, aber auch als Dreh- und Angelpunkt einer Neuvermessung des politischen Raums durch Agamben erachtet. Dabei beziehen sich die Beiträge in überaus instruktiver Weise nicht nur auf die bekannten Teilbände von Agambens Homo sacer-Tetralogie, sondern auch auf Schriften in seinem Werk, die eher am Rande oder vollkommen außerhalb dieses Projekts stehen und daher in anderen Interpretationen oft nicht erwähnt oder bedacht werden.

Eine weitere Besonderheit des vorliegenden Bandes ist es, dass er Stimmen zur Deutung des Agambenschen Messianismus in einer großen interdisziplinären Breite vereint. Der Herausgeber verweist bereits in seiner Einleitung zu Recht darauf, dass die Forschungen Agambens sich keiner Einzeldisziplin zuordnen lassen. Vielmehr seien sie dadurch geprägt, dass sie die verschiedensten Diskurse aufgreifen, diese überraschend aufeinander beziehen und darin neue Konstellationen eröffnen. Die Rezeption von Agamben entscheide sich daher an der »Bereitschaft, ein Theorieangebot zu rezipieren« (16), und nicht daran, ihn bloß philosophisch zu lesen. Wie dies gehen kann, hat Kirschner in insgesamt drei intensiven Forschungsseminaren in Tübingen und Eichstätt über mehrere Jahre erprobt. So sind neben der dogmatischen und Fundamentaltheologie auch die historische Theologie sowie philosophische, soziologische, germanistische und kunsthistorische Perspektiven vertreten. Es ist allerdings schade, dass keinerlei Interpreten aus dem Bereich der evangelischen Theologie in das Projekt mit einbezogen worden sind.

In der Einleitung scheut der Herausgeber sich nicht, zu den in der Corona-Pandemie lautgewordenen Vorwürfen Stellung zu nehmen, Agamben habe die realpolitische Herausforderung, wie der Staat mit dem Virus umgehen könne, durch sein Konzept der Biopolitik verkannt und sie durch seine historischen Genealogien überzeichnet. Gegenüber diesem Vorwurf bemerkt Kirschner, dass Agambens Studien nicht auf »eine direkte Kritik an Einzelmaßnahmen oder auf alternative Lösungsmodelle« zielen, sondern auf »tieferliegende Strukturen und Tendenzen«, die trotz des Rückganges auf »[randständige] Quellen und Figuren« gleichwohl in aktuellen Entwicklungen wirksam seien (8–9). Das Denken auf den »Seitenwegen« des aktuellen Tagesgeschehens müsse demnach nicht auf Abwege führen, sondern diene der Anerkennung und Auseinandersetzung mit dem in ihm konstitutiv Verkannten. Hierin sei das Verdienst Agambens zu sehen.

Das theologische Anliegen des Bandes sieht der Herausgeber darin, zu einer »neuen Lesbarkeit der messianischen Traditionen in der Gesellschaft wie in der Kirche« (26) zu kommen. Messianismus sei dabei ausgehend von Agamben nicht als Theorem, sondern als Performanz einer Leere und Untätigkeit – theologisch als »Sabbat-ruhe«– zu verstehen, welche »die herrschende politische Ordnung und ihre Betriebsamkeit unwirksam macht« (10). Das subversive, die herrschende Ordnung transformierende Denken Agambens ziele daher in keiner Weise auf eine aktionistische Form, sondern entfalte seine Wirksamkeit vielmehr im »schonenden« Studieren einer destituierenden (nicht: destruktiven) Kraft, welche die Funktionslogik von Recht und Politik unterläuft, sie deaktiviert, ohne direkt gegen sie zu opponieren oder sie zu unterbrechen.

Dieser Punkt wird noch einmal besonders in dem von Moritz Rudolph verfassten Beitrag akzentuiert, in dem der Autor sich nicht scheut, auch ganz konkrete Praxisfiguren der von Agamben angestrebten »sanften« Außerkraftsetzung der herrschenden Ordnung aufzuzeigen und dabei auf tagespolitische Diskurse einzugehen. Gegen eine anderenorts vertretene Agamben-Rezeption, die Agambens Bemühungen um das Vergangene als Unabgegoltenes mit dem Diktum konzediert hat, »außer Spesen [sei] nichts gewesen« (E. Geulen), vermag es Rudolph aufzuzeigen, inwiefern es Agamben gelingt, ein »Modell für die richtige Inaktivität« zu entwickeln, welche den Ausweg aus der Gegenwart eben nicht revolutionär und kämpfend, sondern »gestisch, allein und leise« vollbringt (242 f.).

