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Ausgabe:

Januar/2023

Spalte:

66-69

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Salatowsky, Sascha, u. Joar Haga [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Frühneuzeitliches Luthertum. Interdisziplinäre Studien. Hgg. unter Mitarbeit v. J.-L. Albrecht.

Verlag:

Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2022. 338 S. m. 15 Abb. = Gothaer Forschungen zur Frühen Neuzeit, 20. Geb. EUR 64,00. ISBN 9783515132220.

Rezensent:

Wolfgang Sommer

Das von der DFG geförderte Projekt »Ausbau der Forschungsbibliothek Gotha zu einer Forschungs- und Studienstätte für die Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit« (2011–2021) bildete den Rahmen für das wissenschaftliche Netzwerk »Lutherische Orthodoxie revisited. Konfessionelle Muster zwischen Identitätsverpflichtung und ›Weltoffenheit‹«, das von 2016 bis 2019 die Frage nach der begrifflichen Fassung und dem historischen Verständnis einer bestimmten Ausprägung des Luthertums zwischen ca. 1580 und 1750 diskutierte. Der vorzustellende Sammelband dokumentiert einige Ergebnisse dieses Netzwerkes in Form von zehn Beiträgen, die durch den Titel »Frühneuzeitliches Luthertum« als interdisziplinäre Studien nach Auskunft des Vorwortes exemplarischen Charakter tragen.

Um es gleich am Anfang zu verdeutlichen: Der Sammelband plädiert unter weitgehender Vermeidung des Begriffes »lutherische Orthodoxie« zugunsten der Pluriformität und Offenheit des frühneuzeitlichen Luthertums für einen Neustart in der Forschung.

Als Einführung in eine vorgeschlagene begriffliche Neufassung des Luthertums im besagten Zeitraum stellt Sascha Salatowsky zunächst den »Wandel einer Konfessionsbeschreibung« in Form eines Forschungsüberblickes über die letzten Jahrzehnte dar (9–30). Er hält fest: Trotz aller kritischen Debatten hat der Begriff »lutherische Orthodoxie« »bis in die Gegenwart hinein Konjunktur« (10). Einmal wird er als Bezeichnung einer bestimmten Gestalt des Luthertums, seiner Theologie und ihrer Vertreter, verwendet, und zum anderen historiographisch als Teil der Epochenbezeichnung »Zeitalter der Orthodoxie«. Dass sich daran in der Forschung vielfältige kritische Rückfragen stellten und bis heute stellen, ist bekannt: Kann das orthodoxe Luthertum als eine sinnvolle Einheit gegenüber anderen Konfessionen und Bewegungen gelten? Welche genauen Inhalte bezeichnet der Begriff »orthodox«? Und vor allem: Wann beginnt und wann endet das Zeitalter der lutherischen Orthodoxie? Mit diesen Fragen ist die viel diskutierte Debatte um den Begriff des Pietismus und dessen Anfang berührt.

Nicht nur von dem Begriff »Lutherische Orthodoxie«, sondern auch von den die letzten Jahrzehnte bestimmenden und befruchtenden Konzeptionen von Konfessionalisierung, Konfessionskultur und Konfessionalität haben sich die Forscher des Netzwerkes gelöst. Sie sprechen dagegen von einem frühneuzeitlichen Luthertum, dessen »integrativer Charakter […] auf Basis der ›Identitätsmarke‹ Confessio Augustana verschiedene Positionen inkorporieren und gewisse Varianzen in der sozialen, kulturellen, politischen und sogar religiösen Praxis zulassen konnte« (30). – Auf die Konzeption dieses frühneuzeitlichen Luthertums wird am Schluss dieser Rezension kritisch eingegangen. Zuvor seien die zehnBeiträge kurz vorgestellt.

Der norwegische Kirchenhistoriker Sivert Angel stellt die Kontroverse um den dänischen Theologen Niels Hemmingsen (1513–1600) dar, der am Ende der 1570er Jahre in den politisch-theologischen Streit zwischen Kurfürst August von Sachsen und König Friedrich II. von Dänemark-Norwegen geriet. Das spannungsreiche Verhältnis von Politik und Religion versuchte der König dadurch auszutarieren, dass er nicht auf die dogmatischen Prämissen von Hemmingsen, sondern auf dessen lebendige theologisch-pädagogische »Wissenskultur« verwies.

