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Ausgabe:

Januar/2023

Spalte:

58-60

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

White, B. G.

Titel/Untertitel:

Pain and Paradox in 2 Corinthians. The Transformative Function of Strength in Weakness.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2021. XV, 266 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 555. Kart. EUR 79,00. ISBN 9783161599118.

Rezensent:

Ulrich Heckel

Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um eine PhD Thesis von B. G. White, die von John Barclay in Durham betreut wurde. Im Zentrum steht die Frage nach dem Verständnis der paradoxen Aussagen über Kraft in Schwachheit im 2. Korintherbrief. Zum Problemfeld sind in den vergangenen Jahrzehnten etliche Arbeiten erschienen, deren Forschungsgeschichte knapp dargestellt wird, zunächst die englischsprachige Literatur, dann die deutschen Studien mit ihrem stärker theologischen Interesse (7–21; vor allem E. Güttgemanns, U. Heckel, G. Hotze, J. Lambrecht). Hauptkritikpunkt ist, dass die bisherige Forschung allzu sehr auf die Frage nach den Gegnern, dem Verständnis des Apostolats, dem apologetischen Charakter und der literarischen Einheitlichkeit des 2. Korintherbriefs fixiert war (3–7). Die Berechtigung dieser Fragen bleibt unbestritten (3.7.21 f.), doch ist darüber der eigentliche Abfassungszweck des 2. Korintherbriefs, das pastorale Anliegen, aus dem Blick geraten (1–3.21–24), das W. zur Leitfrage seiner Untersuchung macht: »how might the Corinthians benefit from hearing about Paul’s strength in weakness« (2). Denn nach 2Kor 12,19 wollte der Apostel sich nicht selbst verteidigen, sondern alles tun »zu eurer Erbauung« (9 f.218–221.235). Dass W. den 2. Korintherbrief mit dieser Fragestellung »in a new direction« (10) und »fresh perspective« (24) noch einmal einer neuerlichen Untersuchung unterzieht (21: »fresh reading«), ist ein echter Gewinn. Höhepunkt ist das Paradoxon in 12,9, dass die Kraft in Schwachheit zur Vollendung kommt, dessen Interpretation durch eine Wortfeldanalyse der Ausdrücke des Leids (26–67) und die Untersuchung entsprechender Aussagen vorbereitet wird (vor allem 1,1–11; 4,7–15; 6,1–13).

Die logische und theologische Bedeutung dieses Paradoxons zu klären, hält W. für das drängendste Problem (20 f.). Als paradox gelten meist zwei gegensätzliche Wirklichkeiten, die gleichzeitig wahr sind (2.80 f.85 f.; vgl. Hotze). Am Schatz in irdenen Gefäßen (4,7) präzisiert W. die Paradoxie, dass Kraft und Schwachheit nicht nur 1) gegensätzliche Erfahrungen sind, die 2) gleichzeitig begegnen, sondern 3) sich gegenseitig qualifizieren – ungetrennt und unvermischt, wie er in Anlehnung an die altkirchliche Christologie formuliert (98 f.103.106 f.124.201.212.236). Unbestritten ist die Polarität von Kraft und Schwachheit (56–59.75.78.103.196.201) sowie die göttliche Herkunft der Kraft (18.23.107 f.198 f.). Doch verwechselt W. das logische Problem mit der theologisch gemeinten Sache, wenn er das gedankliche Auflösen des Paradoxons (»dissolve«) durch die Differenzierung zwischen göttlicher oder menschlicher Perspektive bei Heckel als Trennen (»separate«) beider Sphären missdeutet (18; vgl. 119.161.233 f.), obwohl dessen Auslegung von 2Kor 12,9 als Wirksamwerden der göttlichen Kraft inmitten der menschlichen Schwachheit beschrieben wird (194–196.200 f.).

