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Ausgabe:

Januar/2023

Spalte:

64-66

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Markschies, Christoph

Titel/Untertitel:

Berolinensia. Beiträge zur Geschichte der Berliner Universität und ihrer Theologischen Fakultät.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2021. XVI, 586 S. m. Abb. = Arbeiten zur Kirchengeschichte, 145. Geb. EUR 109,00. ISBN 9783110714593.

Rezensent:

Friedrich Wilhelm Graf

Neben einem achtseitigen Vorwort bietet der gewichtige Band 27 Beiträge zur Geschichte der Berliner Universitätstheologie seit der Gründung der Friedrich-Wilhelms-Universität 1810. Drei Beiträge über »Schleiermacher und die (altkirchliche) Trinitätstheologie« (59–73), Adolf von Harnacks »Wie soll man Geschichte studieren? Ein Programm, seine Durchführung und seine Bedeutung für heute« (231–267) und »›Dann kam eine Dame nach der anderen‹. Beobachtungen zu den ersten Studentinnen und Pfarrerinnen in Berlin-Brandenburg« (541–553) waren bisher unveröffentlicht. Die übrigen Aufsätze sind zwischen 1995 und 2021 publiziert worden. Christoph Markschies hat sie »nur gründlich durchgesehen und gelegentlich behutsam sprachlich korrigiert« (XIV). Neue ergänzende Literaturhinweise werden in eckigen Klammern geboten. Ausdrücklich betont M. die Grenzen seines Unternehmens. Statt »einer strengen wissens- und wissenschaftsgeschichtlichen Untersuchung der Berliner Wissenschafts- und Theologiegeschichte« lege er bloß »eine Sammlung von Studien eines Wissenschaftlers« vor, »der sich mit dem antiken Christentum beschäftigt und immer wieder einmal im Wissenschaftsmanagement engagiert« (XV). Zu dieser Demutsgeste bildet es einen bisweilen irritierenden Kontrast, dass M. mehrfach auf sich selbst zu sprechen kommt und gern den pluralis majestatis benutzt.

Wer weit über Berlin hinaus ein prominenter Wissenschaftsorganisator ist, wird unausweichlich als Festredner in Anspruch genommen. Bei der Inauguration als Präsident der Humboldt-Universität redet M. am 6. Februar 2006 über »Berliner Universitätsreformer aus zweihundert Jahren« (1–15) und drei Jahre später bei einem »Festsymposium« (16 Anm. 1) des Ordens pour le merite über das »Verhältnis« des ersten Ordenskanzlers Alexander von Humboldt »zu seinem älteren Bruder Wilhelm« (16–26). »Humboldts pagane Antike« macht er 2017 bei einem Symposium der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Accademia Nazionale dei Lincei zum Thema (27–39). Im Apollo-Saal der Staatsoper Unter den Linden spricht M. vor dem Abgeordnetenhaus 2009 zum 200. Geburtstag Felix Mendelssohn Bartholdys über dessen »Leben zwischen Universität, Salon und Dom«. In festlichen Reden dieser Art stützt er sich intensiv auf die jeweils kundig wahrgenommene Sekundärliteratur. Hier hat er keine eigene Forschung betrieben, sondern sich die Einsichten anderer nicht ohne rhetorisches Geschick zu eigen gemacht. Mit Blick auf die Humboldt-Brüder spricht er gar von »meinen eher laienhaften Kenntnissen« (16 Anm. 1).

Ganz anders ist es mit Blick auf jenen berühmten Vorgänger im Amte, dem gleich elf Beiträge gewidmet sind: Adolf (von) Harnack. Hier kann M. souverän seine Kenntnis des großen Nachlasses nutzen und überzeugend deutlich machen, dass er ebenso quellennah wie problembewusst die spezifische Signatur von Harnacks His-torismus ernst zu nehmen versucht. Neben einem gelungenen, einfühlsamen Portrait des großen Patristikers (84–96), einem »Geleitwort« zum Nachdruck des »Lehrbuchs der Dogmengeschichte« (155–167), einem Vortrag über Harnack und den »Großbetrieb der Wissenschaft« (168–192), »Worten zur Enthüllung einer Gedenktafel an der Stelle von Adolf von Harnacks ehemaligem Wohnhaus in der Fasanenstraße« (211–216) und zwei Vorträgen über den »Gießener Theologen als deutschen Wissenschaftsorganisator« (193–210) sowie die Wesensschrift (145–154) stehen die beiden gewichtigen Abhandlungen zu »Harnack als Neutestamentler« (97–128) und »Harnacks Bild des Ersten Clemensbriefs und die zeitgenössische Forschung« (129–144). Auch bringt M. noch einmal seine 1995 in der »Zeitschrift für neuere Theologiegeschichte« erschienene Edition eines 1910 in Christiania (Oslo) gehaltenen Vortrags »Wie soll man Geschichte studieren, insbesondere Religionsgeschichte?« (217–230), nun aber ausführlich gedeutet. In Sachen Harnack kann M. obendrein Sensationelles bieten: Aus einem in Familienbesitz erhaltenen Fotoalbum stammen »Abbildungen« aus dem Wohnhaus im Grunewald, Kunz-Buntschuh-Straße 2, in das die Harnacks 1910 gezogen waren; es war das Nachbarhaus des Schwagers Hans Delbrück. Auch reproduziert M., unterstützt von einer Mitarbeiterin, den Grundriss des Hauses und Bauzeichnungen zum Ausbau des Dachgeschosses (280–281). Zudem kündigt er an, ein »wesentlich umfangreicheres, unveröffentlichtes Manuskript« zu »alle[n] neutestamentlichen Arbeiten Harnacks« »später einmal in einer längeren Arbeit über Harnack« »vielleicht« publizieren zu wollen (X).