Ebenfalls im Spannngsbereich zwischen Politik und Religion bewegt sich der zweite Aufsatz von Hendrikje Carius, einer Mitarbeiterin an der Forschungsbibliothek Gotha. Aufgrund handschriftlicher Quellen im Nachlass von Johann Gerhard zeigt sie den interkonfessionellen und offenen Austausch zwischen der reformierten Herzogin Christine von Sachsen-Eisenach und dem lutherischen Theologen Gerhard. Über die konfessionellen Differenzen hinaus wird an diesem Dialog auch eine gewisse Weite in praktisch-seelsorgerlicher Hinsicht auf beiden Seiten deutlich.

Die große Bedeutung des privaten Lernens und des Selbststudiums für die lutherische Theologie in den Wittenberger Bildungsreformen seit 1520 stellt Daniel Gehrt dar. Die gründliche Quellenanalyse der Anleitungsschriften des Mitarbeiters an der Forschungsbibliothek Gotha reicht bis in die Mitte des 17. Jh.s und erschließt ein bisher wenig erkundetes Gebiet.

Der Mitherausgeber des Bandes Joar Haga, Kirchenhistoriker in Stavanger, widmet sich der Reformationsfeier 1717 in Kopenhagen. Der absolut regierende Herrscher des Königreichs Dänemark-Norwegen inszenierte sich bei dieser Feier als der wahre Bewahrer des lutherischen Glaubens im »nordischen Zion« gegenüber den Gefahren im Alten Reich, u. a. des an Einfluss gewinnenden Pietismus. Der hohe Anspruch in der perfekten Gestaltung der Feierlichkeiten sollte nicht zuletzt auch nach innen wirken – geradezu als »Widerspiegelung« der göttlichen Ordnung.

Der Kirchenhistoriker Jan van de Kamp aus Amsterdam untersucht anhand der bekannten Reformschrift »Wächterstimme aus dem verwüsteten Zion« (1661) von Theophil Großgebauer die Übernahme reformierter Quellen in diese lutherische Schrift, womit eine gewisse Durchlässigkeit des Luthertums für andere Konfessionen deutlich wird, allerdings nur hinsichtlich allgemeiner Reformen und der Intensivierung der Frömmigkeit. Die Offenheit für nichtlutherische Passagen hatte ihre Grenze in der Abendmahlslehre und in der Prädestination, wie in einem Vergleich zwischen Großgebauer und dem reformierten Prediger Willem Teellinck deutlich wird.

Stefan Michel, Kirchenhistoriker an der TU Dresden, untersucht drei gedruckte Predigtjahrgänge von Samuel Benedikt Carpzov, Paul Christian Hilscher und Valentin Ernst Löscher in Dresden aus dem Ende des 17. und frühen 18. Jh., die sich der emblematischen Methode bedienen. Die Embleme (einige sind abgedruckt) dienen den Gläubigen als Strukturierung des Vortrages und als Vorbilder in pädagogisch-moralischer Hinsicht und als anschauliche Vermittlung des Predigtinhalts. Zur Zeit des Pietismus und der Aufklärung setze man sich bewusst von dieser Predigtmethode ab.

Der längste Beitrag stammt von dem Herausgeber Sascha Salatowsky. Er ist auch der wichtigste und bedeutendste. Er handelt von Johann Gerhards Bildungsweg, angefangen von seiner Schulbildung 1595, über seine Studiengänge in Philosophie, Medizin und Theologie von 1601 bis 1605 bis zur Übernahme der Superintendentur in Heldburg 1606. Diese gut zehn Jahre sind die prägendsten im Leben Gerhards, und sie werden auf Grund des sich in Gotha befindenden handschriftlichen Nachlasses Gerhards detailliert erschlossen. Dieser umfangreiche Nachlass ist der einzige, der von einem namhaften lutherischen Theologen überliefert ist. Nachdem schon Daniel Gehrt 2016 den Katalog der Handschriften aus Gerhards Nachlass veröffentlichte, geht nun Sascha Salatowsky den Bildungsgängen des jungen Gerhard intensiv nach und eröffnet damit nicht nur für die Gerhard-Forschung, sondern z. B. auch für die Arndt-Forschung neue Perspektiven. Die Briefe, die Johann Arndt und Andreas Leopold an den jungen Gerhard in den Jahren 1601 und 1603 schickten, geben uns auch einen Einblick in die Situation der zeitgenössischen Medizin.

