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Ausgabe:

Januar/2023

Spalte:

72-73

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Kodalle, Klaus-Michael

Titel/Untertitel:

1933 – Die Versuchung der Theologie.

Verlag:

Berlin: Duncker & Humblot 2022. 150 S. = Zeitgeschichtliche Forschungen, 62. Kart. EUR 69,90. ISBN 9783428183708.

Rezensent:

Karl-Ludwig Tetzlaff

»Ich kann nicht sicher über mich selbst sein«, bemerkt J. Taubes zur Frage, ob er ebenfalls »vom Infekt der nationalen Erhebung« des Jahres 1933 hätte »angesteckt« werden können. Klaus-Michael Kodalle zitiert das eindrucksvolle Bekenntnis des jüdischen Philosophen im Einleitungsteil seines Buchs, um die »richtende Überheblichkeit der Nachgeborenen« (9) zu irritieren. Ein moralistischer Blick zurück auf die Anfänge jenes dunkelsten Kapitels deutscher Geschichte entzieht sich K. zufolge nämlich der Aufgabe wirklichen Verstehens. Anstelle allzu simpler Gut/Böse-Einteilungen geht es ihm darum herauszuarbeiten, wie damals ein geistig höchst anspruchsvolles Denken in »Barbarei« (12) umschlagen konnte.

Der langjährige Jenaer Ordinarius für Praktische Philosophie rekonstruiert dafür die Positionen sechs zeitgenössischer Theologen: P. Tillich, E. Hirsch, K. Heim, H. M. Müller, G. Kuhlmann und E. Peterson. All diesen Denkern ist der Bezug auf das Werk S. Kierkegaards gemeinsam. K. geht bei der Auseinandersetzung mit ihren Positionen von der »Basisthese« aus, »dass keine Theologie so sehr gegen jede Form des Kollektivwahns immunisiert wie diejenige Kierkegaards« (47). In strengen Detailanalysen arbeitet er jeweils die Punkte heraus, an denen die meisten der behandelten Autoren vom dänischen Existenzdenker abweichen. Anstatt Kierkegaards »Betonung der Nonkonformität […] des Einzelnen« gegenüber dessen »Vereinnahmung […] in ein ›höheres Ganzes‹ der Gemeinschaft« (13) durchzuhalten, lieferten sie den Einzelnen schließlich allesamt mehr oder weniger direkt der nationalsozialistischen Massenbewegung aus.

Es mag zunächst eigentümlich wirken, dass mit Tillich und Peterson auch »Theologen, die der Parteinahme für den Nationalsozialismus gar nicht zuzurechnen sind« (146), der Versuchung des Jahres 1933 erlegen sein sollen. Im Falle Tillichs aber kann K. nicht nur auf dessen widersprüchliche Mühen hinweisen, sich den längst NS-dominierten Bildungsinstitutionen zu empfehlen, um dem Exil doch noch zu entgehen. Darüber hinaus weist er an vielen Beispielen aus Tillichs Gesamtwerk überzeugend nach, dass bei diesem »die qualitative Differenz Individuum-Gemeinwesen« (28) durchgehend nivelliert wird. Es sei die »rauschhafte Unmittelbarkeit des Massenerlebnisses« (28), über deren religiöse Beschwörung Tillich sich vom kierkegaardschen Existentialismus entferne. Darin aber offenbare seine Theologie zugleich eine offene Flanke für kollektive Verführungen jedweder Art. Auch E. Peterson mangelt es aus K.s Sicht wenigstens an Bewusstsein für »die politische Verwertbarkeit« seiner »Rhetorik« (140), wenn er 1933 über die Verworfenheit der Juden sinniert. Anstatt mit dem von ihm verehrten Kierkegaard das »individuelle Recht« eines »jeden einzelnen Menschen (egal, welcher Religion er zugehört)« hochzuhalten, habe sich Peterson in den Abgründen einer vermeintlich zeitenthobenen theologischen Gnadenlehre verloren und damit »indirekt Menschen der Mordmaschinerie« (144) ausgeliefert.