Weitere Aufsätze gelten dem »zu Unrecht« vergessenen Harnack-Freund Hermann von Soden (283–304), »Karl Holls Arbeiten zur griechischen Patristik« (454–484), dem bedeutenden Koptologen Carl Schmidt (485–510), Hans Lietzmann als einem Historiker der »römischen Kirchengeschichte« (511–525) und »Werner Jaegers Blicke[n] auf das antike Christentum« (554–567). In gleich drei (zum Teil einander widersprechenden) Beiträgen geht es um den zunächst in Heidelberg, dann in Berlin lehrenden Neutestamentler Adolf Deissmann. In einer zweiten Edition macht M. eine »autobiographische Skizze« Carl Andresens über seine Berliner Jahre 1929–1932 zugänglich (526–540).

Mit Blick auf Harnack ist einzelnen Behauptungen zu widersprechen. Gleich dreimal (104.251.477) verweist M. auf einen kleinen, aber gewichtigen Fund Walter Elligers. Der zuletzt in Bochum lehrende Patristiker hatte entdeckt, dass Harnack in dem Exemplar der ihm 1921 gewidme-ten »Festgabe von Fachgenossen und Freunden«, das er dem Berliner Kir-chengeschichtlichen Seminar schenkte, Troeltschs Beitrag über Ferdinand Christian Baur und ihn selbst »energisch zugestimmt« (477) hatte – mit dem, so Harnack, »ausdrücklichen Bekenntniß, daß die von Troeltsch S. 282 ff. gegebene Darstellung meines theologischen Standpunktes und seiner Voraussetzungen zutreffend ist« (zit. 251 Anm. 92). Dennoch macht M. gegen Harnacks jüngeren Freund den Einwand geltend, Harnacks Konzept »einer dezidiert christlichen offenen Universalhistorie [...] einlinig von Herders und Goethes historischem Universalismus ableiten« zu wollen (250). Das ist aber nicht der Fall, erkennt Troeltsch doch Reinhold Seebergs polemischer Formel vom »Goethe-Christentum« Harnacks nur ein relatives Recht zu. Denn Harnack habe den »christlichen Humanitätsgedanken« der Weimarer Klassik »stets aus dem volleren reformatorischen Evangelium erweitert« (Festgabe, 290). Obendrein: M. mag ja Harnack besser verstehen, als dies einst dem »nach Hegel ersten großen Geschichtsphilosophen, den Deutschland erlebt hat« – so der Kirchenhistoriker in seiner Rede am Sarg – gelungen war. Der große Kirchenhistoriker sah sich durch den Freund, dem er trotz elementarer Differenzen Genialität attestierte, allerdings angemessen gedeutet. Wie passt dies zu M.’ Kritik? – Sodann: M. kritisiert die auf Troeltsch zurückgehende Deutung Harnacks als des »Theologen des Historismus«. Sie verkenne dessen »dezidiertes Interesse an Sozialgeschichte und Religionsgeographie« (251). Entschiedenes Interesse? Etwa Lektüre marxistisch inspirierter Autoren? Schon Rudolf Bultmann hat kritisiert, dass sich der Berliner Großordinarius einer ernsthaften Auseinandersetzung mit der von Troeltsch in den »Soziallehren« betriebenen Öffnung der Christentumsgeschichtsschreibung für sozialhistorische Fragestellungen und Sichtweisen verweigert habe. – Einige störende Druckfehler (etwa 502: 1998 statt richtig 1898) wären bei einer Zweitauflage zu korrigieren.