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Ausgabe:

Januar/2023

Spalte:

83-85

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Wenz, Gunther

Titel/Untertitel:

Im Werden begriffen. Studien zur Lehre vom Menschen bei Pannenberg und Hegel.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020. 593 S. = Pannenberg-Studien, 7. Geb. EUR 120,00. ISBN 9783525540848.

Rezensent:

Raphaela J. Meyer zu Hörste-Bührer

Gunther Wenz ist Emeritus im Fach Systematische Theologie an der Evangelisch-theologischen Fakultät der Universität München. Als Leiter der ökumenischen Wolfhart Pannenberg-Forschungsstelle an der Hochschule für Philosophie in München publiziert er nach der Herausgabe von sechs Bänden zur Pannenbergforschung (zu Themen wie etwa Religionsphilosophie und Weltverantwortung, Theologie der Natur und Christologie) nun als siebenten Band eigene Beiträge zur Anthropologie von Pannenberg und Hegel. Eine Herausgabe weiterer Texte zur Anthropologie ist für den 9. Band »Was ist der Mensch? Zu Wolfhart Pannenbergs Anthropologie« angekündigt.

Die Untersuchung zeigt »Gemeinsamkeiten zwischen Pannenbergs Anthropologie und Hegels Lehre vom Menschen […] bis in die Details der Stofforganisation hinein« (14), es werden aber auch deutliche Differenzen aufgezeigt: Pannenberg sieht bei Hegel »die menschliche Endlichkeit im Konzept der absoluten Idee zum lediglich transitorischen Moment« (14) herabgesetzt und damit nicht angemessen ernstgenommen. Mit Pannenberg ist der Mensch dagegen »nicht nur geschichtlich, sondern als Geschichte zu verstehen« (17, Hervorhebung im Original).

Das erste Kapitel beginnt mit einer vom mittelalterlichen Philosophen Abu Bakr Ibn Tufail geschriebenen Geschichte: Ein kleiner Junge, Hayy Ibn Yaqzan, wird von einer Gazelle aufgezogen und erkennt sich gegenüber den Tieren zunächst als »Mängelwesen« (20), entdeckt dann aber seine Möglichkeiten der Kompensation der Mängel durch Technik und Kultur und reflektiert schließlich die Fragen nach der Entstehung der Welt. W. hält fest:

»Was ist der Mensch? Ein Wesen, das um sich weiß und ein Bewusstsein seiner selbst hat, ohne doch den Grund, in dem sein Ich und seine Welt gründen, unmittelbar aus sich heraus theoretisch erfassen und auf einen abschließenden Begriff bringen zu können. Dass dem so ist, geht uns, wie das Beispiel von Hayy Ibn Yaqzan zeigt, spätestens dann auf, wenn wir erwachsen geworden und zum entwickelten Bewusstsein unserer selbst und unserer Welt gelangt sind.« (22)

Der Mensch ist sich also selbst fraglich. Hegel und Pannenberg nehmen beide an, dass es sich nicht »unmittelbar und gleichsam naturhaft feststellen« (28) lässt, »was der Mensch ist« (28), sondern dies »sich erst aus einem geschichtlichen Vermittlungsprozess« (28) ergibt. So ergibt sich gewissermaßen eine weitere Antwort auf die Frage nach dem Menschen, die sowohl Hegels wie auch Pannenbergs Anthropologie auf den Punkt bringt: Das Wesen des Menschen ist »im Werden begriffen und nur als ein im Werden begriffenes zu begreifen« (28). »Im Werden begriffen« lautet daher auch der Titel, den W. seinen Untersuchungen gibt.