Auch der Beitrag von Peter Zeillinger setzt auf dieser Linie an den politischen Potenzialen und nicht an dem vermeintlichen »geschichtsphilosophischen Pessimismus« (O. Marchart) von Agamben an. So sei Agambens Archäologie nicht eklektisch – wie etwa E. Geulen behauptet, die Agamben als »Jäger im Dickicht der Texte« beschreibt, der gleichsam nur Material für seine radikalisierenden Thesen an den entlegensten Orten der Geschichte zusammensammelt. Vielmehr verfolge Agamben eine topologische Methode, die Orte aufsucht, an denen sich eine sonst unsichtbar bleibende und übersehene Struktur der Wirkmächtigkeit souveräner Macht singulär zeigt, ohne in ihnen aufzugehen. Agambens Studien seien zudem nicht ohne praktikable Konsequenzen, wie ihm viele seiner Kritiker unterstellt haben, sondern würden die Möglichkeit einer »Politik-ohne-Souveränität« aufzeigen, einer politischen Praxis, die »ohne Rekurs auf einen souveränen Akt auskommt« (268). Ihr Paradigma, die ihr innewohnende treibende Kraft und neue wirkmächtige Performanz des politischen Lebens, die Inoperativität, sei wie im biblischen Bild der Sabbatruhe oder der Endzeit eine messianische Kraft, die der wechselvollen Geschichte der Welt »nichts« mehr hinzufügt. Dies sei jedoch nicht mit dem Aufruf zu einer passiv und unpolitisch verbleibenden Untätigkeit gleichzusetzen, wie Zeillinger gegen eine verbreitete Fehlinterpretation argumentiert. Agamben gehe es vielmehr um eine neue Performativität des politischen Lebens, um eine nicht-repräsentative Politik, die den Umgang mit dem »Nicht-Einordenbaren« und »Unvereinbaren« pflege und seiner Neutralisierung durch den Mechanismus der einschließenden Ausschließung widerstehe.

Ebendiese nicht-repräsentative Politik steht auch im Zentrum der politisch-theologischen Deutung Agambens durch Martin Kirschner. Agamben unterlaufe die säkular selbstverständliche Trennung des Theologischen und Politischen durch seinen archäologischen Ansatz, der Orte der Berührung zwischen beiden aufsuche und darin einen Kontakt ohne Relationalität ermögliche. Beispielgebend sei hier sein Umgang mit der Theologie des Paulus. Wie Paulus verweise Agamben auf eine schwache messianische Kraft, siedle sie aber anders als dieser nicht in Kreuz und Auferstehung, sondern in der Kontaktzone zwischen ihnen an, in der Grablegung, in welcher sich eine Destitution der Königsherrschaft vollziehe. Hier zeige sich jene »Potenz-des-nicht-zu«, welche die Operativität des Relationalen durchbreche. Eine solche Position stelle die katholische Theologie, welche seit dem II. Vatikanum auf eine relationale Ontologie setze, vor eine Herausforderung. Denn in der Operativität des Relationalen sei mit Agamben eine Verstrickung zu sehen. Agambens Ansatz eines »kontemplativen Anarchismus« verheiße demgegenüber einen neuen fruchtbaren Weg. In ihm werde das politische Leben ins Messianische der Inoperativität hinein »verrückt«. Dies sei insbesondere in der ökologischen Krise und der raschen Taktung der digitalisierten Welt eine befreiende Öffnung.

Der von Kirschner herausgegebene Band zu Agambens subversivem Messianismus ist überaus lesenswert und bietet gerade für die Fundamentaltheologie und Dogmatik eine Fülle an weiterführenden Perspektiven und Anknüpfungspunkten, die nicht nur in der katholischen, sondern auch in der evangelischen Theologie rezipiert und weiter diskutiert werden sollten.