Methodisch unterscheidet W. im Anschluss an einen älteren Aufsatz von Gerald G. O’Collins (Power Made Perfect in Weakness, 2 Cor. 12,9–10, CBQ 33, 1971, 528–537) »the revelatory view« und »the ontological view« (16). Bei Ersterem besitzt die Schwachheit eine hermeneutische Funktion, indem die Offenbarung der göttlichen Kraft eine Veränderung in der Erkenntnis herbeiführt (»transmission of knowlegde«). Bei Letzterem geht es um die Realität (»order of reality«) angesichts der Schwachheit, doch ist die Kategorie des Ontologischen unzutreffend, da es in der weiteren Untersuchung nicht um Wesen und Sein geht, sondern um konkrete Erfahrungen von Schwachheit und Kraft. Dass sich beide Sichtweisen in den bisherigen Arbeiten nicht trennscharf aufteilen lassen, räumt W. immer wieder selbst ein, um schließlich eine Mittellösung zu bevorzugen: »a mixed presentation of the paradox – both ontological and revelatory […] Perhaps the best representative of this viewpoint is Heckel, who is unique in the detail and breadth of his study« (194). Beide Perspektiven hält W. für berechtigt, aber pastoral unzureichend angesichts des Abfassungszwecks, nämlich die Gemeinde durch Kraft in Schwachheit aufzubauen (12,9 f.19) und mit Paulus zu versöhnen (5,18–20; 119–125.218–221.228.233–235; vgl. 132–134.145–160). Deshalb will er beide Aspekte drittens verbinden in der transformativen Funktion der Kraft in Schwachheit (24.86–88.196–202), wie bereits der Untertitel ankündigt. Diesen Begriff prägt er in Anlehnung an die Verwandlung von Herrlichkeit zu Herrlichkeit in 3,18 (μεταμορφόω; 9.93–95). Doch bleibt in der Sache unklar, worin sich diese transformative Funktion von der Erfahrung der Kraft bei der sog. ontologischen Perspektive unterscheidet. Sein Konzept sieht er bestätigt durch das Herrnwort in 12,9, dass die Kraft in Schwachheit ihre Wirksamkeit entfaltet (184–213, bes. 196–202), und die Folgerungen, die Paulus daraus zieht (V. 9b–10; 203–208, bes. 204.206.212 f.) im Blick auf die Erkenntnis, die Emotionen und das Verhalten seiner selbst und der Gemeinde (205 f.212.219.238; vgl. 88–95). Es ist gerade die anthropologische Bedeutung dieser Paradoxie für die eigene Existenz des Apostels und die Erbauung der Gemeinde, die W. in der Forschungsgeschichte bei Heckel wundern lässt (18), in der Auslegung von 4,10 f.; 12,9 f. aber selber referiert und im Blick auf den Dienst des Apostels, den Glauben der Gemeinde und ihre Versöhnung mit Paulus trefflich zusammenfasst (110 f. 194 f.197.200.203.218–221.233–238). Dass der ganze Brief in seiner kerygmatischen und pastoralen Absicht (21–25.236 f.237 f.) als eigentliches Ziel auf die Stärkung des Glaubens an Christus »in euch« abhebt (13,5), sei vielfach übersehen worden (9 f.222 f.), doch gehöre das Herrnwort in 12,9 nach G. Ebeling zu den meist zitierten Bibelworten in Luthers seelsorgerlichen Briefen (224 f.; vgl. dazu schon Heckel, Kraft in Schwachheit, WUNT II/56, Tübingen 1993, 2.288). Ebendiese Pointe war bereits ein wesentlicher Aspekt von Heckels Argumentationsanalyse zu 2Kor 10–13 (vgl. dort 41–47.137–142.300), so dass die von W. dargebotene »fresh perspektive on the theological function of the strength in weakness paradox« (24) doch nicht ganz so neu ist wie für das »fresh reading« (21) »in a new direction« (10) angekündigt (222 f., Anm. 311). Außerdem konzentriert sich die Untersuchung ganz auf den 2. Korintherbrief, so dass verwandte Aussagen aus anderen Paulusbriefen wie z. B. 1Kor 1,18–25; 2,1–5; Phil 4,11–13; Röm 5,2 ff. ausgeblendet werden (194.197). Gleichwohl bleibt es ein besonderes Verdienst dieser Arbeit, das pastorale Anliegen des 2. Korintherbriefs konsequent verfolgt zu haben, denn W. zeigt, welch transformative, verändernde, aufbauende, stabilisierende, glaubenstärkende, frohmachende, tröstliche und versöhnende Wirkung die göttliche Kraft inmitten unterschiedlichster Leid- und Konflikterfahrungen effektiv entfalten kann.