Im zweiten Kapitel folgt zunächst eine Untersuchung von Pannenbergs Hegelrezeption. Im dritten Kapitel wendet sich W. der Analyse der Anthropologie Hegels unter dem Titel »Erhebung zum Absoluten« und im vierten Kapitel der Anthropologie Pannenbergs unter der Überschrift »Der Mensch als Geschichte« zu. Im fünften und sechsten Kapitel rückt wieder Hegels Anthropologie in den Fokus, überschrieben mit »Erde, Pflanze, Tier« und »Naturgeist«. Das siebte Kapitel, »Von der naturtranszendierenden Wesensnatur des Menschens«, fragt nach Pannenbergs Verhältnis zur sogenannten »Philosophischen Anthropologie« und bespricht Max Scheler, Helmut Plessner und Arnold Gehlen. Im achten Kapitel, »Die Bestimmung des Menschen«, untersucht W. Pannenbergs Herderdeutung, im neunten Kapitel, »Verständiges Gegenstandsbewusstsein«, stehen »Pannenbergs Theorie der Sachlichkeit und der Ansatz der Hegel’schen Geistphänomenologie« im Zentrum der Untersuchung. Das zehnte Kapitel, »Vernünftiges Selbstbewusstsein«, fragt nach »Hegels Verständnis des seiner selbst gewissen Ichs«, das elfte Kapitel, »Der Geist der Freiheit und seine Realisierung«, nach seiner »Lehre von der theoretischen und praktischen Vernunft«. Das zwölfte Kapitel, »Das Ich und das Selbst«, thematisiert Pannenbergs »Egologiekritik«, also die Kritik an der Annahme, es gäbe eine vorgängige »Einheit von Ich und Selbst« (342). Im Sinne Pannenbergs hält W. fest: »Das Ich ist, was es ist, auf dem Wege zu sich selbst.« (342) Diese Selbstwerdung wird im dreizehnten Kapitel, »Transzendenz des Personseins«, näher beleuchtet. Das vierzehnte Kapitel steht unter der Überschrift »Kultur als zweite Natur« und bespricht explizit Pannenberg und Hegel. Im fünfzehnten Kapitel, »Vom Unwesen der Sünde«, kommt W. auf Pannenbergs Hamartiologie zu sprechen. Das sechzehnte Kapitel, »Vom Geist der Versöhnung«, bespricht Hegels Philosophie der Religion. Dieses letzte Kapitel vor dem Epilog schließt mit dem Abschnitt, der nochmals auf den Begriff bringt, was Pannenberg bei Hegel vermisst: »Endlichkeit, Kontingenz, Differenz, Unmittelbarkeit« (535).

Der Epilog mit dem Untertitel »Das Feuerbachsyndrom« thematisiert gewissermaßen im weiten Rückblick auf die vorangegangenen Kapitel die Frage, welche Rolle die Religion für die Anthropologie spielt. Er folgt damit Pannenbergs Urteil, eine neuzeitliche Theologie müsse »das religionskritische Purgatorium« (548) der Auseinandersetzung mit Feuerbach durchschreiten. Nach W. ist im Ergebnis zugleich Religion als ein »anthropologisches Universale« festzuhalten und Gott nicht »durch den Menschen zu ersetzen« (593), wie dies Hegel vielfach vorgeworfen wurde. Diesen beiden Aspekten fügt W. aber noch einen weiteren hinzu:

»Theologisch aber kommt alles auf die Einsicht an, dass dem Schöpfer Himmels und der Erden nichts Menschliches und nichts Kreatürliches fremd ist. Der Allmächtige kennt die Ohnmacht und weiß, was es heißt, nicht nur nicht allwissend, sondern in Bezug auf Grundbestände der eigenen Existenz im Ungewissen zu sein.« (593)

Auch nach fast 600 Seiten zu Pannenbergs und Hegels Anthropologie muss also festgehalten werden, dass der Mensch sich selbst fraglich bleibt und sich selbst nicht auf den abschließenden Begriff zu bringen vermag. Das ist aber keinesfalls Grund zur Klage, sondern entspricht eben gerade dem »im Werden begriffenen« Wesen des Menschen selbst.

W. gibt seinen Leserinnen und Lesern eine beeindruckende Einführung in die anthropologischen Diskurse der Neuzeit. Im Blick auf die beiden zu Anfang und Ende erwähnten Bestimmungen des Menschseins drängt sich der Leserin allerdings eine entscheidende Differenz auf: Während sich das »Im Werden begriffen«-Sein treffend auch von neugeborenen, schlafenden, bewusstlosen und selbst sterbenden Menschen sagen lässt, so ist das Fragen nach sich selbst und die Erkenntnis der Ungewissheit über den Grund der Herkunft den wachen, gereiften und leistungskräftigen Menschen vorbehalten. Im Blick auf die an die Anthropologie anschließenden ethischen Fragestellungen ist daher vor allem die Kombination beider Bestimmungen unbedingt festzuhalten. Die herausgearbeitete Bedeutung der Geschichte und des Werdens im Gegenüber zum welterfahrenen Schöpfer hat dabei auch wichtige ethische Potentiale und bietet Anschlussstellen etwa zu Hans G. Ulrich, der in seiner Ethik »Wie Geschöpfe leben« ausdrücklich »Menschliches Leben im Werden« als »Gegenstand der Erkundung geschöpflicher Existenz« pointiert.

W.’ Studien zu Pannenberg und Hegel füllen fast 600 Seiten. Hilfreich wären noch jeweils kurze Fazitabschnitte am Ende der jeweiligen Kapitel, um dem gedanklichen Fortschritt des Gesamtwerkes besser folgen zu können. Sehr hilfreich für die Lektüre sowie den Einsatz in der universitären Lehre ist allerdings, dass die Kapitel jeweils auch für sich lesbar gestaltet sind (vgl. 18).