Deutlich direkter, aber mit einer ähnlich entindividualisierenden Stoßrichtung geht es bei den meisten anderen von K. traktierten Autoren zu. E. Hirsch raube dem kierkegaard’schen Zentralgedanken »vom Einzelnen-in-Gott« jedwedes »Potential der Uneinnehmbarkeit und Nonkonformität« zugunsten einer göttlich sanktionierten »Selbstpreisgabe im Opfer für das Volksganze« (58). Bei K. Heim werde ein »paramilitärische[r] Ton« laut, der Gott mit einer allgewaltigen Autorität ausstatte und Jesus in betonter Analogie zu den zeitgenössischen Führergestalten als »Führer« (vgl. die Zitatensammlung auf S. 80 f.) tituliere. Dies bewirke »aufseiten des Subjekts die Absenz jeder Freiheitsregung« (79) und dessen Verdammung zu bloßer Gefolgschaft. H. M. Müllers fatale »Verfremdung der Existenztheologie« (88) liegt K. zufolge darin, dass er die Dimension einer letzten »Zweckfreiheit des Daseins« (108) ganz in einer verborgenen göttlichen Transzendenz verortet. Dadurch aber werde der Mensch den »autoritär vermittelten endlichen Zielsetzungen des sozialen Lebens« (108) vorbehaltlos untergeordnet, weil jede kritische Distanznahme den innerweltlichen Verpflichtungen gegenüber so zum ichsüchtigen Wie-Gott-sein-Wollen gerate.

Von den dargestellten Denkern habe es – so K.s Urteil – allein G. Kuhlmann »vermocht, den Impuls einer radikal-kritischen Selbstinfragestellung der Theologie aufrechtzuerhalten« (121). Bei ihm intendiere die »Hoffnung« einen »Raum der Kommunikation«, in dem das Sich-Einlassen auf andere »nicht der Selbstauslieferung an die Macht eines irrational agierenden Kollektivs gleichkäme« (136).

Kuhlmanns Hoffnung lässt nach sozialen Formationen fragen, die nicht im Modus des nationalsozialistischen Massenwahns funktionieren. K. aber hält, wie er im Schlusskapitel seines Buchs erläutert, die »Gefahr« einer »Auflösung des nonkonformen Selbst in Prozessen einer nicht selten mit Begeisterung einhergehenden Formierung von Gemeinschaft bzw. Gemeinschaften« auch aktuell für relevanter, als das Problem, dass dem Subjekt »jeder affirmative Schritt in Vergemeinschaftungsformen« (147) verstellt sein könnte. Das ist vor dem Hintergrund der von ihm rekonstruierten Positionen verständlich, deren meisterhafte Darstellung auch deshalb lesenswert ist, weil Autoren wie Müller und Kuhlmann den Wenigsten bekannt sein dürften. 1933 wurde demnach insofern zur Versuchung der Theologie, als diese dem autoritären Zeitgeist der Machtergreifung mit nicht minder autoritären Gottes- und Gemeinschaftsbegriffen nachzueifern versucht war.

Gleichwohl scheint mir eine »freiheitliche[] Selbstbestimmung in der Gegenwart des Absoluten« (148) unterbestimmt zu sein, die sich in der Antihaltung einer gegenüber dem gesellschaftlichen Mainstream »nonkonforme[n] Existenz« (147) erschöpfte. Denn ›in der Gegenwart des Absoluten‹ bin ich nie nur für mich allein, sondern wenigstens potenziell mit anderen verbunden, will ich meine solitäre Position nicht selbst absolut setzen. Letzteres aber geschieht, wenn das Dagegensein zum zentralen Prinzip wird, wie auch an aktuellen, dem autoritären Denken ebenfalls verhafteten Protestbewegungen zu beobachten ist. Die bei G. Kuhlmann anklingende Hoffnung auf einen »Raum der Kommunikation«, in dem das Mich-Einlassen auf andere nicht zum Verlust, sondern zur Bereicherung meines freien Selbstseins führte, zeichnet ein Gegenbild zur gängigen Polarisierung zwischen verschiedenen sozialen Gruppen vor Augen. Diese ideale Sozialität, die ich als die uneingestandene Sehnsucht des nonkonformistischen Selbst bezeichnen würde, mag eine Sache der Hoffnung bleiben. Dennoch kann sie real verändernde Kraft entfalten, wenn es denn die Einzelnen in freier und füreinander offener Selbstbestimmung wollen.