Die Musikwissenschaftlerin Beate Agnes Schmidt stellt eindrucksvoll Musik und Endzeiterwartung bei Michael Prätorius mit Abbildungen und Notenbeispielen dar, und der Privatdozent Christopher Voigt-Goy aus Mainz untersucht die consilia, die von lutherischen Fakultäten zu Fragen der Bestattung von Menschen fremder Konfessionen abgefasst wurden. Sie zeugen von einer vielstimmigen und insgesamt elastischen Traditionsbildung im Luthertum, indem die konfessionellen Grenzen zu den »Calvinisten« oft der Pastoraltheologie untergeordnet werden.

Der letzte Beitrag von Christian Volkmar Witt aus Mainz un- tersucht den Orthodoxiebegriff in Gottfried Arnolds berühmter »Unpartheyischen Kirchen- und Ketzer-Historie«. Es kommt zu einer Verdrehung des Begriffs in sein Gegenteil: Die Heterodoxen sind die eigentlich Orthodoxen und umgekehrt. Arnold ist es auf diese Weise gelungen, die »Orthodoxie« als ein historisches Verfallsphänomen zu charakterisieren, was nachhaltige Wirkungen hatte, offenbar bis heute!

Die vielschichtige Problematik eines frühneuzeitlichen Luthertums kann in dieser Rezension nicht erörtert werden. Einige Kritikpunkte scheinen mir aber – in aller Vorläufigkeit – unabdingbar zu sein.

Die detailreichen und interessanten Beiträge dieses Sammelbandes können m. E. nicht die Aufgabe des Begriffs »lutherische Orthodoxie« zugunsten eines frühneuzeitlichen Luthertums rechtfertigen. Die »Pluriformität und Offenheit des frühneuzeitlichen Luthertums« (30) ist vollauf für die lutherische Orthodoxie des späten 16. und des 17. Jh.s charakteristisch, wenn man sie recht zu verstehen vermag. Offenbar haftet noch immer der pejorative Klang an ihr, obwohl doch die Forschung ihn längst überwunden hat. Der als Nestor der Orthodoxieforschung bezeichnete Johannes Wallmann sagt mit Recht, dass »in allen bedeutenden Theologen der Orthodoxie die Spannung zwischen dem Kampf um die reine Lehre und dem Streben nach einer Besserung des Lebens ausgehalten und durchgehalten wird, auch wenn man – mit Luther – die puritas doctrinae für wichtiger hielt als die puritas vitae.« (Pietismus-Studien, Tübingen 2008, 11) Nichts gegen die Bezeichnung frühneuzeitliches Luthertum, aber dann müssen Schwerpunktsetzungen und vor allem historische Wendeprozesse wahrgenommen werden, die zwischen einem lutherischen und einem pietistischen und frühaufklärerischen Luthertum bestehen. Der Begriff hat Anteil an dem nach wie vor unscharfen Neuzeitbegriff und ebnet die entscheidende Wende am Ende des 17. Jh.s ein, die ein gutes Jahrhundert zuvor von ca. 1580 bis ca. 1700 in seinen Grundstrukturen verändert und im sich immer mehr durchsetzenden Pietismus und der Aufklärung ein anderes Profil erhält. Diese vorangehende Zeit hat ein selbständiges Gewicht, was mit der Zeit der lutherischen Orthodoxie umschrieben ist. Nur drei Aspekte seien genannt: die Unterscheidung in der Eschatologie gegenüber der Zeit nach 1700, erhebliche Obrigkeitskritik und die Fortdauer von Luthers Zwei Reiche- bzw. Regimente-Unterscheidung.

Das z. B. von Johann Benedikt Carpzov (1639–1699) geübte obrigkeits- und sozialkritische Wächteramt prägte wesentlich sein Selbstverständnis als lutherisch-orthodoxer Prediger und das vieler anderer. »In der Folge bewegten sich dann sowohl der deutsche lutherische Pietismus als auch die deutsche protestantische Aufklärung ganz überwiegend in staatsfrommen Bahnen.« (Andres Straßberger, in: Eruditio – Confessio – Pietas, Leipzig 2009, 44 f.) In meiner Geschichte der Dresdner Hofprediger kam ich zu einem sehr ähnlichen Ergebnis (Stuttgart 2006). Die Debatte muss weitergehen.